Besser wissen

TV-Experten

Dürfen Homosexuelle heiraten und adoptieren? Dürfen Ärzte über Abtreibungen informieren? Wo verlaufen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Diese Fragen haben eines gemein: sie berühren moralische Überzeugungen, von denen jeder beansprucht, welche zu haben. Jeder diskutiert munter mit. Man kann kaum komplett auf dem Holzweg sein, wenn es um Gefühle geht. Heute beschäftigen uns der Klimawandel, die Inflation, der Krieg in der Ukraine und noch immer das Coronavirus. Hier geht es nicht um einen moralischen Kompass: Es gibt hier harte Fakten, herausgefunden von spezialisierten Wissenschaftlern. Die Forschung ist kompliziert und vom normalen Bürger kaum zu durchblicken. Wir brauchen jemanden, der die Sachlage versteht und uns verständlich macht. Willkommen in der Republik der Gelehrten!

Vor allem im Fernsehen sind wir ständig mit Experten konfrontiert. Ob Krieg oder Klima, Philosophie oder Pandemie, ob Business oder Bits and Bytes. Die Zuschauer erwarten Aufklärung und bekommen sie durch Kenner des Faches. Doch sind sie das wirklich? Zuletzt ist die Qualifikation von Fachleuten immer wieder in Zweifel gezogen worden. Besonders hart hat es Frank Thelen erwischt. Der wird seit Jahren in Talkshows eingeladen, um den Deutschen die Wirtschaft zu erklären. Er kann mitreißend reden, leidenschaftlich streiten und hat keine Angst, unbequem zu sein. Aus der Sicht einer TV-Redaktion könnte man knapp sagen: Er funktioniert. Bekannt machte ihn die TV-Show „Höhle der Löwen“, in der Start­ups ihre Produkte Investoren (den „Löwen“) präsentieren.

Wie kompetent der „Löwe“ Thelen jedoch als Investor ist, stellten Recherchen des „Manager Magazins“ und des Recherche-Teams „Strg_F“ zumindest in Frage. Aus vielen angekündigten Investments der ersten zwei Staffeln der Sendung realisierte er am Ende nur eine Handvoll. Von diesen Firmen rutschten wiederum die meisten in die Insolvenz. Auch Thelens Aktienfonds „10xDNA“ steht in der Kritik. Die Renditeträume von bis zu 200 Prozent in wenigen Jahren bewerten Branchenkenner als unseriös. Mit dem Crash der Technologieaktien im ersten Halbjahr 2022 muss der technologielastige Fonds einen Kurseinbruch von über 40 Prozent verkraften. Die Kritik erreichte Thelen jüngst sogar in seinem Lieblingsrevier bei TV-Talker Markus Lanz, wo die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann ihn wegen seines verkürzten Verständnisses von Inflation geradezu vorführte.

Im Mediengeschäft zählen andere Qualitäten

Daniel Nölleke hat zum Thema „Experten im Journalismus“ promoviert. Vor allem die hemdsärmeligen TV-Kommentare des deutschen Rekordnationalspielers Lothar Matthäus haben sein Interesse an der Problematik geweckt. „Es sind nicht immer die erstrangigen Experten, die eingeladen werden“, sagt Nölleke, der mittlerweile als Junior-­Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln lehrt und zu Anfeindungen gegenüber Experten in der Coronazeit geforscht hat. Der ehemalige Journalist verteidigt jedoch die Medien: „Im Journalismus werden Experten nach anderen Kriterien definiert als in der Wissenschaft.“ Es komme neben fachlicher Eignung ebenso auf Kriterien an wie guten Ausdruck, Meinungsstärke oder, ganz banal, Verlässlichkeit und zeitnahe Rückmeldung auf Redaktionsanfragen.

