Wie die erste Dreierkoalition im Bund gelingen kann

Politik

Die Wochen seit der Bundestagswahl waren ein Novum für alle, die die bundesdeutsche Politik beobachten. Entgegen jahrzehntelang einstudierten Gepflogenheiten – mediale, konfrontative Profilierung, taktische Mätzchen, Durchstechereien über die Medien, Aktivierung der eigenen Netzwerke – verliefen diese Ampelkoalitionsverhandlungen davon ungestört. Nach außen hin war man nett zueinander. Vom eigentlichen Verhandlungsprozess bekam die interessierte Öffentlichkeit mehr oder weniger gar nichts mit.

Man wurde überfüttert mit Bekundungen der wechselseitigen Wertschätzung und von einer kirchentaghaften Bereitwilligkeit, die Position des Gegenübers einzunehmen. Die Begriffe Vertrauen und Augenhöhe wurden inflationär verwendet, um das liebevolle Miteinander von SPD, FDP und den Grünen zu beschreiben. Man rieb sich die Augen und fragte sich permanent: Ist das nur eine aalglatte Inszenierung oder wird dahinter etwas Neues aufgebaut? Die kommenden Monate werden das beantworten.

Natürlich starten jetzt erst mal viele Routinen, um die komplexe Maschinerie der Regierungsarbeit in Gang zu bekommen. Zunächst wird das Kabinett vereidigt und die Bundesregierung verabschiedet einen Organisationserlass, der die exakten Zuständigkeiten klärt. Es folgt eine Neustrukturierung – zumindest der Leitungsbereiche – vieler Ministerien und es dauert einige Zeit, bis alles wieder anläuft. Diese Routinen erfordern sehr viel Zeit, Aufmerksamkeit und gutes Handwerk. Letztlich geht es aber darum, sich als neue Koalition nicht darin zu verlieren. Vielmehr muss das Modernisierungsversprechen eingelöst werden.
Ob es etwas Neues ist, der Beginn einer produktiven offenen und konstruktiven Regierungspraxis und -kultur, das wird wesentlich davon abhängen, ob alle drei Partner gemeinsam auf ein paar Dinge achten.

Ein starkes Fernlicht

Schon die letzten Wochen haben klar gezeigt, wie schnell eine neue Kon​stellation durch aktuelle Krisen unter Druck geraten kann und dadurch Spannungslinien aktiviert werden, durch die Parteiegoismen wieder das Gemeinsame in den Hintergrund drängen. Darüber hinaus wird es wichtig sein, dass die Koalitionspartner gemeinsam auf die Legislatur blicken. Sie brauchen eine gemeinsame (!) Einschätzung, wann welche Konflikte und Entscheidungen auf sie zukommen. Je weniger man sich wechselseitig überrascht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, wirkliche Lösungen zu finden. Andernfalls drohen Formel-Kompromisse in endlosen Nachtsitzungen – das hatten wir 16 Jahre lang genug. Das muss im Wesentlichen das Kanzleramt regeln. Aber letztlich sollten alle Planungsstäbe der Bundesregierung dafür arbeiten. Die Frage wird sein, ob sie zu einer gemeinsamen kontinuierlichen strategischen Beratung in der Lage sind. Der Eindruck in Teilen der Öffentlichkeit, dass die Politik immer wieder überrascht wird und dann überfordert agiert, kann sich eine Demokratie auf Dauer nicht erlauben. Das gilt nicht nur für die Pandemie. Das gilt auch für außenpolitische Krisensituationen.

Empathie, auch wenn’s schwerfällt

Gut, man kann es mit der Empathie auch übertreiben. Aber in jeder Koalition ist es wichtig, die Welt simpler Gewinn- und Verlustrechnungen zu verlassen. Natürlich hat man immer im Blick, was die eigenen politischen Ziele und Interessen sind. Man muss aber auch verstehen, wo der harte Kern der Interessen der Partner liegt. Es wäre unrealistisch, davon auszugehen, dass über vier Jahre alle immer gleichermaßen Gewinner sind und nie jemand verliert. Aber sich Erfolge immer selbst anzuheben und für Probleme die anderen verantwortlich zu machen, führt eine Regierung bestenfalls in eine geschwätzige Handlungsunfähigkeit. Auch das konnten wir beobachten.

