„Wer schweigen und in sich kehren will, tut das am besten in einem Kloster“, schrieb die „Basler Zeitung“ im April. In der Politik sei ein Schweigegelübde fehl am Platz. Abgelegt hatte das die neue Regierungspräsidentin der Stadt, Elisabeth Ackermann. Sie hatte nach der Wahl 100 Tage lang keine Interviews gegeben, um sich in Ruhe einzuarbeiten. 100 Tage lang herrschte Funkstille – zum Ärger der Medien. „Ein Regierungsrat ist vom Stimmvolk gewählt mit dem Auftrag, vom ersten Tag an zu regieren“, hieß es in der Zeitung. Die Schonfrist, die Ackermann für sich beanspruchte, gibt es nicht.
Das Medieninteresse an Amtsträgern ist selten so groß wie zu Beginn. Agenda, Ziele, Akzente: All das wird erfragt und ausgerollt. Wer nicht fachfremd wechselt, kennt die Branche, wer berufserfahren ist, das Metier, und wer sich wählen lässt, hat ohnehin zu Wahlkampfzeiten Ziele formuliert. Schon wenige Tage nach der Vereidigung stellen sich Regierungsvertreter den Fragen der Medien.
Dass das einmal anders war, geht auf US-Präsident Franklin D. Roosevelt zurück: 1933 kündigte er Reformen an, mit denen er die Wirtschaftskrise bewältigen wollte und bat Medien um 100 Tage Zeit, um die Wirkung des „New Deals“ zu beurteilen. Bilanziert wird bis heute – ob in der Politik, Wirtschaft oder Kultur. In Washington gibt es zum Ende der 100-Tage-Frist das „White House Correspondents’ Dinner“, bei dem Hauptstadtpresse, Präsident und ein Comedian humorvoll auf die ersten Tage im Amt zurückblicken. Donald Trump hat das Dinner als erster Präsident seit Jahrzehnten geschwänzt und seine eigene Bilanz vor Anhängern in Pennsylvania inszeniert. Außer Roosevelt habe kein Präsident so viele Gesetze auf den Weg gebracht wie er, sagte er – mit den Fakten hatte das wenig zu tun.
100 Tage sind ein symbolischer Anlass für jedwede Eigen-PR. Mit einer Schonfrist haben sie wenig zu tun – auch, weil Politiker sie nicht beanspruchen. Anthony Scaramucci überlebte nur zehn Tage im Amt, weil er als Kommunikationschef des Weißen Hauses in einem fragwürdigen Interview über Kollegen herzog. Karl-Theodor zu Guttenberg erntete Spott, weil er sich nach nur einem Monat als Bundeswirtschaftsminister mit großer Geste am Times Square ablichten ließ. Emmanuel Macron bestellte eineinhalb Monate nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten die gesamte Nationalversammlung und den Senat ins Schloss Versailles, um die Leitlinien für seine Amtszeit zu präsentieren – zu viel Show, zu wenig Substanz, befanden Opposition und Medien.
Die größte Versuchung für neue Amtsinhaber scheint das eigene Ego zu sein. Um mit Inhalten zu glänzen, präsentieren Politiker gerne ein 100-Tage-Programm, wohlwissend, dass ein solches nur eine Absichtserklärung sein kann und man in so kurzer Zeit wenig erreicht. Daran ändert auch ein „120-Tage-Programm“ nichts, wie es Katja Kipping und Bernd Riexinger für die Linkspartei formulierten und später titelten „120 Tage und kein Ende, die Linke baut sich weiter auf“.
Auch wenn eine Zehn-Punkte-Agenda und ein Programm zum Start progressiv klingen, braucht Politik Zeit. Debatten in Partei, Fraktion, Koalition, Parlament und mit Interessengruppen dauern. Norbert Lammert kritisierte schon unter Schwarz-Gelb die Eile, mit der Gesetze durch das Parlament gepeitscht würden. Das Rennen um schnelle Erfolge gehe auf Kosten der Demokratie, beklagen auch Verbände in Berlin, denen teils nur wenige Tage für eine Stellungnahme eingeräumt werden – dem Zeitdruck einer Bilanz sei Dank.
