Youngsters im Anmarsch

In die „Tiefste Provinz“ hat es Max Koziolek verschlagen – so heißt das kleine Theater im brandenburgischen Kremmen, das dem jungen Mann in lässiger Hose und leichtem Baumwolljackett an diesem Sonntag im August als politische Bühne dienen soll. Die rund 80 Besucher finden nur knapp Platz, um das Wahlkampf-Schauspiel auf dem Podium zu verfolgen, in dem Max Koziolek für sie allerdings eher die Nebenrolle spielt. Ihr Hauptdarsteller – das wird schnell klar – ist Gregor Gysi. Mit viel Applaus und großem Hallo wird er empfangen, als er – wegen einer Vollsperrung auf der Autobahn – verspätet durch den Hintereingang auf die Bühne tritt.


„Schön, dass Sie da sind, Herr Gysi. Verraten Sie uns, wie Sie da jetzt rausgekommen sind?“, fragt der Moderator. Und der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag demonstriert gleich seine Schlagfertigkeit: „Bin mit ‘ner Drohne geflogen.“ Der Saal johlt, auch Max Koziolek schmunzelt. Er weiß, was in den nächsten zwei Stunden auf ihn zukommt – und hat sich vorbereitet. Bereits am Abend zuvor ist er nach Kremmen gefahren, um Plakate aufzuhängen. An jeder zweiten Laterne auf dem Weg zum Theater ist jetzt blau auf gelb und gelb auf blau zu lesen: „Schulden runter – Nur mit uns“, „Bürgerrechte stärken – Nur mit uns“.

„Revier markieren“, nennt Koziolek das und grinst. Ihm macht die politische Auseinandersetzung mit Politprofis wie Gysi sichtlich Spaß. Die beste Voraussetzung für das, was er vorhat: Der 23-jährige Jura-Student, der seit 2007 Mitglied bei den Jungen Liberalen und seit 2008 in der FDP ist, will für seine Partei in den Bundestag. Als Direktkandidat im Wahlkreis 60, der sich von Brandenburg an der Havel im Norden über den Landkreis Potsdam-Mittelmark bis nach Teltow-Fläming im Süden erstreckt, hat er es dabei mit einem starken, wenn nicht übermächtigen Gegenkandidaten zu tun: SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier.

Allerdings tritt Koziolek nicht nur als Direktkandidat an, auf der Landesliste der brandenburgischen FDP steht er auf Platz zwei. Bei einem Ergebnis wie vor vier Jahren wäre ihm ein Sitz im Bundestag sicher. Aber die Ausgangslage ist eine andere. Während die FDP im Jahr 2009 satte 14,6 Prozent holte, muss sie in diesem Jahr bangen, überhaupt die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen.

Vertraut man auf die Umfragen, muss Die Linke diese Sorge nicht haben. „Aber nach einem zweistelligen Ergebnis wie beim letzten Mal sieht es derzeit noch nicht aus“, sagt Norbert Müller. Der 27-Jährige tritt ebenfalls zum ersten Mal für den Bundestag an; sein Wahlkreis, zu dem Potsdam und Umgebung gehören, grenzt an Kozioleks. Wie der FDP-Kandidat ist er Student, wie er in der DDR geboren. Damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Während Koziolek seine Leidenschaft für Politik 2006 bei „Jugend debattiert“ entdeckt hat, sind es Müllers Kindheit und Jugend in Strausberg, die ihn politisch sozialisiert haben. In dieser Stadt östlich von Berlin, bis 1990 Sitz des DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung, hat er als Kind erlebt, wie mit der deutschen Einheit auf einen Schlag mehr als 10.000 Menschen ohne Arbeit dastanden und Strausberg von „Trostlosigkeit und großen Verwerfungen“ geprägt war: „Mein Vater war Soldat und hat bis heute so eine typische Nachwendebiografie: Er war entweder arbeitslos oder prekär beschäftigt.“ Diese Erfahrung macht ihn bis heute wütend – und hat ihn 1999 politisch aktiv werden lassen.