Sensorik für die eigene Fankurve

Wir haben in Deutschland nach wie vor eine starke Rolle der Mitgliederparteien. Hier engagieren sich jeden Tag Hunderttausende auf den verschiedenen Ebenen unserer Demokratie. Sie investieren viel Zeit, Energie und Leidenschaft dafür, dass unsere Gesellschaft sich in eine gute Richtung entwickelt. Natürlich haben die Parteien kein Monopol auf die politische Willensbildung. Sie sind ein Teil einer aktiven Zivilgesellschaft – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die neue Regierungskonstellation ist ungewöhnlich. Will sie Erfolg haben, dann muss sie auch von den Mitgliedern der drei Parteien getragen werden. Das bedeutet auch, dass alle drei Parteiführungen in den nächsten Jahren die wichtige Aufgabe haben, die Konflikte und Kompromisse so zu vermitteln, dass daraus auch eine produktive Rolle der Parteien im Verhältnis zur Regierung entsteht. Das wechselseitige Rollenverständnis zwischen denen, die in der Regierung arbeiten, und denen, die lange Linien der Partei Arbeit im Blick haben, muss von Anfang an geklärt sein.

Gemeinsame Gestaltungsidee entscheidend

Respekt, Klimaschutz und Modernisierung sind die drei großen Leitziele der Koalition. Im Koalitionsvertrag finden sich eine Vielzahl von Vorhaben, die ihnen jeweils zuzuordnen sind. Interessant wird in den nächsten Monaten sein, ob die Koalitionspartner nur auf ihre eigenen To-do-Listen schauen oder ob sie einander politische Gestaltungsräume öffnen. In einer Koalition kann jeder Partner durch Obstruktion alles sehr schnell zum Erliegen bringen. Dann geht irgendwann nichts mehr. In diesem Fall könnte die Parteiführung natürlich immer noch versuchen, den jeweils anderen die Schuld anzuhängen. Es spricht aber eine Menge dafür, dass die Wählerschaft dafür nicht besonders viel Verständnis aufbringen würde.

Gönnen können

Die SPD und die Grünen müssen ein Interesse daran haben, dass Christian Lindner ein erfolgreicher Finanzminister wird. Die FDP und die SPD müssen hoffen, dass Robert Habeck die Transformation der deutschen Wirtschaft erfolgreich vorantreibt. Die Grünen und die FDP müssen einen erfolgreichen Bundeskanzler Olaf Scholz wollen. Diese Formulierungen stoßen zunächst in den politischen Führungsgremien der jeweils anderen Parteien auf innere Reserven. Politik ist kompetitiv. Es ergibt keinen Sinn, das zu leugnen. Die Führungskunst besteht aber darin, den Wettbewerb auf die bessere Idee und die gute eigene Leistung zu verlegen und ansonsten ganz rheinisch “gönne zu könne”.

Klare Regeln für die Konfliktlösung

Regieren ist permanentes Konfliktmanagement. Es ist ein endloser Strom von Vorhaben, Initiativen, Krisen, kleinen und großen Konflikten. Sie finden auf unterschiedlichen Ebenen, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten, mit unterschiedlichen Akteuren statt. Der Erfolg der Koalition wird wesentlich davon abhängen, wie professionell das Konfliktmanagement in der Koalitionsspitze, im Kanzleramt, in den Koalitionsfraktionen und mit den Bundesländern ist. Es wird nicht ausreichen, wenn es nur an einer Stelle gut funktioniert.

Kraft in der Gesellschaft mobilisieren

Die Veränderungen, die in Deutschland organisiert werden müssen, sind gewaltig. Das gilt für den Klimaschutz, das gilt für die Digitalisierung und das gilt für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Das kann nur gelingen, wenn die neue Bundesregierung in einem viel größeren Umfang in der Lage ist, die Kraft der Gesellschaft zu mobilisieren. Eine Transformation der deutschen Industrie wird ohne die Partnerschaft mit den Gewerkschaften und der Wirtschaft nicht zu machen sein. Auch eine erfolgreiche Migrationspolitik braucht viele Partner. Unsere Demokratie stärker zu machen, sie resilient gegen die Feinde von innen und von außen aufzustellen – das braucht sehr viel Engagement. Es gibt große Kraftressourcen in unserem Land, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft, die darauf warten, ernsthaft angesprochen und mitgenommen zu werden.

Wir erleben zweifellos in diesem und in den kommenden Jahrzehnten umfassendere und radikalere Veränderungen der Welt, in der wir leben. Wir müssen diese Veränderungen als demokratische Gesellschaften gemeinsam bewältigen.

Das bedeutet auch, dass Regierungen ihre Fähigkeiten erhöhen müssen, zuzuhören, aufzunehmen, mitzunehmen und überzeugend umzusetzen. Auf keinen Fall darf das nur vordergründig inszeniert werden, sondern muss ehrlich gemeinsam erarbeitet werden. Auch das wird eine wesentliche Erfolgsbedingung für eine erfolgreiche Regierungsarbeit sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.