Einarbeitung unter Beobachtung
Signale oder Substanz: Die Kunst besteht darin, eine Balance zum Anfang zu finden. Das gilt nicht nur für Politiker, sondern für alle, die in eine leitende Position wechseln. Wer die Führung eines Teams oder einer ganzen Organisation übernimmt, muss für Mitarbeiter schnell greifbar sein, führen und sich parallel einarbeiten. Ab einer bestimmten Ebene startet niemand bei null, Erfahrung und Expertise werden vorausgesetzt. Die Vorbereitung beginnt schon mit dem Bewerbungsprozess, wer am ersten Tag antritt, hat sich im besten Fall mit allen Themen, Personen und Konflikten vertraut gemacht. Die neue Kultur und die internen Prozesse muss man kennen lernen, ob es um das Bestellen von Visitenkarten oder den Umgang mit Feedback geht. Im Schnitt drei Monate benötigen Mitarbeiter laut einer kanadischen Studie, um sich in einem neuen Umfeld zu orientieren – das sind fast 100 Tage.
Ein Lobbyist eines US-amerikanischen Digitalkonzerns berichtet, wie er als erster deutscher Ansprechpartner in Berlin anfing – mitten in der Debatte um Datenschutz und Safe Harbor. Als der Europäische Gerichtshof die Grundlage für einen Datenaustausch zwischen den Servern in den USA und Europa kippte, war seine Schonfrist als Lobbyist schnell vorbei. Fachlich fühlte er sich gut vorbereitet, doch würde er sich rückwirkend weniger auferlegen, um sich besser einzuarbeiten. „Man muss sich im Sinne des Unternehmens zügeln, um erst einmal anzukommen“, sagt er.
Ganze sechs Monate lang zügelte sich Jörg Eigendorf, zuvor Journalist bei der „Welt“, als neuer Kommunikationsleiter der Deutschen Bank, indem er sich ein „Twitter-Sabbatical“ verordnete. „Es ist schwer, doch in Kombination mit einem Jobwechsel geht das“, schrieb er.
Den Luxus, sich unbeobachtet einzugewöhnen, haben Politiker nicht. Als Guido Westerwelle nach der Bundestagswahl 2009 auf die englische Frage eines BBC-Journalisten antwortete, dass er in Deutschland sei und gedenke Deutsch zu sprechen, war das für den Vorsitzenden einer Partei vielleicht okay, aber nicht für den designierten Außenminister. Als Ursula von der Leyen bei ihrem Auftritt als neue Bundesverteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 hingegen Englisch sprach, bekam sie vom Verein Deutsche Sprache die Auszeichnung zum „Sprachpanscher des Jahres“ – es habe ja genug Übersetzer gegeben, so die Begründung.
Man kann, so scheint es, in den ersten 100 Tagen im neuen Job vieles falsch machen und nicht allen Ansprüchen gerecht werden. Doch in einem sind sich alle Seiten einig: Schweigen wie 1933 Franklin D. Roosevelt, das funktioniert heute nicht mehr.
Fünf Tipps zum Start: So überlebt man die ersten 100 Tage
- Lesen: Lesen Sie sich Hintergrundwissen an und abonnieren Sie Newsletter über die Branche, die Organisation und das politische Umfeld. Stöbern Sie in den sozialen Medien – aber vernetzen Sie sich erst mit Mitarbeitern, wenn Ihr Wechsel öffentlich bekannt ist.
- Fragen: Sprechen Sie mit Mitarbeitern und fragen Sie gezielt nach internen Prozessen, Regeln und Erwartungen. Sie müssen nicht alles wissen: Nehmen Sie sich die Zeit zuzuhören und bauen Sie auf dem Wissen und den Erfahrungen anderer auf.
- Respektieren: Seien Sie höflich, stellen Sie sich vor und lästern Sie nicht über andere, auch nicht über Vorgänger und Chefs. Versuchen Sie nicht, alles gleich umzukrempeln, sondern knüpfen Sie an dem an, was gut funktioniert – auch an den Erfolgen ihrer Vorgänger.
- Lernen: Vernetzen Sie sich mit anderen in der Organisation, holen Sie sich Feedback ein suchen Sie sich einen internen Mentor. Auch wenn der Mentor fachfremd ist, kann er Ihnen helfen, sich besser in die neue Kultur einzugewöhnen.
- Glänzen: Setzen Sie sich nicht zu sehr unter Druck und suchen Sie sich ein Thema, das sich schnell im Team umsetzen lässt. So können nicht nur Sie, sondern auch Ihre Mitarbeiter glänzen – das stärkt den Zusammenhalt.
Lesen Sie im zweiten Teil unserer Serie: Mit schwierigen Anfängen kennt sich der ehemalige liberale Vizekanzler Philipp Rösler aus. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 120 – Thema: Die ersten 100 Tage nach der Bundestagswahl. Das Heft können Sie hier bestellen.