Die Hoffnungen, die er nach der Abwahl Helmut Kohls mit der rot-grünen Regierung verbunden hatte, erfüllten sich für ihn nicht. Sein Fazit: „Ich muss widerständisch Politik machen.“ Die PDS-Jugendorganisation, die er in Brandenburg mit aufgebaut hat, wurde seine Heimat. 2002 trat er in die PDS ein. „Intellektuell ansprechender wurde die Partei für mich mit dem Zusammenschluss von PDS und WASG“, sagt Müller. Erst Die Linke hätte Debatten über Themen wie öffentliches Eigentum und Privatisierungen geführt – „und das im Widerspruch zum Zeitgeist“. Dass der Staat kein Eigentum benötige und Wasserwerke oder Wohnungsbaugesellschaften in den Händen privater Investoren besser aufgehoben seien – für ihn nicht mal auf den ersten Blick schlüssig. „Das ist völlig bescheuert“, sagt Müller mit ruhiger Stimme. „Das hat nirgendwo funktioniert. Die konnten nichts besser – außer sich zu bereichern.“ Dass öffentliche Haushalte um jeden Preis wie der der schwäbischen Hausfrau geführt werden sollten, hält er für absurd.

Auch Max Koziolek bemüht das Bild von der schwäbischen Hausfrau, um seine politische Haltung zu verdeutlichen. Er ist anders als Müller überzeugt: „Im Grunde weiß jeder, dass es vernünftig ist, nicht mehr auszugeben, als man einnimmt.“ Koziolek setzt sich gegen Neuverschuldung und für Generationengerechtigkeit ein, „enkel-tauglich“ heißt das bei ihm. Er wolle der „Anwalt der Jugend“ sein, sagt er in Kremmen und hat beim fast ausschließlich älteren Publikum keinen leichten Stand.

Laute Buh-Rufe bekommt Koziolek zu hören, als er die OECD zitiert, um zu belegen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren in Deutschland nicht weiter geöffnet habe. Gysi hält dagegen mit Zahlen vom Bundesamt für Statistik, die das Gegenteil beweisen sollen. Überprüfen kann in diesem Moment niemand, wer Recht hat, aber gemessen an den Reaktionen der Frauen und Männer im Publikum erleben sie eine andere Realität als Max Koziolek.

Es dürfte die Realität sein, auf die sich auch Norbert Müller bezieht, wenn er von Potsdam als dem „München des Ostens“ spricht – einer Stadt mit hoher Lebensqualität, die allerdings ihren Preis hat. Wie die steigenden Mieten, die nicht jeder zahlen kann. „Es entstehen Ghettos für Reiche“, kritisiert Müller. Er steht auf dem Potsdamer Bassinplatz, „AsphaltKultur“ heißt die Veranstaltung, die er hier besucht. Breakdance, Diskussionen und Live-Musik sind angekündigt. Aber es ist heiß an diesem Nachmittag und die 36 Grad sorgen dafür, dass das „soziokulturelle Get-together“ nur langsam in Gang kommt. Außer ein paar Graffiti-Sprayern und Müller, der sich zum Schutz gegen die Sonne seine Mao-Mütze aufsetzt, ist noch kaum jemand da. „Die Linke will, dass jeder seinen Platz in der Stadt hat“, erklärt Müller, „damit Potsdam lebendig bleibt.“ Wie Koziolek will auch er jungen Menschen eine Stimme zu geben – nur denkt er dabei nicht in erster Linie an die Lasten, die künftige Generationen zu tragen haben.

Müller studiert Geschichte und Lebenskunde an der Universität in Potsdam. Er will Lehrer werden und hat die Erfahrung gemacht, dass viele Schüler mit dem Gefühl lebten, dass für sie kein Platz in dieser Gesellschaft sei, wenn sie im permanenten Wettbewerb nicht mithalten könnten. Dabei seien die Schüler doch in einem Alter, in dem Menschen eigentlich Visionen hätten, sich frei fühlten.

Vielen würde aber signalisiert: „Ihr seid Schrott, Rest, euch braucht eigentlich keiner. Ihr seid übrig in der Verwertungsgesellschaft, Pech gehabt.“ Das wollten er und seine Partei nicht akzeptieren.
So argumentiert auch Gysi in Kremmen: Die Linke würde einfach gebraucht, um immer wieder daran zu erinnern, dass Menschen überall in Deutschland den Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse hätten. Jetzt greift Koziolek an: „Sie erinnern daran, aber ändern könnten Sie an ungleichen Lebensverhältnissen nichts. Schließlich haben Sie im ZDF-Sommerinterview zugegeben, dass Sie und Ihre Partei ein großes Defizit in der Wirtschaftspolitik haben.“ Das habe ihn schon erstaunt, ergänzt er, und Gysi kontert: „Seh’n ’se mal, wie ehrlich ich bin.“


