Entblökt Euch!

Politik

Eigentlich sollte es in dieser Kolumne darum gehen, dass zu viele Politiker ihre Worte in Hülsen kleiden. Ohne Aussage. Ohne Emotion. Das war einmal. Zwischen dem ersten Brainstorming zu dieser Ausgabe und dem Redaktionsschluss ist etwas passiert. Politikersprech? Beinahe wünscht man ihn sich zurück! Denn der Trend, der sich seit Monaten schleichend, seit dem Jahreswechsel noch deutlicher abzeichnet, ist viel gravierender als ein paar Floskeln: Das Pöbeln ist salonfähig geworden. Ob in der digitalen oder analogen Welt: Es wird geschimpft, gekeift, geblökt. Die Sprache und mit ihr die politische (Debatten-)Kultur verroht. Und das Schlimmste: Selbst Politprofis lassen sich zu herabwürdigenden Äußerungen hinreißen. Das ist töricht und gefährlich.  

Wenn Vizekanzler Sigmar Gabriel Pegida-Demonstranten als “Pack” und CDU-Generalsekretär Peter Tauber Facebook-Hetzer als “Arschlöcher” oder “Drecksnazis” beschimpft, so begeben sich beide auf ein fragwürdiges ethisches und intellektuelles Niveau herab. Gewalt – ob verbal oder physisch – erzeugt Gegengewalt. Hass erzeugt Hass. Ein Überbietungswettkampf der Verbalentgleisungen aber kann weder Ziel noch Lösung sein. Und ein Repräsentant der freiheitlichen Demokratie sollte sich ohnehin nicht dazu hinreißen lassen, den politischen Gegner herabzuwürdigen. Es gibt legitime und zwingend gebotene Wege, auf Hetze zu reagieren: individuelle beziehungsweise zivilgesellschaftliche Gegenrede und strafrechtliche Verfolgung.

Gegenseitige Herabsetzung

Weder den Hasspredigern noch ihren Jüngern kommt man aber bei, indem man sie als Menschen herabsetzt. Denn genau das ist ihr wunder Punkt. Sie fühlen sich klein und verloren in dieser immer unübersichtlicheren, komplexeren Welt. Sie können nicht folgen, empfinden ein Gefühl der Ohnmacht – und bekommen Angst. Manchmal auch gemacht. Und dass Angstbürger dazu neigen, sich populistischen Verführern hinzugeben, sollte in Deutschland niemanden überraschen.

Der frühere Résistance-Kämpfer und UN-Diplomat Stéphane Hessel rief 2010 in seiner Streitschrift “Empört Euch!” (Indignez-vous!) zum Widerstand gegen Ungleichheit, sozia­­le Spaltung und Fremdenhass auf. “Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz, ist zu sagen: ‚Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch.‘ Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essenziellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.”

Was würde der 2013 im Alter von 95 Jahren gestorbene Hessel wohl dazu sagen, hörte er die “Pack”- und “Arschloch”-Reaktionen von Spitzenpolitikern auf rechte Hetzer? Wäre er froh über diese Form der Empörung? Wohl kaum. Hessel war zeitlebens ein engagierter und unermüdlicher Kämpfer für Menschenrechte. Der Widerstand, den er 2010 einforderte, sollte gewaltfrei sein. Fast möchte man den Pöblern – auf der einen wie auf der anderen Seite – in diesem Sinne zurufen: Entblökt Euch!

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.