Weg mit der Salami

Wenn später einmal zurückgeblickt und die Frage gestellt wird, wann das Ganze an Glaubwürdigkeit verlor und sich der Grenze zur Lächerlichkeit annäherte, wird man das Fernseh-Interview erwähnen. Seit Wochen, wird man erzählen, stand Bundespräsident Christian Wulff schon in den Schlagzeilen, wegen eines Haus-Kredits und eines Anrufs beim „Bild“-Chefredakteur. Das Gespräch in ARD und ZDF glich an manchen Stellen einem Schachspiel, an anderen einem Gerichtsprozess. Es war wie erwartet. Bis dieser eine Satz fiel, der kurz danach für Spott und Hohn sorgte: Bettina Schausten nimmt also 150 Euro, wenn Freunde bei ihr übernachten.
Die Journalistin Schausten war übers Ziel hinausgeschossen. Am nächsten Tag beteuerte sie, im Gegensatz zu dem zuvor erweckten Eindruck, tatsächlich zu echten Freundschaften fähig zu sein. Und da hörte die Schadenfreude auch schon auf, die mancher Wulff-Anhänger bis dahin gegenüber einer selbstgerechten Journalistenkaste empfinden mochte. Denn es zeigte sich auch: Für Bettina Schausten war die Sache ausgestanden. Christian Wulff aber hatte noch lange keine Ruh.
Vor knapp zwei Monaten begann die sogenannte Wulff-Affäre. Und auch, wenn viele Fragen offen sind, eines wurde deutlich wie kaum je zuvor: Ein Politiker, zumal in der Position des Bundespräsidenten, ist kein normaler Mensch. Handwerker dürfen private Kredite aufnehmen. Firmenchefs dürfen Chefredakteure beschimpfen. Journalisten dürfen mit dem Presseausweis Flugtickets kaufen. Politiker sollten all dies vermeiden. Tun sie es nicht, riskieren sie eine politische Krise.
Wulff ist nur ein Beispiel von vielen. Fischer, Steinwürfe. Gysi, Bonusmeilen. Rüttgers, Rumänen. Kohl, Spenden. Engholm, Barschel. Dr. Guttenberg. Und die Frage steht im Raum: Warum scheitern die einen, die anderen nicht, und einige nur vorerst? Was machen die einen richtig und die anderen falsch? Wie geht Krisenkommunikation?
Klaus-Peter Johanssen nimmt es vorweg: Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Den Mann in seiner Agentur „Johanssen+Kretschmer“ am Potsdamer Platz in Berlin zu besuchen, lohnt trotzdem. Will man über politische Krisen der Bundesrepublik reden, ist Johanssen so hilfreich wie ein Geschichtsbuch. 1938 in Hamburg geboren, beobachtete der Jurist zeit seines Lebens politische Krisen. 1995 managte er erfolgreich die PR-Arbeit bei Shell, als der Konzern wegen seines Plans, den Öltank „Brent Spar“ zu versenken, am Pranger stand. Spricht man mit dem weißhaarigen Mann, blickt er erst einmal zurück, um die neue Zeit zu erklären.

Bis zum Sturz

Betrachtet Johanssen die jüngsten großen Berliner Krisen, jene von Karl-Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff, sieht er einen deutlichen Trend. „In beiden Fällen nehmen Journalisten weniger Rücksicht auf das politische Amt und die Person dahinter.“ Das Selbstverständnis aus Bonner Tagen – das sich in die Anfänge die Berliner Republik habe retten können –, zwar in der politischen Bewertung hart, mit dem Politiker persönlich aber „respektvoll und schonend“ umzugehen, existiere nicht mehr. „Im Gegenteil: Die Medien versuchen ab einem bestimmten Punkt, einen möglichst schlecht darzustellen. Und zwar so lange, bis man stürzt.“
Allerdings, betont Johanssen, seien Politiker sicher keine Opfer der Zeitläufte. Der Grundsatz, dass sie erst den Fahrstuhl besteigen müssen, der sie später in den Abgrund reißt, stimme immer noch, auch wenn es, gewissermaßen, viel mehr Fahrstühle gebe. Im Talkshow-Hopping fange es an, und im schlimmsten Fall ende es mit einer Homestory im Swimming-Pool, siehe Rudolf Scharping, oder einem Besuch bei Big Brother, siehe Guido Westerwelle. Das seien PR-Katastrophen, deren Ende im Rückblick vorhersehbar erscheine, die aber grundsätzlich nur die zu Ende gedachten Ideen der Politik des Privaten seien. Johanssen: „Die Entscheidung, Journalisten ins Wohnzimmer zu lassen, trifft jeder selbst. Nur sollten sie sich dabei einer Illusion nicht hingeben: dass die Journalisten irgendwann wieder verschwinden.“

