Bei jeder Bundestagswahl wird mehr als ein Drittel der Abgeordneten ausgetauscht, sie ist insofern Symbol für Abschied und Neuanfang. Während einige Parlamentarier bis zum Wahlabend warten mussten, ob sie auch dem 19. Deutschen Bundestag angehören werden, haben mehr als 80 Abgeordnete im Vorhinein auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Dabei ist auffällig, dass in diesem Jahr viele Politiker aus der ehemals ersten Reihe den Bundestag verließen, die über Jahre die politische Debatte in ihrem Aufgabengebiet geprägt haben.
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Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen
Mit Beck verabschiedet sich die Grüne der ersten Stunde, die alle einstigen Mitstreiter politisch überlebt hat. Als baden-württembergische Landesvorsitzende gehörte sie ab 1983 der ersten grünen Bundestagsfraktion an, wo sie mit Petra Kelly und Otto Schily das Führungstrio bildete. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen war sie seither Bundestagsabgeordnete.
Unter Kanzler Gerhard Schröder war sie von 1998 an Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration und ab 2002 Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesfamilienministerin. Seit 2005 gehörte die Realpolitikerin dem Auswärtigen Ausschuss an, wo sie sich als Fürsprecherin der Bürgerrechtler in Russland sowie der Ukraine einen Namen gemacht hat. Ihre frühe Forderung nach einem Eingriff des Westens in den Bosnienkonflikt oder auch ihr Eintreten für Menschenrechte im Falle des ehemaligen russischen Oligarchen Michail Chodorkowski hat in ihrer Partei nicht jedem gefallen.
Beck macht keinen Hehl daraus, dass sie gerne erneut ins Parlament eingezogen wäre. Ihr linker Landesverband Bremen hatte jedoch andere Pläne. Zusammen mit ihrem Ehemann Ralf Fücks, dem ehemaligen Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, wird sie sich außerhalb des Parlaments weiter für ihre Themen engagieren.
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Jan van Aken, Die Linke
Dafür, dass er bis 2007 mit Parteien nichts am Hut hatte, hat Jan van Aken eine ordentliche politische Karriere bei der Linken hingelegt. Zusammen mit den Abgeordneten Katja Kipping und Thomas Nord gehörte er zu der Riege der Politiker aus der zweiten Reihe, die 2012 nach den Streitereien der Altvorderen Bartsch, Gysi und Lafontaine gestärkt aus dem Göttinger Parteitag hervorgingen. Der Biologe wurde damals stellvertretender Parteichef. Ihm kam zugute, dass er keiner der Strömungen innerhalb der Linken angehörte.
Van Aken zog 2009 über die Hamburger Landesliste in den Bundestag ein. Der ehemalige Greenpeace-Campaigner und Biowaffeninspekteur der Vereinten Nationen wurde direkt Fraktionsvize und begleitete die Arbeit der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss kritisch. Sein Schwerpunkt war das von der Linken geforderte Verbot von Waffenexporten. Als Befürworter der zeitlichen Begrenzung von Mandaten auf maximal acht Jahre zieht er sich 2017 folgerichtig aus dem Bundestag zurück. Außerdem, sagt er, wolle er wieder mehr Lebensqualität gewinnen. Seine Zukunftspläne? „Welt verbessern und Spaß haben.“
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Edelgard Bulmahn, SPD
Seit 1987 saß die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung im Bundestag. Damit ist sie die Abgeordnete mit der längsten Parlamentszugehörigkeit. „Nie aufgeben und Chancen ergreifen“, lautet ihr Lebensmotto. Nach elf Jahren Opposition, in denen sich die Studienrätin als Bildungspolitikerin profiliert hatte, ergriff sie mit dem Regierungswechsel hin zu Rot-Grün die Chance, die Forschungs- und Bildungspolitik nachhaltig zu prägen: Mit dem Ganztagsschulprogramm, dem Pakt für Forschung und Innovation, der Einführung der Juniorprofessur, der Bafög-Reform sowie der Exzellenzinitiative für Spitzenuniversitäten hat sie Projekte auf den Weg gebracht, die bis heute nachwirken.
