Im Jahr 1783 warf ein Kapitän namens Luke Collingwood 132 erkrankte Sklaven über Bord. Er wurde angeklagt. Wegen Versicherungsbetrugs. Nicht wegen Mordes, wie der britische Jurist Granville Sharp vergeblich durchzusetzen versuchte. Vier Jahre später gründeten Sharp und Thomas Clarkson die „Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei“, sammelten Unterschriften und riefen zu einem Boykott von Zucker aus Sklavenarbeit auf. Clarkson erlebte noch, wie 1833 mit dem „Slavery Abolition Act“ alle Sklaven im britischen Kolonialreich für frei erklärt wurden. Clarkson und Sharp: Sie sind die Gründer der ersten Nichtregierungsorganisation (NGO).
Die wirtschaftliche Logik sprach für viele Unternehmen damals sicher nicht für die Abschaffung der Sklaverei. Trotzdem tat die Politik am Ende diesen Schritt. Denn die Abolitionisten hatten eine Wertedebatte angestoßen und gewonnen. Politologen sagen, dass soziale Bewegungen Lösungen für Fragen fordern, die der etablierte Politikbetrieb trotz Handlungsdrucks nicht thematisiert. Beispiele gibt es von der Einführung des Frauenwahlrechts über den Artenschutz bis zum Klimawandel.
In der abstrakten Lesart sind NGOs also das Regulativ bei Fällen von „Marktversagen“ der politischen Agenda. In der negativen Lesart sind NGOs die destruktiven Strippenzieher der „Dagegen-Republik“, die der „Spiegel“ vor wenigen Wochen auf den Titel setzte. Und in der aufgeregten Lesart sind sie verzweifelter Reflex, weil die „Politik am Volk vorbei“ regiert, wie sich Anne Will Mitte September sorgte.
Der von mir geschätzte Richard Gaul neigt zur zweiten Lesart. NGOs könnten wohlfeil „Nein“ sagen und sich dafür von Modernisierungsverunsicherten feiern lassen. Sie tragen keine Verantwortung für die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie können den Skeptikern Recht geben, ohne den Gegenentwurf schuldig zu sein. Zu allem Überfluss wird ihnen auch eher geglaubt als denen, die ernsthaft gestalten wollen.
Wie Richard Gaul glaube ich: Die Akzeptanzkrise unseres politischen Systems darf sich nicht weiter verschärfen. Aber ich bestreite, dass NGOs und Bürgerbewegungen als Teil des Problems angesehen werden sollten. Denn erstens könnten sie dann nicht überleben und zweitens können sie sogar Teil der Lösung sein.
Viele Bürger können die komplexen Fragen der Gegenwart nicht mehr kompetent beurteilen. Was sie sich zutrauen zu beurteilen, ist die Glaubwürdigkeit der handelnden Personen. Damit ist Glaubwürdigkeit zur Leitwährung im politisch-medialen Betrieb geworden. Deshalb thematisiert Richard Gaul auch vor allem den vermeintlichen Vertrauensvorschuss von NGOs im Wettbewerb der Argumente.
Hier kann man Entwarnung geben. Ja, gute NGOs genießen Glaubwürdigkeit – das ist aber auch fast alles, was sie haben. Sie werden damit sorgsam umgehen. In Sachen Glaubwürdigkeit verhalten sich NGOs und Wirtschaftsverbände zueinander wie Zeltlager und Steinkirchen. Bei einer Steinkirche kann schon mal das Dach abbrennen. Ihr uraltes Fundament wird dieses Unglück überstehen. Das Zeltlager nicht.
NGOs haben es im Medienbetrieb schwerer als vermutet. Weil ihnen das Fundament – die Entscheidungs- und Kapitalmacht – fehlt, sind sie auf Kreativität und Inszenierung angewiesen. Für Parlamentskorrespondenten ist das aber oft eher Folklore. Wir haben aktuell die Bilder von „Stuttgart 21“ und von den Gegnern der Laufzeitverlängerung im Kopf. Aber das ist nicht der Alltag. Normalerweise findet das Zitat eines NGO-Vertreters nur dann Platz im Artikel über einen Krach zwischen Politik und Wirtschaft, wenn noch ein paar Zeilen zu füllen sind.
An diesen Zeilen hängt aber nicht nur der Erfolg in der politischen Auseinandersetzung, sondern auch der Erfolg beim Spendenaufkommen. Ich behaupte, dass ein dauerhaft destruktiver Kurs weder von Ansprechpartnern in der Politik noch Spendern goutiert wird.
Ernstzunehmende NGOs müssen deshalb zwei Dinge tun: Zunächst müssen sie als zivilgesellschaftliche Akteure aushandeln, wie die Welt, in der sie sich bewegen, aussehen soll. Im technischen Trubel um Finanzierbarkeit und Machbarkeit geraten Werte zuweilen aus dem Blick. Zweitens: Moral allein wäre tatsächlich wohlfeil. NGOs müssen valide Argumente einbringen und das Machbare im Blick behalten. Die Schills dieser Welt ereilt im Meinungsmarkt alle dasselbe Schicksal – egal ob in der Politik oder der NGO-Szene.
Wie das Beispiel von Clarkson und Sharp zeigt, speisen sich die Weichenstellungen aufgeklärter Demokratien nicht nur aus ökonomischer Arithmetik und den Mehrheiten des Augenblicks. Am Ende aber können Ergebnisse stehen, mit denen sich unsere Gesellschaft als Ganzes identifiziert. Nehmen wir das konstruktive Engagement der Bürger ernst. So können wir einen Teil der Akzeptanz unseres Systems zurückerobern.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Lass uns Freunde sein. Das Heft können Sie hier bestellen.