Kalte Schulter

Pro & Kontra

Pro
von Judit Cech

Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist das Prinzip „Wandel durch Handel“ von vielen für gescheitert erklärt worden. Doch das greift zu kurz. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass durch den weltweiten Export und Import von Waren Demokratie und Freiheit befördert werden können.

Gemäß dem aktuellen Bertelsmann-Transformationsindex sind von 137 untersuchten Ländern 70 Autokratien. Wenn wir diese Länder nun alle ausschließen, wird es unmöglich, Lösungen für drängende globale Probleme wie den Klimawandel zu finden. Gerade Entwicklungs- und Schwellenländer wie Indien und China haben einen hohen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß. Sie dazu zu bewegen, diesen zu reduzieren, wird nicht über einen Abbruch der Handelsbeziehungen funktionieren.

Anstatt das Prinzip „Wandel durch Handel“ nun ad acta zu legen, sollten wir aus dem Fall Russland lernen. In der Vergangenheit wurde vonseiten der Politik beim weltweiten Handel zu wenig auf den Export von Demokratie geachtet. Denn natürlich muss es rote Linien geben. Wenn sich ein Land so aggressiv verhält wie Russland, muss das Konsequenzen haben. Mit wirtschaftlichen Sanktionen gibt es dafür gute Mittel. Aber die entschlossenen Maßnahmen, die seit Februar schnell gegen Russland getroffen wurden, hätte es spätestens 2014 mit der Annektierung der Krim geben sollen.

Kern des Prinzips „Wandel durch Handel“ sollte der Wandel sein – hin zu Demokratie, hin zu Lösungen globaler Probleme. Der Handel sollte dafür nur ein Vehikel sein, mit dem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten geschaffen werden kann. Was wir aktuell im Fall Russland sehen, ist nicht das Scheitern von „Wandel durch Handel“, sondern wie das Prinzip vollkommen falsch angewendet wurde.

Kontra
von Konrad Göke

Mit seiner „Zeitenwende“-Rede hat Kanzler Olaf Scholz einige Seifenblasen platzen lassen. Liebgewonnene Vorstellungen davon, wie wir als pazifistisch-moralische Großmacht autoritäre Staaten umarmen und uns angleichen, gehen nicht erst seit den russischen Kriegsverbrechen und dem Artilleriefeuer auf ukrainische Städte krachend unter. Im Nahen Osten wurde die Demokratiebewegung niedergeknüppelt. Die chinesische Diktatur foltert Uiguren, sperrt Hongkonger Demokratieaktivisten ein und bedroht Taiwan. Vor dem Krieg sagte Außenministerin Annalena Baerbock: „Wer redet, schießt nicht.“ Heute wissen wir: Jemand, der redet, kann nicht nur schießen, sondern uns darüber auch ins Gesicht lügen.

Der sicherste Garant für Frieden und Stabilität schien eine Abhängigkeit zu sein, bei der alle es schmerzhaft spüren, wenn sie scheitert. Die genannten Beispiele zeigen, dass autoritäre Regime anders rechnen. Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit kann man wegsperren. Um eine Wiederwahl müssen sich die Mächtigen in ihren manipulierten Wahlsystemen nicht sorgen. Für sie zählen Werte wie geschichtliche Größe und nackte Macht – Kategorien, die unserem Denken nach den desaströsen Weltkriegen zunehmend fremd geworden sind. Abhängigkeiten treffen nicht sie, sondern die normalen Menschen in ihren Ländern. Sie sind für sie deshalb keine Hemmschwelle, sondern ein Hebel, der vor allem uns unter Druck setzt.

Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihnen diesen Hebel zu nehmen. Natürlich brauchen wir mächtige Partner im Kampf gegen den Klimawandel und globale Armut. Wir müssen uns aber darauf verlassen können, dass sie ihr Wort halten. Dieses Vertrauen kann es nur in Demokratien geben. Aber für eine Zeitenwende in unserer Außenpolitik spricht auch eine ganz einfache Statistik. Seit dem Ende der Sowjetunion hat die Anzahl der Demokratien nicht zu-, sondern abgenommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.