Ignoranz hilft nicht

Indem Christian Wulff ein Tattoo auf dem rechten Oberarm seiner Frau zur persönlichen Botschaft erhob, stimmte er selbst den Tonfall an, mit dem später über ihn berichtet werden sollte. Den Anlass für den Skandal bot er freilich mit einer Erklärung vor dem niedersächsischen Landtag, indem er geschäftliche Beziehungen zu seinem Freund Egon Geerkens verneinte. Bauernschlau, möchte man sagen, schließlich musste Wulff damit nicht lügen, konnte die Fragesteller aber trotzdem erst einmal abwimmeln. Ein bitterer Trugschluss.
Klaus-Peter Schmidt-Deguelle fasst es anders zusammen. „Töricht und leichtsinnig“ sei Wulffs Verhalten gewesen. Schmidt-Deguelle war, bevor er 1994 an der Seite Hans Eichels in die Politikberatung ging, lange genug Journalist, um zu wissen, dass der Präsident damit nur eines konnte, nämlich scheitern. „Offenbar glaubte er ernsthaft, dass sich das irgendwie erledigt.“ Selbst als der Springer- und der Spiegel-Verlag im Verbund im Zuge der Recherche Gerichte einschalteten, blieb er bei der alten Bonner Aussitztaktik. „Er hat nicht vom Ende her gedacht, sonst hätte er die Folgen vorausgesehen. Ein Thema stirbt nicht, wenn ich es ignoriere.“
Wulff machte das, was der Intuition eines beim Schummeln ertappten Schülers entspricht. „Dabei wäre das Gegenteil der einzig richtige Weg gewesen“, sagt Schmidt-Deguelle. „Wenn bereits Journalisten recherchieren, dann muss man alles auf den Tisch legen. Die Fragen beantworten, und zwar sofort und ohne auszuweichen. Und die einzige Bitte, die man äußern sollte, ist die nach noch mehr Fragen. Denn die kommen sowieso.“
Eine Reaktion, mit der Journalisten zuverlässig „das Futter genommen würde“, meint der Berater. Sein Tipp, zu Beginn der Krise „klar Schiff“ zu machen, klingt dabei so einleuchtend, wie es wohl verlockend ist, ihn zu ignorieren. Zu keinem anderen Zeitpunkt der Krise erscheint der Schaden, den ein eingestandener Fehler verursacht, so groß wie zu Beginn; zu keinem anderen Zeitpunkt scheint der Preis des kleinen Tricks so gering. Dass später bereitwillig bereut und gestanden wird, und sei es jeder einzelne Fehler, nützt dann wenig. Dann ist aus dem Politiker mit dem Fehler ein Politiker geworden, der laviert und lügt.
Nach allem, was bekannt ist, begriff Christian Wulff, dass es Zeit für Krisen-Intervention ist, als er sich auf dem Weg zu einem Emir befand. Es ging ihm auch in diesem Moment wie den meisten Leidensgenossen, „die die Situation erst begreifen, wenn es schon fast zu spät ist“, sagt Schmidt-Deguelle. Dass Wulff selbst zum Telefon griff und seine Emotionen auf einem Anrufbeantworter verewigte, sei „einfach dumm“. Zwar sei es in einer solchen Situation wichtig, „mit den Medien zu arbeiten“. Allerdings sollten diesen Job Pressesprecher übernehmen. Auch ein Anruf in der Redaktion sei keineswegs Tabu, „aber dann muss man mit handfesten Argumenten kommen und das vor allem in einem ruhigen Ton“.