Die Immunologin und Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“. Sie ist selbst häufig Gast in Talkshows. Berndt kommt zu einem ähnlichen Schluss. Gerade in Talkshows sei das Anforderungsprofil an die Gäste sehr hoch. Verständlich sprechen und schlagfertig auftreten vor einem Millionenpublikum, dazu die Anfeindungen aufgebrachter Zuschauer aushalten, das schaffe nicht jeder Wissenschaftler aus der ersten Reihe. Bringt ein Forscher diese Eigenschaften mit, gleicht das wissenschaftliche Defizite auch mal aus. „Der tollste Kenner, der keinen geraden Satz fertigbringt und ständig mit Fremdwörtern um sich wirft, hilft dem Fernsehjournalismus nicht“, sagt Berndt. Das Problem der Anfeindungen sei in Zeiten von Corona zudem gestiegen. Die Journalistin kenne Forscher, deren Ehefrauen ihnen die Medienauftritte verboten haben.

Doch wohin führt das? Übrig bleiben oft Experten, die vor allem gerne im Rampenlicht stehen. Wenn sie dazu auch noch das mediale Handwerk verstehen, werden sie immer wieder eingeladen. Selbst wenn sie ihr Thema gut beherrschen, droht unser allgemeines Verständnis einer Problematik einseitig zu verkümmern. Kann uns wirklich nur Marina Weisband die Ukraine erklären? Zu ihnen gesellen sich selbsterklärte Universalgelehrte, die sich zu jedem Thema sprechfähig wähnen. Richard David Precht, der bislang nicht als ausgewiesener Russland- und Ukrainekenner aufgefallen ist, hat seine Meinung zum Thema trotzdem gern in jede Kamera kundgetan. Immerhin hat er seine Fehleinschätzungen jüngst eingeräumt.

Virale Virologen

Dennoch gibt es unterschiedliche Wege in die Öffentlichkeit. Das zeigte exemplarisch die Coronapandemie. Virologie war davor bestenfalls ein Randthema und damit unbestelltes Feld. Hier profilierte sich etwa der Virologe Alexander Kekulé mit Talkshowauftritten und einem Podcast, obwohl ihm ein Porträt im „Spiegel“ unter anderem vorwarf, die Forschung zu vernachlässigen und sich an seiner Universität in Halle kaum für Lehrveranstaltungen blicken zu lassen. Kekulés Popularität tat das keinen Abbruch: Er ist verfügbar und vermittelt komplexe Probleme anschaulich in lebhaften Beispielen – eine große Stärke.

Anders lief es beim Charité-Virologen Christian Drosten. Er galt aufgrund seiner Forschung zu Coronaviren als einschlägiger Experte von Weltrang. Über Nacht erreichte er bundesweite Bekanntheit und hatte das Ohr der Politik. Dabei gab er immer wieder an, das Licht gar nicht zu suchen und nur bei der Aufklärung behilflich sein zu wollen. Die „Süddeutsche Zeitung“ stellte Ende 2020 fest, dass Drosten kaum Einladungen zu Talkshows annahm. Der Grund für Drostens Popularität wider Willen bei Journalisten liegt neben seiner einschlägigen Fachkenntnis vor allem darin, dass er eine seltene Begabung hat, sich präzise und verständlich auszudrücken und über ein Gespür für journalistische Fangfragen verfügt. Kurz: Er ist medial turnierfähig.

Mit Abflauen der Pandemie im März 2022 stellte Drosten auf eigenen Wunsch seinen Corona-Podcast ein, um wieder mehr zu forschen. Alexander Kekulé hat neben seinem immer noch laufenden Corona-Podcast mittlerweile einen weiteren im MDR, in dem es um Gesundheit allgemein geht.

Wann funktioniert ein Experte im TV?

