Die Situation im bayerischen Wahlkampf hat sich zugespitzt: Die CSU verliert in den Umfragen weiter an Zustimmung, die SPD kann davon überhaupt nicht profitieren, während die AfD immer stärker wird. Was nun, CSU? Karl-Rudolf Korte, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance, im Gespräch über den neuen Extremismus der Mitte.
Herr Professor Korte, der bayerische Landtagswahlkampf überschattete nach Auffassung vieler Beobachter zuletzt die Bundespolitik. Teilen Sie die Einschätzung, dass die CSU und ihr Vorsitzender mit ihrem permanenten Fokus auf Fragen der inneren Sicherheit und Asylpolitik vor allem bayerische Interessen bedienen?
Karl-Rudolf Korte: Horst Seehofer schiebt ein Thema nach vorne, das mit „Migration und Flüchtlinge“ überschrieben werden kann, und das nach bundesweiten seriösen Umfragen viele Menschen sehr beschäftigt. Insofern ist es kein exotisches Thema, das er da gewählt hat. Aber die Art und Weise, Stil und Tonfall, in dem er es vorträgt, hat natürlich etwas mit der Mobilisierungsidee des Wahlkampfs zu tun.
Vor allen Dingen versucht er damit die absolute Mehrheit zu verteidigen. Warum gelingt das so offensichtlich nicht? In den jüngsten Umfragen steht die CSU zum ersten Mal bei 38 beziehungsweise 39 Prozent.
Bis Oktober ist bei den Wählern noch viel an Veränderung denkbar, da sollte man sich jetzt nicht festlegen. Der Sofortismus des politischen Entscheidens und die Dynamik von Aufregungswellen verlangen nach prognostischer Demut. Wähler sind erst einmal auch kognitive Versager. Das heißt, sie entscheiden in der Regel ohne eine intensive wissensbasierte Prüfung der unterschiedlichen Wahlprogramme. Deshalb kann man die gegenwärtige Entwicklung nicht einfach zwei Monate weiterdenken. Im Moment gibt es zwei verschiedene Mobilisierungs-Modelle, Wiesbaden und München, die für unterschiedliche Zugängestehen. In Bayern wird das Migrationsthema intensiv aufgegriffen und damit ein Thema betont, das die AfD ins Zentrum gerückt hat. Im hessischen Landtagswahlkapf ist das weniger der Fall. Von europäischen Vergleichen wissen wir, dass es sich normalerweise nicht auszahlt, wenn man versucht, die Originale zu überholen. Die Kopie wird in der Regel weniger gewählt.
Treibt die CSU mit dieser Diskussion die Leute also zur AfD?
Ja. Sobald sich die Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen und der harte Kurs bei Migrationsthemen als Hauptthema nach vorne schiebt, ist doch klar, dass die Wähler sich bei denen orientieren, die dieses auch inner- und außerhalb des Bundestags laut und groß gemacht haben.
Seit der Vereidigung von Markus Söder kommen restriktive Themen auf die Agenda: erst ein Polizeiaufgabengesetz, ein Psychiatriegesetz, ein Kreuzerlass, dann die so genannte Asylwende. Gibt es dahinter eine Strategie?
Derzeit gibt es einen Streit zwischen Globalisten und Nationalisten, kosmopolitische Eliter und kommunitarischen Fans. In diesen Streit zwischen Schließung und Öffnung würde ich das einordnen. Es ist eine neue Konfliktlinie entstanden, auf der sich die Parteien nicht eindeutig einordnen lassen und auch nicht mehr sortieren lassen in „links“ oder „rechts“. Unter diesen Rahmenbedingungen strukturieren sich die Parteien neu. Deswegen wundert es mich nicht, dass unter den Bedingungen weltweiter gefühlter oder auch tatsächlicher Hyperglobalisierung der Rückgriff auf die Nation und auf eigene Grenzregime wieder aktueller denn je ist. Kein Trend ohne einen Gegentrend. Insofern passen diese restriktiven Themen der Schließung absolut in die Zeit, haben aber mit einer zuversichtlichen Strukturiertheit und einer Qualität von Demokratie, so wie wir sie schätzen – als offen und liberal – nur noch wenig zu tun.
Die CSU hat diese Handschrift der Schließung bereits in den vergangenen Jahren stark betrieben, was zu einem ohnehin verschärften Asylrecht geführt hat. Das Thema war damit 2017 eigentlich abgeschlossen. Warum hat die CSU keine Konsequenzen daraus gezogen und stattdessen das Thema Asyl weiter forciert?