Nach der Bundestagswahl 2013 hatte Bulmahn ihren Hut in den Ring geworfen, um Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags zu werden. Mit Ulla Schmidt setzte sie sich in der SPD-Bundestagsfraktion gegen zwei weitere Kandidaten durch. In dieser Funktion hat sie ihre Aktivitäten in den Gebieten der zivilen Krisenprävention und des Krisenmanagements intensiviert, in denen sie sich seit Beginn ihrer Mitgliedschaft im Auswärtigen Ausschuss 2009 fokussiert hatte.
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Gerda Hasselfeldt, CSU
Die gebürtige Niederbayerin rückte 1987 für Franz Josef Strauß in den Bundestag nach, nur zwei Jahre später machte Helmut Kohl sie zur Bundesbauministerin. Durch die Wiedervereinigung entwickelte sich das Ressort zu einem der spannendsten der damaligen Zeit. Doch nach der Bundestagswahl 1990 musste sie ihr Ministerium für die FDP räumen. Kohl versetzte sie ins Gesundheitsressort. Aus gesundheitlichen Gründen trat die Bayerin nur ein Jahr später zurück. Nach diesem Karriereknick arbeitete sich Hasselfeldt über die Stationen finanzpolitische Sprecherin (1995), stellvertretende Fraktionsvorsitzende (2002) und Bundestagsvizepräsidentin (2005) wieder nach oben.
Seit 2011 übt sie als CSU-Landesgruppenchefin eines der kompliziertesten und einflussreichsten Ämter im politischen Berlin aus. Mit ihrer sachlich-pragmatischen Art fungiert sie sehr gut als Bindeglied zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer.
Die erfahrene Politikerin bildet das Zentrum einer politischen Familie. Ihr Sohn war Bürgermeister, ihr Bruder Alois Rainer ist und ihr Vater und ihr Ehemann in zweiter Ehe waren Bundestagsabgeordnete – alle für die CSU.
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Franz Josef Jung, CDU
Der ehemalige Bundesverteidigungsminister ist das Stehaufmännchen der CDU. Als Bauernopfer musste er wegen der CDU-Spendenaffäre als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der hessischen Staatskanzlei zurücktreten. Drei Jahre später führte er als Vorsitzender die hessische CDU-Landtagsfraktion. Mit der Bundestagswahl 2005 wechselte er nach Berlin, wo er direkt das Amt des Verteidigungsministers übernahm. Vier Jahre später berief ihn Kanzlerin Angela Merkel zum Bundesarbeitsminister, bevor er einen Monat später wegen der Kundus-Affäre zurücktreten musste. Seit 2013 war er wieder stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Zudem sitzt der enge Freund von Roland Koch seit 1998 im Bundesvorstand der CDU.
Obwohl ihm die Zeit als Verteidigungsminister und der Einsatz für die Soldaten sichtbar viel bedeuten, sieht er seinen größten Erfolg auf einem ganz anderen Gebiet: dem „Mitwirken im Zusammenhang mit der deutschen Einheit“. So war er maßgeblich an der Gründung der Allianz für Deutschland beteiligt, die 1990 ein Garant für den Wahlerfolg von Helmut Kohl war. Geradezu gefürchtet war der Fan von Fußball-Bundesligist Eintracht Frankfurt zudem als Linksaußen des FC Bundestag.
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Heinz Riesenhuber, CDU
Seit mittlerweile 41 Jahren prägt der „Bundestagsdino“ Heinz Riesenhuber die Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik des Landes. Von 1982 an war er im Kabinett von Helmut Kohl elf Jahre lang Bundesminister für Forschung und Technologie, bevor er 1993 aus Proporzgründen sein Amt abgeben musste. In den vergangenen beiden Legislaturperioden eröffnete Riesenhuber als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Bundestags. Seine ruhige und sachliche Art wird nicht nur in den eigenen Reihen geschätzt. Für seinen Bundestagskollegen Mark Hauptmann hat er „als Präsident der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft dem Hohen Haus Würde, Geschmack und überparteiliche Akzeptanz verliehen“.