Das sind Selbstverständlichkeiten. Sie sind so selbstverständlich, dass jeder Politiker, der eine gute Krisenkommunikation vorbereiten will, sich die Hinweise gut sichtbar an seine Bürowand pinnen sollte. Denn wenn es so weit ist, zählt für Betroffene nichts so viel wie ein kühler Kopf – und genau der geht als Erstes verloren. Gabriele Bringer ist Wirtschaftspsychologin, doch der Wutanruf Wulffs erinnert sie eher an ihre Arbeit in der Notfallpsychologie im Berliner Stresszentrum als an Manager-Klienten. Als Wulff von den Recherchen erfuhr, so Bringers Analyse, habe er sich angegriffen gefühlt. Eine grundsätzlich gewöhnliche Reaktion. „Das löst bei allen Menschen Stress aus und damit das instinktive Bedürfnis, zu kämpfen oder zu fliehen.“ Der Verstand „funktioniert nur noch eingeschränkt, man wird im wahrsten Sinne des Wortes ungehalten.“ Bringers Tipp zur krisenpolitischen Erstversorgung: Durchatmen, nicht anrufen, beruhigen, sich beraten. In der Reihenfolge.
Auf sich selbst und die eigene Lagebeurteilung vertrauen ist laut Bringer jedenfalls kein Erfolgsgeheimnis. Je höher die Position, desto geringer die Chance eines klaren Blickes. „Mit steigender Macht sinkt die Zahl der Kritiker im eigenen Umfeld. Das führt schnell zu einem falschen Selbstbild.“ Dieses Ja-Sager-Syndrom ist es, das wahrscheinlich Helmut Kohl verführte, ein Ehrenwort über die Gesetze zu stellen und womöglich den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland in dem Glauben hielt, er sei in seiner Stadt trotz Love-Parade-Katastrophe ein beliebter Politiker. Gegen chronische Selbstüberschätzung allerdings ist wenig zu machen. Die Psychologin Bringer empfiehlt deshalb eine Hilfstechnik: In politischen Krisen sollten Politiker jeden Vorwurf ernst nehmen, auch wenn er ihnen noch so absurd erscheint.
Und dabei müssen sie Haltung bewahren. Es lohnt sich ein Blick über den Atlantik. Dort musste sich vor einigen Jahren Präsident Bill Clinton in wohl einer der meistgesehenen TV-Ansprachen zu Vorwürfen äußern, in denen es im Kern um seine Sexualpraktiken ging. Mit wachem Auge, einem „Ich würde gern, darf aber nicht mehr sagen“-Blick und einer trotz der unmöglichen Situation entspannten Körperhaltung zeigte er, dass er Herr der Lage ist. Ähnlich hielt es Joschka Fischer, als er seine Vergangenheit als Autonomer im Bundestag erklären musste.
Für den Berliner Kommunikations­Coach Karsten Noack ist es kein Zufall, dass beide Politiker über diese Krisen nicht stürzten, „sondern sogar gestärkt rausgingen“. Weil es diese Beispiele zuhauf gibt, leidet Noack gerade besonders unter Wulff, der „mit seiner gebückten Körperhaltung eine Opferrolle einnimmt. Kein Mensch nimmt dem Mann doch jetzt noch ab, dass sein Wort Macht hat.“ Übertreiben sollte man es allerdings nicht. So sei Karl-Theodor zu Guttenberg eher an zuviel Haltung gescheitert. „Das wirkte dann arrogant.“ Es ist eine Gratwanderung: „Politiker müssen sich klar werden, welche Rolle von Ihnen erwartet wird und entsprechend agieren.“ Dass Noack ­Alpha­tieren mehr Chancen einräumt, überrascht dabei kaum.

