Über Sicherheits- und Machtapparate

Rezension

Kaputte Sicherheitsarchitekturen

“Bei über 40 Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern in Deutschland sind zwar immer viele zuständig, aber wenn es darauf ankommt, ist niemand verantwortlich”, schreibt Benjamin Strasser im Prolog zu seinem neuen Buch “Sicherheitsrisiko Staat”. Das ist auch der Kerngedanke des Werks: Die deutschen Sicherheitsbehörden arbeiten kaum koordiniert zusammen und sind oft nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das kann sie selbst zu einem Sicherheitsrisiko machen.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Strasser ist ein Experte auf diesem Gebiet: Von 2014 bis 2016 war er Parlamentarischer Berater für den NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags Baden-Württemberg und nach seinem Einzug in den Bundestag 2017 ordentliches Mitglied und Obmann im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz.

In seiner Streitschrift wiederholt Strasser nicht die typischen sicherheitspolitischen Forderungen nach mehr Personal, schärferen Gesetzen oder mehr technischer Überwachung. Ihm geht es mehr darum, die Arbeitsstrukturen der Sicherheitsbehörden zu hinterfragen. Dabei unterstreicht er, sein Buch sei “eine Anklage an uns politisch Verantwortliche, die wider besseres Wissen entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, notwendige Reformen in der Sicherheitsarchitektur vorzunehmen”.

Strasser beschreibt in eigenen Kapiteln den Aufbau der Sicherheitsbehörden in den 1950er-Jahren sowie in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung. Dazwischen zeigt er anhand konkreter Fallbeispiele, wie die Sicherheitsarchitektur immer wieder an den gleichen Stellen versagte: mangelnde Kooperation, Kompetenzgerangel und eine daraus resultierende Verantwortungslosigkeit. Kaum einmal wurde als Konsequenz versucht, daran politisch etwas zu ändern.

Als Beispiele dienen der Terror der RAF sowie aus der jüngeren Vergangenheit der NSU und der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Insbesondere die zwei letztgenannten Fälle dienen dabei als Anschauungsmaterial für wiederholtes Behördenversagen. Strasser bringt es auf den Punkt: “Die Ermittlungen der NSU-Mordserie sind ein Beleg für systematisches Versagen in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, das sich so im Fall des Anschlags auf den Berliner Breitscheidplatz wiederholte.”

Im letzten Kapitel beschreibt er die aus seiner Sicht notwendigen Veränderungen. Dabei fordert er wie bereits 2019 im Bundestag eine Föderalismuskommission III. Diese soll die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden stärken, Kompetenzen neu ordnen und Strukturen klarer regeln. 

Benjamin Strasser: “Sicherheitsrisiko Staat: Wir können uns besser gegen Terror schützen – tun es aber nicht!”, Herder, 2021, 144 Seiten, 14 Euro

Neue Machtapparate

Ein Leben ohne Plattform ist kaum noch denkbar: Wir kommunizieren über sie, bestellen auf ihnen unser Essen, lassen uns durch sie von einem Ort zum anderen bringen, finden dank ihnen alle möglichen Informationen sowie neue Freunde und Partner. Kurz gesagt: Sie greifen in jegliche Aspekte unseres Lebens ein. 

Für den Medienwissenschaftler Michael Seemann ist das Faszinierende an Plattformen, dass sie sich allen bisherigen Kategorien entziehen: Sie sind Unternehmen, die staats- und marktähnlich zugleich sind. Eine zentrale These seines neuen Buchs “Die Macht der Plattformen” ist daher auch, “dass es sich bei Plattformen nicht einfach um eine neue Technologie oder ein neues Geschäftsmodell handelt, sondern um nicht weniger als ein eigenständiges Strukturparadigma sozialer Organisation, das neben Markt, Staat und Unternehmen eine eigene Kategorie beansprucht.”

Dabei haben Plattformen nicht einfach nur zu viel Macht. Sie haben mehrere Arten von Macht: wirtschaftliche Macht, Marktmacht, Datenmacht und auch politische Macht. In seinem Buch beschreibt Seemann alle diese Machtformen im Hinblick auf Plattformen und geht noch darüber hinaus, in dem er die Bündelung aller dieser Arten von Macht als Plattformmacht definiert. 

Bevor Seemann seine Theorie der Plattformmacht vorstellt, klärt er zunächst grundlegende Fragen, etwa was Plattformen sind und wie sie funktionieren. In diesen Kapiteln wird deutlich, dass “Die Macht der Plattformen” auf Grundlage von Seemanns Dissertation entstanden ist. Wer in den technischen Details der digitalen Welt nicht so bewandert ist, dem wird es schwerfallen, alles auf Anhieb zu verstehen. Doch es lohnt sich, sich gründlicher mit diesen Grundlagen zu beschäftigen, um dem späteren Verlauf des Buchs besser folgen zu können. 

Von besonderem Interesse für politische interessierte Leser dürfte das Kapitel zur Plattformpolitik sein. Darin beschreibt Seemann Plattformen als politische Entitäten, die deutlich anders als Staaten funktionieren. Um das zu verdeutlichen, geht er insbesondere auf die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik von Plattformen ein und wie sie “richtige” Staaten beeinflussen.

Michael Seemann: “Die Macht der Plattformen: Politik in Zeiten der Internetgiganten”, Ch. Links Verlag, 2021, 448 Seiten, 25 Euro

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 135 – Thema: Was kann Spahn?. Das Heft können Sie hier bestellen.