Es gibt in der Gesellschaft eine rechtsgerichtete Konsensverschiebung, die eine Abschottung eher honoriert als das früher der Fall war – übrigens auch im bürgerlichen Lager. Das ist eine Entwicklung, die eben auch Ergebnis der Hyperglobalisierung ist und deren Anhänger mit der Denkfigur „Wir gegen die anderen“ durchaus sympathisieren. Jetzt ist die Frage, welche Rolle die Politik haben könnte oder sollte: ob sie das nachvollzieht, befeuert oder ob sie im Sinne kluger politischer Führung auch aktiv Auswege mit Gestaltungsideen daneben setzt. Wir haben europäische Auswege wie den von Emmanuel Macron vor Augen. Davon mag man ideologisch halten, was man will. Aber Macron repräsentiert strukturierte Veränderung, europäische Zuversicht, offene Gesellschaftsmodelle. So ein Gegenmodell wäre eine Voraussetzung für politische Führung, die sich nicht nur danach orientiert, wie sich gerade der Konsens abbildet.
Wenn man die Lage betrachtet, in der sich Parteien in Deutschland befinden: Gelingt ein Übertrag von Beispielen wie Macron? Und wie müsste ein solcher Strategiewechsel auf Deutschland gemünzt aussehen?
Eine zuversichtliche Perspektive beginnt mit Gestaltungszielen. Doch die Berliner Republik wirkt erschöpft. Nach wie vor hat die Kraft der Idee hohe Mobilisierungsdynamik. Wer bislang nur Wirklichkeiten beschreibt, nie Möglichkeiten, der gibt sich auch nicht solchen Gestaltungszielen hin. Und wer das nicht macht, wird auch nie den zivilisierten Streit über Ziele suchen. Voranzugehen mit der Idee einer liberalen, offenen Gesellschaft, die uns geradezu globalisierungsfit beziehungsweise -tauglich macht, lohnt sich. Wie werbe ich für Abweichungstoleranz und eine Kultur der Differenz, die lokale Identitäten wertschätzt und mit staatlicher Daseinsvorsorge prämiert? Wer hält sich an welche Regeln? Warum sind Rechtsstaat und Demokratie untrennbar? Wo endet das gemeinsame „Wir“? Das sind die zentralen Fragen, auf die jetzt Antworten von den Parteien kommen müssten. Über ein Einwanderungsgesetz sollte in allen Parlamenten, als Orte zivilisierter Empörung, gemeinsam gerungen werden.
Wir wehren uns seit 50 Jahren dagegen, ein Einwanderungsland zu sein. Wäre es ein konstruktiver Vorschlag, damit aufzuhören, um aus dieser Ermüdung herauszukommen?
Eine Einwanderungsgesellschaft braucht auch einen gesetzlichen Modus, um den Begriff mit Leben zu füllen. Man diskutiert nicht auf der Straße, sondern in den Parlamenten darüber, wo das gemeinsame „Wir“ endet. Wie viel Unterschiedlichkeit brauchen wir? Wie viel ist zwingend notwendig? Wie kann man Unterschiedlichkeit über Verhandlungen so weit führen, dass daraus eine kollektive Zugehörigkeit entsteht, die sogar belastbar ist als kollektive Identität? Das gelingt, wie wir sozialwissenschaftlich nachweisen können, nur über transparente Verhandlungen und gemeinsame Abstimmungen.
Der Wähler ist kognitiv unzuverlässig, er vergisst sehr viel. Ist es für die CSU noch problemlos möglich, das Ruder herumzureißen?
Nein. Der Schaden ist da in dem Sujet, wie wir bürgerliche Politik zukünftig interpretieren. Ich kann nicht erkennen, dass durch ein Schreddern von Formaten, dem Vorführen von rabiaten Stilen und dem Ausleben einer neuen brachialen Tonalität Vertrauen in bürgerliche Kräfte aufgebaut wird. Krisengewinner dieses gesamten Sommers sind die Politikverächter. Bürgerliche Parteien der Mitte sollten sich an zivilisierte Sprache halten, sollten vor allem auch bewährte Formate des institutionellen Settings akzeptieren.
Wenn man vom politischen Mittelfeld ausgeht, dann erschwert die aktuelle Politik auch die spätere Koalitionsbildung in Bayern, von deren Notwendigkeit man derzeit ausgehen kann. Welche Koalition halten Sie vor dem Hintergrund dieses Stilwechsels überhaupt noch für denkbar in Bayern? Die Grünen haben ja schon abgewunken.
Koalitionsbildungen werden schwieriger, wenn Koalitionsmarkt und Wählermarkt nicht mehr übereinstimmen. Der neue Extremismus der Mitte fördert keine Koalitionspartnerschaft. Wir brauchen allerdings auch das Bewusstsein, dass Wähler einen Auftrag an die Parteien übertragen, eine Regierung zu bilden – und dass man sich dem nicht entziehen kann. Aus der Pflicht würde ich erst einmal keinen entlassen, so schwierig das sein mag.
Teil 2: Interview mit Katharina Schulze, Spitzenkandidatin der Grünen
Teil 3: Interview mit Ilse Aigner über den Markenkern der CSU
Teil 4: Die große Markus-Söder-Show
Teil 5: Der liberale Spitzenkandidat Martin Hagen im Interview