Kühlen Kopf bewahren

Denn diese Machtmenschen werden die Aufgabe, die plötzlich über sie im Minutentakt hereinbrechenden Fragen der Journalisten zu meistern, am besten lösen. Es ist der Moment, in dem die Krise ihren kritischsten Punkt erreicht. „Grundsätzlich gilt aber auch hier: Man kann alles richtig machen, wenn man überlegt vorgeht.“ Das sagt Thomas Knipp, jahrelang stand er als Chefredakteur an der Spitze des „Handelsblatts“, seit 1994 ist er als Berater bei der Kommunikationsagentur Brunswick.
Knipp empfiehlt Politikern, den psychologischen Rat zur Besonnenheit zu beherzigen und darauf die Krisen-Strategie der ersten Stunde aufzubauen. „Man muss sehr präzise planen und jedes Wort auf die Goldwaage legen.“ Zuerst sei es wichtig, sich mit Beratern zu besprechen und offenzulegen, „was an Fakten noch ausgegraben werden könnte, denn es wird ausgegraben“. Dann schlägt die Stunde der Sprecher und Berater, die auch gerne bei Journalisten anrufen können, wenn sie denn stichhaltige Argumente haben. „Mit eigenen Äußerungen sollte man sich hingegen zurückhalten.“
Das aber wird umso schwerer, je schmutziger die Angriffe sind. Es ist Zeit, über das Internet zu reden; jenes Internet abseits der auch bei Politikern beliebten Social-Media-Netzwerke und den Online-Ablegern der großen Medien. Politiker mit Rang und DSL-Anschluss wissen, was in den Untiefen des Internets alles an Gerüchten über sie verbreitet wird. Auch Christian Wulff weiß es – er musste dafür nicht einmal in Untiefen tauchen. Eine einfache Google-Suche zu Bettina Wulff fördert die waghalsigsten Vermutungen über deren Vorleben zu Tage. So paradox es klingt: Das beruhigt.
Denn nicht die Fülle des Trash-Talks im Netz ist das Verblüffende, sondern der Umstand, dass er im Falle Wulffs bis heute nicht Bestandteil der veröffentlichten Meinung ist. Nach wie vor zählt, ob die Informationen von den großen Medien aufgegriffen werden, sagt Thomas Knipp. „Für den Politiker wird es erst gefährlich, wenn etwas in den Zeitungen steht.“ Ist das Internet also ein Scheinriese, wenn es um Krisenkommunikation geht?
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Doch zunächst einmal stimmt der Experte Jens Seiffert zu. Gerade schreibt Seiffert am PR-Institut der Universität Leipzig seine Doktorarbeit darüber, wie „kommunikative Mechanismen öffentliches Vertrauen“ beeinflussen, besonders berücksichtigt er dabei die Rolle des Internets. Und die ist laut Seiffert zu Beginn einer politischen Krise – eher unbedeutend. Auch beim Sturz des ehemaligen Verteidigungsministers habe das oft genannte Online-Angebot „Guttenplag“ – dort wurde Guttenbergs Doktorarbeit auf nicht gekennzeichnete Zitate hin untersucht – nur eine untergeordnete Rolle gespielt. „Aufgedeckt wurde die Sache zunächst durch einen Rechtsprofessor, der bei der ,Süddeutschen‘ anrief.“ Das Internet wurde erst danach bedeutend: „Es beschleunigte die Berichterstattung.“

Medien sind nicht steuerbar

Seiffert rät deshalb grundsätzlich zu „Gelassenheit“, auch wenn man das Netz nicht ignorieren dürfe. Als „mediales Gedächtnis“ sei es kaum zu überschätzen. Jeder Wutausbruch, jede Lüge bei einer Pressekonferenz, jede unbedachte Wahlkampfäußerung ist mit großer Wahrscheinlichkeit wenige Minuten später als Mini-Film bei Youtube zu finden. Die von allen Kommunikationsberatern empfohlene Sorgfalt wird damit in Krisensituationen umso wichtiger.
Bei allen Regeln, an die sich Politiker in Krisen halten können – es bleibt doch immer ein Spiel mit offenem Ausgang. Einer hofft auf die Ablenkung durch ein großes Fußballturnier, andere rettet ein Hochwasser. Dass selbst mediale Schützenhilfe nicht steuerbar ist, das bewies zuletzt Ex-Minister Guttenberg. Sein Comebackversuch auf dem Rücken des „Zeit“-Chefredakteurs scheiterte, nicht vorerst, sondern auf ganzer Linie. Giovanni di Lorenzo machte dabei eine ähnliche Erfahrung wie Kollegin Schausten: Er blamierte sich und bereute später sogar das Buch zum Interview. Es war nicht die einzige Parallele. Di Lorenzos Panne ist inzwischen kein Thema mehr. Guttenbergs Comeback-Plan hingegen ist erst mal auf unbestimmte Zeit verschoben.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Überleben – Krisenkommunikation für Politiker. Das Heft können Sie hier bestellen.