Nur Information hilft gegen die Angst vor dem Neuen

Serie: Politik ohne Grenzen, Teil 5

[…] Obgleich ich mich immer für die Kultur meines Vaters interessierte und wir in meiner Kindheit mehrfach nach Ägyptern reisten, um die Verwandtschaft zu besuchen, habe ich mich zu keiner Zeit über meinen Migrationshintergrund definiert. Er war immer ein bereichernder, nie aber ein hemmender Teil meines Lebens. In vielerlei Hinsicht haben mir die Gespräche mit meinem Vater über Ägypten dabei geholfen, den arabischen Raum und seinen Kulturkreis besser zu verstehen. Insbesondere die Bedeutung von Familie und Religion im alltäglichen Leben wurde mir dadurch nähergebracht. Auch habe ich durch meine Aufenthalte in diesem Land in der Familie erst verstanden, was es bedeutet, sich in einem anderen Kulturkreis zu integrieren. Je mehr ich die Unterschiede kennenlernte, umso mehr verstand ich sein Verhalten an dem ein oder anderen Punkt und umso größer wurde mein Respekt vor dieser Leistung. Integration ist für viele eine große Herausforderung, vielleicht für einige eine zu große. Sozialromantik hilft hier nicht weiter, sondern ist vielmehr kontraproduktiv. Dieses Wissen kommt mir in meiner Arbeit als Bundestagsabgeordneter heutzutage mehr denn je zugute. Um die Entwicklung in anderen Ländern beurteilen zu können, muss ich zunächst einmal die Beweggründe der Menschen vor Ort verstehen. Das gilt insbesondere auch für Menschen, die in unserem Kulturkreis integriert werden sollen, und muss die Basis für unser Handeln sein. Ich kann gut nachvollziehen, dass Menschen vor dem, was sie nicht kennen, was neu für sie ist, Angst haben. Das gilt übrigens für beide Seiten. Nur Information hilft da weiter.

[…] Unser Land steht mit dem Zustrom von Flüchtlingen derzeit vor seiner größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung 1989. Bei der langfristigen Mammutaufgabe der Integration kommt denjenigen Menschen mit Migrationshintergrund, die ebenfalls nach Deutschland zugewandert sind, seit längerem hier leben und sich gut in der Gesellschaft eingefunden haben sowie ihren Nachkommen eine Schlüsselrolle zu. Sie können den Menschen, die aus ähnlichen Kulturkreisen stammen, am besten erklären, was in Deutschland anders ist und warum. Mein Vater ist für mich ein gutes Vorbild. Ein kleines Beispiel, möglicherweise ein profanes: Als Kind habe ich ihn einmal gemeinsam mit meiner Mutter vom Flughafen, der damals noch in Riem war, abgeholt. Als er aus dem Terminal kam, galten seine ersten Worte allerdings nicht uns, sondern einer Gruppe Golf-Arabern, die neben uns standen. Wild gestikulierend redete er laut auf Arabisch auf sie ein. Später frage ich in, was da losgewesen sei. “Na ja”, hat er zu mir gesagt, “die haben furchtbar über dich geschimpft.” Es stellte sich heraus, dass unser Hund, den ich an der Leine mitgeführt hatte, das Gewand eines der Golf-Araber berührt hatte. Der Hund gilt im islamischen Raum als unreines Tier. “Und was hast du dann zu ihnen gesagt?”, fragte ich meinen Vater. Der antwortete prompt: “Ganz einfach: Wir sind hier in Deutschland, und wenn euch das nicht passt, dann haut ab. Punkt.” Die Menschen, die Schutz in unserer Gesellschaft suchen und erhalten, müssen unsere Regeln akzeptieren und dürfen sich nicht gegen sie stellen. Religionsfreiheit heißt, seine Religion ausüben zu dürfen, nicht aber die der anderen zu missachten oder gar zu bekämpfen. Wir, die zweite Generation, die Nachkommen der Zuwanderer sind mit den Ängsten und Problemen, die ein Neustart in einem fremden Land mit sich bringt, durch Erzählungen unserer Eltern oder eigene Erfahrungen vertraut. Es gilt, diese Perspektiven einzubringen und gemeinsam nach dem bestmöglichen Weg zu suchen. In diesem Prozess müssen auch Probleme offen und ehrlich angesprochen sowie gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. Beispielsweise beim Thema Religion sind wir meiner Ansicht nach zu blauäugig.

[…] In Deutschland ist Religion Privatangelegenheit. Hier werden Flüchtlinge ungewollt alleingelassen, und Organisationen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, schließen diese Lücken. Gesetzlich haben wir eine klare Trennung von Kirche und Staat. Und dennoch stehen viele Imame, die bei uns im Land in Moscheen predigen, auf der Gehaltsliste des türkischen Religionsministeriums. Andere werden im Ausland, beispielsweise in Medina, ausgebildet, kommen für einige Jahre zu uns und verlassen dann wieder das Land. Wir brauchen ein islamisches Leben, das sich in Deutschland organisiert und von Ankara oder anderen Institutionen im Ausland weitestgehend unabhängig ist. Wir können die Ausbildung von Imamen zwar nicht vollständig in Deutschland übernehmen, wir müssen uns aber gleichzeitig die Frage stellen, wer bei uns in Deutschland in muslimischen Gemeinden predigen darf.

Hier können Politiker, in Deutschland geborenen Menschen wie auch die zu uns kommenden Flüchtlinge von den muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund lernen, die ihre Heimat bereits in der Mitte unserer Gesellschaft gefunden haben. Mein Vater, der den Golf-Arabern nachdrücklich erklärte, worauf sie sich mit ihrem Besuch in Deutschland eingelassen haben, schlug genau diese Brücke, indem er nicht nur ihnen mitteilte, wie sie sich hier zu verhalten haben, sondern im Nachgang auch mir und meiner Mutter erklärte, wie die Situation aus dem arabischen Kulturkreis heraus interpretiert wurde. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Erfahrungen dank meines Vaters machen durfte.

Die Auszüge stammen aus dem Kapitel “Vertraut mit dem Neustart” von Alexander Radwan. Der Sammelband “Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag” ist Ende Oktober im B&S Siebenhaar Verlag erschienen. Autorinnen und Autoren wie Azize Tank, Aydan Özoğuz, Cem Özdemir, Katarina Barley, Gitta Connemann und Herausgeber Özcan Mutlu erzählen darin von ihren persönlichen Lebenswegen und Erfahrungen als Abgeordnete.