Digitale Interessenvertretung: Die Technik ist da, die Euphorie fehlt

Public Affairs

Heute ist fast alles vernetzt. Neue Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten verändern unseren Alltag und die Art, wie wir miteinander kommunizieren, Geschäfte machen, Entscheidungen treffen, uns eine Meinung bilden. So, oder so ähnlich, wird es medial und auf den Podien dieser Republik besprochen. Allerdings ist eine zunehmende Entkopplung zwischen der technologischen Entwicklung und der realen Veränderungsbereitschaft bei Menschen und Organisationen zu beobachten. Das zeigt auch ein Blick auf die Interessenvertretung, deren Verhältnis zur eigenen Digitalisierung wahlweise von Ignoranz, Skepsis oder Unsicherheit geprägt ist – selten von Euphorie.

Bislang reden wir über alles – nur nicht über uns

Während Interessenvertreter jeden Abend Diskussionsrunden zu künstlicher Intelligenz, Big Data und Digital Health besuchen und eifrig über die Digitalisierung Deutschlands diskutieren, sieht die eigene Arbeitsrealität anders aus. Hier dominieren immer noch Excel-Verteiler statt Datenbanken, Rundmails statt kollaborativer Plattformen, Empfänge alter Schule statt digitaler Sichtbarkeit. Aber selbst dort, wo digital gearbeitet wird, sind wir von Effizienz noch weit entfernt. Zu viele Ressourcen fließen heute zum Beispiel noch in die Suche nach – öffentlich zugänglichen – Informationen. Statt sich auf die inhaltliche Arbeit zu konzentrieren, werden stundenlang Dokumente, RSS-Reader, Newsletter oder Social-Media-Feeds nach relevanten Informationen abgegrast. Schlimmer noch: Die gleichen Inhalte werden oft doppelt und dreifach recherchiert und vorhandenes Wissen nur unzureichend oder gar nicht miteinander vernetzt. Und während auf Kongressen über digitale Hauptstadtbüros, Stakeholder Targeting und Datenanalysen gesprochen wird, beschäftigt sich eine Mehrheit der Interessenvertreter noch mit der Frage, ob, warum und wie man twittern soll. Mal abgesehen davon, dass die Diskussion über Digital Public Affairs ohnehin zu sehr auf die Kommunikation in den sozialen Medien verkürzt wird. Das Problem sind nicht die technischen Möglichkeiten, sondern das Mindset der Interessenvertreter, deren Medienkompetenz und eingeschliffene Organisationsstrukturen.

Die Technologie ist da

Immer mehr technische Lösungen sind in letzter Zeit entstanden (und weitere werden entstehen), die die Arbeitsabläufe der Interessenvertretung sinnvoll ergänzen können. Insbesondere beim Issue- und Stakeholdermanagement sind zeitaufwändige, ineffiziente Abläufe digitalisierbar. Politische Quellen können automatisiert ausgewertet und personalisierten Suchprofilen von Issue Managern zugeordnet werden. Das kleinteilige und zeitaufwändige Durchforsten von RSS-Readern, Newslettern und Webseiten entfällt. Stakeholder, die sich an der politischen Debatte beteiligen, werden erkannt und zur weiteren Beobachtung vorgeschlagen, genauso wie zugehörige Termine (Plenarsitzungen, Anhörungen, u.ä.). Mit wenigen Klicks können die aggregierten Informationen verarbeitet, miteinander verknüpft und mit Bewertungen angereichert werden. Alle issuerelevanten Informationen, die eine Organisation (z. B. Hauptstadtbüro eines Unternehmens, Verband, NGO) selbst erzeugt, können ergänzend hinzugefügt werden – Kontaktverläufe, interne Ansprechpartner, Recherchen und Sprachregelungen. So entsteht eine wertvolle Datenbasis, die völlig neuartige Analysemöglichkeiten schafft. Politische Debatten lassen sich im Zeitverlauf nachzeichnen, Themenkonjunkturen beobachten, Veränderungen in der Argumentation von Akteuren erkennen und einflussreiche Agenda Setter einer Debatte identifizieren. Zudem kann das vorhandene Wissen einer Organisation dezentral verfügbar gemacht werden. Das erhöht den Grad der Zusammenarbeit – Silos werden aufgebrochen, der Informationsfluss verbessert. Dadurch werden Organisationen schneller und schlagkräftiger.

It’s the human being, stupid!

Bei allen Vorteilen haben derlei Technologien jedoch einige Implikationen für Organisationen. Der Informationsfluss wird durchlässiger, Wissen wird quasi demokratisiert – team- und hierarchieübergreifend. Das ist fachlich gut und wünschenswert, aber organisatorisch eine Herausforderung. Gut bekannt sind die Rangeleien zwischen einzelnen Abteilungen um Zuständigkeiten und Zugänge. Manche Führungskraft profitiert heute noch davon, dass man ihr bei persönlichen Kontakten und Aktivitäten nicht in die Karten schauen kann. Wissen wird bewusst nicht geteilt oder nur stückweise, um sich selbst in der Organisation zu profilieren. Schließlich entsteht durch neue Möglichkeiten der Kollaboration auch mehr Transparenz. Interessenvertretung wird dadurch messbarer – nicht für jeden ein wünschenswerter Zustand. Nicht zuletzt setzt Technologie immer auch Medienkompetenz voraus. Nicht jeder kann neue Technologien intuitiv anwenden. Schnell verfällt man in alte Rituale – der Tod jeder Technologie. Denn deren Erfolg hängt auch von der Disziplin der Teams ab, diese konsequent einzusetzen.

Berechenbarkeit erhöht die Erfolgschancen

Bei der Digitalisierung der Interessenvertretung ist es also mit dem Kauf von Technologie nicht getan. Sie ist eine Führungs- und Gestaltungsaufgabe, die Willen und Beharrlichkeit erfordert. Das ist anstrengend, aber es lohnt sich.

Ein Gelingen setzt Berechenbarkeit für alle Beteiligten voraus. Es hilft nicht, wenn eine kleine Gruppe an Digitalbegeisterten allen anderen enteilt. Digitalisierung muss ein Teamprojekt sein, partizipativ, antizipativ und transparent. Das bedeutet interne Kommunikation, Offenheit und an den entscheidenden Stellen auch Konfliktfähigkeit.

Wenn Digitalisierung in der Interessenvertretung mit diesem Mindset angegangen wird, kann sie eine Erfolgsgeschichte werden. Dann steht uns ein deutlicher Qualitäts- und Professionalisierungsschub bevor.