Bis heute gönnt sich Riesenhuber jedes Jahr eine einwöchige Auszeit in einem Benediktinerkloster, wo er die Ruhe und Abgeschiedenheit genießt. Sein Markenzeichen wurde die Fliege. Bei der Bundestagswahl 2013 ließ er nur dieses Accessoire plakatieren und holte mit mehr als 52 Prozent das beste Wahlergebnis seiner Karriere.
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Kristina Schröder, CDU
Mit ihren 40 Jahren ist die ehemalige Familienministerin bereits Elder Stateswoman. Als Nachfolgerin von Martin Hohmann kam sie in den Innenausschuss, was sich aus zwei Gründen „als ein echter Glücksfall“ erwies, wie sie selbst sagt: Zum einen konnte sie mit dem Islam eines ihrer großen Themen bearbeiten, zum anderen lernte sie dort ihren heutigen Mann, Innenstaatssekretär Ole Schröder, besser kennen. Beide verlassen nun nach 15 Jahren das Parlament, um außerhalb beruflich durchzustarten.
Zu ihren größten Erfolgen zählt Schröder, die als erste Frau im Ministeramt Mutter wurde, die Umsetzung des Kita-Ausbaus mit dem Rechtsanspruch und die Einführung des Bundesfreiwilligendiensts. Die Unionspolitikerin vom liberal-konservativen Flügel schätzt die FDP und hat sich in den vergangenen Jahren stark in der „Kartoffelküche“, dem schwarz-gelben Gesprächskreis, engagiert. Weiterhin ist sie eine der Initiatorinnen der fraktionsübergreifenden Initiative „Eltern in der Politik“, die sich beispielsweise für den politikfreien Sonntag einsetzt.
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Brigitte Zypries, SPD
„Machen“ lautet das Motto der sachlich auftretenden und nüchtern wirkenden Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries. In ihrem Berufs- und Politikleben hat sie einiges gemacht: Nach Stationen in der Hessischen Staatskanzlei und beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts holte sie der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder 1991 als Referatsleiterin in die Staatskanzlei. Sechs Jahre später wurde sie Staatssekretärin im niedersächsischen Arbeitsministerium. Mit dem Start von Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder wechselte Zypries 1998 als beamtete Staatssekretärin ins Bundesinnenministerium. Dort koordinierte sie 2002 nach der Hochwasserkatastrophe die Fluthilfe der Bundesregierung. Noch im selben Jahr holte Schröder sie als Bundesjustizministerin ins Kabinett.
Den Wechsel in die Politik vollzog die profilierte Juristin erst spät. Der SPD gehört sie seit 1991, dem Bundestag seit 2005 an. Den Wahlkreis Darmstadt holte sie drei Mal direkt, 2009 betrug der Vorsprung jedoch weniger als 100 Stimmen. 2013 ging sie unter Sigmar Gabriel als Parlamentarische Staatssekretärin ins Wirtschaftsministerium, Anfang dieses Jahres wurde sie nach seinem Wechsel ins Auswärtige Amt selbst Ministerin. Das Amt macht ihr sichtlich Spaß, auch wenn sie sich darauf freut, ab Herbst ihr letztes Lebensdrittel „selbstbestimmt gestalten zu können“.
Abgeordnete kommen, Abgeordnete gehen. Lücken werden gerissen, Lücken werden geschlossen. Dennoch gibt es 2017 drei Zäsuren, die bemerkenswert sind: Mit Marieluise Beck tritt die letzte Abgeordnete der ersten Stunde der Grünen ab, zudem verliert die kleine Fraktion mit Tom Koenigs ihren zweiten Menschenrechtspolitiker. Bei der Union scheiden mit Clemens Binninger, Wolfgang Bosbach und Hans-Peter Uhl drei der profiliertesten Innenpolitiker aus. Für die SPD endet die Ära Schröder. Wahlen bedeuten Selektion, bringen Veränderung. Betroffene, Beteiligte und Beobachter dürfen gespannt sein, wie ihre Nachfolger im Parlament ihre Ämter ausgestalten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 120 – Thema: Die ersten 100 Tage nach der Bundestagswahl. Das Heft können Sie hier bestellen.