Auch der Epidemiologe Timo Ulrichs von der Berliner Akkon Hochschule war ein viel gebuchter Coronaexperte. Er war bei Lanz, Plasberg, Welt und sogar der ZDF-„heute show“. Ihm seien mindestens ebenso fähige Kolleginnen und Kollegen bekannt, die weniger Einladungen erhielten, sagt Ulrichs zu p&k. Eines sei aber ausschlaggebend: „Verfügbarkeit ist ein unterschätztes Kriterium. Mit meinem Standort in Berlin bin ich nahe an den überregionalen Medien. Ein Experte oder eine Expertin in der Provinz hätten es da schwieriger.“ So ganz kann der Professor sich seinen Erfolg als Experte jedoch nicht erklären. Wer Ulrichs Wortgefecht mit der AfD-­Chefin Alice Weidel beim Polit-Talker Markus Lanz auf Youtube sieht, begreift jedoch schnell, wieso er im TV funktioniert. Mit ruhiger Stimme und einfachen Worten klärt Ulrichs über Inzidenzen und Korrelationen auf. Er widerspricht, wo jemand unzulässige Vergleiche zieht, geht in die Offensive und nennt Weidels Partei gar den „politischen Arm der Coronaleugner“. Sie protestiert daraufhin heftig.

Streitbarkeit wird im TV belohnt. Anstatt endlos wissenschaftlich abzuwägen, positioniert Ulrichs sich klar. Hochschullehrer sollten sich nicht vornehm im Hintergrund halten, sagt Ulrichs. Professor, das heiße übersetzt „Mann mit Bekennermut“. Man müsse eigene Standpunkte argumentativ vertreten und „sich einer Diskussion stellen.“ Wissenschaftsjournalistin Berndt bestätigt: „Leute, die sich trauen, was zu sagen, werden gern gebucht!“ Dies mache die Sendung lebendig und provoziere im besten Fall eine Schlagzeile, was wiederum Quote und Bekanntheit der Sendung fördere.

Die falsche Ausgewogenheit

Meinungsstärke als Kriterium für die Gästewahl hat weitreichende Folgen für das TV-Expertentum, die längst nicht immer positiv sind. Polarisierung bringt Quote, das wissen Redaktionen. Der Fachmann, der sich als Gegenpol der vorherrschenden Meinung inszeniert, kann mit höherer medialer Aufmerksamkeit rechnen als die Expertin, die den wissenschaftlichen Konsens vertritt – schließlich gibt es für Randpositionen automatisch weniger Auswahl. Erhält eine Minderheitsmeinung überproportionale Aufmerksamkeit in den Medien, sprechen Medienanalysten von einer falschen Ausgewogenheit: „False Balance“.

Schlimmstenfalls kostet das wertvolle Zeit für wichtige politische Entscheidungen. Klimatologen können ein Lied davon singen. „Es war absurd“, erinnert sich die Wissenschaftsjournalistin Berndt an manche TV-Gesprächsrunden der vergangenen Jahre. „Während schon damals 99,9 Prozent der seriösen Wissenschaftler den Klimawandel bestätigten, luden die TV-Redaktionen noch regelmäßig Klimawandel-Leugner in die Talkshows ein.“ Dennoch äußert sie Verständnis für die Verantwortlichen. False Balance geschehe oft aus dem journalistischen Grundsatz heraus, zu jeder Meinung auch eine Gegenmeinung zu Wort kommen zu lassen. Wissenschaftlichen Konsens anhand einer Gegenstimme zur Debatte zu stellen, sei jedoch Unsinn.

Sich deshalb aus Diskussionen zurückzuziehen, sei aber keine Option, sagt Forscher Nölleke. Er appelliert an die Wissenschaftler: „Journalismus muss händeringend die Position des Experten besetzen. Wenn sich seriöse Experten hier zurückziehen, bieten sie Platz für Pseudoexperten.“ Doch es gibt auch Hoffnung. Mit Blick auf sein Fachgebiet sagt Epidemiologe Ulrichs: „Ja, es gibt ein paar Selbstdarsteller, und zu Beginn der Pandemie mussten sich die Redaktionen erst orientieren. Doch gerade die Breite an Experten (und Expertinnen!), die heute eingeladen wird, von Virologen bis zu Experten für mathematische Modellierung, bietet für das Publikum wertvolle Aufklärung – und auch Einsichten in den Wissenschaftbetrieb.“ Vielleicht gelingt dieser Prozess auch in anderen Fachgebieten. Aber ohne mutige Fachleute wird es nicht gehen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 141 – Thema: Interview mit Norbert Lammert. Das Heft können Sie hier bestellen.