Nach der Veranstaltung sagt ein älterer Mann zu Koziolek: „Ich finde Sie sympathisch, ehrlich, authentisch. Bleiben Sie so.“ Er ist Mitglied der Linken und als er weggeht, sagt Koziolek: „Selbst wenn es am 22. September nicht klappen sollte, ich habe bis jetzt schon so viele tolle Erfahrungen gemacht, so viel gelernt. Es hat sich in jedem Fall gelohnt, es zu versuchen.“ Der Bundestag ist sein Plan B: „Wenn die Nachricht kommt, Max, du sitzt im Bundestag, dann wird die Freude riesengroß sein. Aber im Hinterkopf weiß ich: Es wird ganz ganz ganz viel Arbeit.“

Damit meint er nicht nur sein Mandat. Denn sein Plan A ist das erste juristische Staatsexamen – und das will er auch als Abgeordneter im kommenden Jahr machen: „Das werden 100-Stunden-Wochen.“ Aber dazu gibt es keine Alternative. Er will unabhängig sein, auch vom politischen Geschäft, und nicht nur Abitur und Führerschein als Qualifikationen vorweisen können: „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, bin ich unglaublich ehrgeizig.“

Er ist sich sicher, dass ihm sein Studium im Parlamentsbetrieb nützen wird. „Das, was ich wegen des Studiums heute aus dem Ärmel schütteln kann, müssen sich andere ganz anders erarbeiten.“ Allerdings denke und rede er manchmal schon zu juristisch. „Das merke ich immer dann, wenn ich meinem Zwillingsbruder Dinge erklären will und mich nicht verständlich genug ausdrücke. Der sorgt ganz gut für Bodenhaftung.“ Sorgen machen wegen der 1500 Wahlplakate, die überall hängen, muss sich sein Bruder nicht; sie sind zweieiige Zwillinge. Max Koziolek ist dagegen gespannt, wie es ist, „das eigene Gesicht über Wochen überall zu sehen“.

Das fragt sich auch Norbert Müller: „Wahrscheinlich ruft mein Sohn nur noch Papa, Papa, Papa‘, wenn ich mit ihm durch Potsdam radle.“ Allerdings sind es bei ihm weit weniger Plakate – 500 über den kompletten Wahlkreis verteilt. „Wir können und wollen nicht so viel Geld dafür ausgeben.“ Neulich sei er allein an einer Straße in Potsdam neunmal an einem Großaufsteller mit dem Bild der CDU-Direktkandidatin Katherina Reiche vorbeigefahren. „Das nervt die Leute doch auch. Da reihe ich mich nicht ein.“ Er will im direkten Kontakt mit den Wählern überzeugen, damit seine Partei am Ende gut abschneidet.

Als er gefragt worden sei vor rund einem Jahr, habe er allerdings erst einmal überlegen müssen. „So ein Mandat macht ja auch was mit einem, da sollte man sich schon sicher sein, dass man reif genug ist.“ Für reif genug hatte er sich allerdings schon 2009 befunden, als er für Die Linke in den Landtagswahlkampf zog. Am Ende stand er ohne Mandat da. „Man setzt da ein Jahr lang Leben ein, wenn man es richtig tut“, resümiert er seine Erfahrung.

Für seine Nominierung als Bundestags-Direktkandidat hatte er auch deshalb um einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste gekämpft. So ganz funktioniert hat es nicht – Platz 6 ist keine Garantie. „Aber auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht so schrecklich hoch ist, ist es auch nicht unmöglich, den Wahlkreis direkt zu gewinnen“, weiß Müller. 2009 fehlten seinem Vorgänger nur rund 200 Stimmen, um anstelle der SPD-Abgeordneten Andrea Wicklein den Wahlkreis zu gewinnen.

Sollte er in den Bundestag einziehen und sich aussuchen dürfen, in welchem Ausschuss er mitarbeiten darf, er würde sich für den Bildungsausschuss entscheiden. Gerade Forschung sei für seinen Wahlkreis mit drei Hochschulen und den vielen Forschungsinstituten ein wichtiges Thema. Zu einer Zusammenarbeit mit Max Koziolek käme es dann nicht. Der würde am liebsten in den Gesundheits-, den Rechts- oder den Haushaltsausschuss. Allerdings ahnen die beiden, dass ihre Wünsche wohl keine Priorität hätten. Vielleicht bringt der Zufall die beiden dann doch noch zusammen. Aber dafür müssen sie am 22. September erst einmal gewählt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Das Heft können Sie hier bestellen.