Das Lob kam aus berufenem Munde. Im Umgang mit Lobbyisten und ihren kommerziellen Interessen sei Brüssel wesentlich weiter als Berlin, konstatierte Transparency International (TI) in einer im April veröffentlichten Studie. Während die EU-Kommission „positive Änderungen“ eingeleitet habe und sich „proaktiv“ um Transparenz bemühe, sei Deutschland immer noch ein Paradies für heimliche Einflüsterer aus der Industrie.
Auf den ersten Blick ist dies überraschend. Schließlich macht die EU immer wieder durch massives Lobbying – etwa beim geplanten Freihandelsabkommen TTIP – und durch handfeste Skandale von sich reden. Beispiel „Dalligate“: Gesundheitskommissar John Dalli musste 2012 nach umstrittenen Kontakten zur Tabakindustrie sogar seinen Sessel räumen. Auch mehrere Europaabgeordnete mussten abtreten, nachdem sie sich von Lobbyisten einspannen ließen.
Und dennoch: Im Umgang mit den schätzungsweise 15.000 Industrie- und Verbandsvertretern, die Brüssel zum zweitgrößten Lobbyplatz nach Washington machen, hat die EU einige Fortschritte gemacht. Dies liegt vor allem am Transparenzregister, das 2011 eingeführt wurde. Nach einem schleppenden Start sind dort inzwischen 8.216 Firmen und Organisationen registriert, EU-Kommission und Europaparlament nutzen das Register für ihre Arbeit. Nur der Ministerrat, die dritte große EU-Institution, ziert sich noch. Allerdings ist der Rat als Vertretung der 28 Mitgliedsländer ohnehin nicht die erste Adresse für kommerzielle Einflüsterer. Viel wichtiger ist es, zu wissen, welche Interessenvertreter zur Kommission Zugang haben, wo die EU-Gesetze vorbereitet werden. Spannend ist auch die Frage, wer den Europaabgeordneten „beratend“ zur Seite steht und lukrative Änderungsanträge suggeriert.
Über diese und andere Fragen gibt das Register tatsächlich Auskunft – wenn auch nur allgemein, nicht in konkreten Einzelfällen. So erfährt man, dass 595 Beratungsfirmen, 93 Anwaltskanzleien und 275 selbstständige Berater in der EU-Gesetzgebung mitmischen, in welchen Beratergruppen sie aktiv sind und wie viel Geld sie ins Lobbying investieren. Aus den öffentlich zugänglichen Daten lassen sich auch grobe Statistiken und Rankings ableiten.
Allerdings ist die Aussagekraft dieser Daten begrenzt. Denn zum einen sind sie nicht vollständig – da kein Zwang zur Registrierung besteht, bleiben sogar große Player wie die City of London Corporation außen vor. Zum anderen unterliegen die Angaben keiner unabhängigen Kontrolle. „Nicht einmal Plausibilitäts-Checks werden regelmäßig durchgeführt“, kritisiert Nina Katzemich von Lobbycontrol. Auch Transparency International kritisierte in einem im September veröffentlichten Report, dass rund die Hälfte der Angaben im Transparenzregister fehlerhaft oder unvollständig seien. Das führt immer wieder zu Ärger und Verwirrung.
Besonders eklatant war der Fall Goldman Sachs. Nach Beschwerden von Lobbycontrol musste die US-Investmentbank ihre Angaben stark nach oben korrigieren. Statt 50.000 Euro, wie noch 2013 angegeben, nennen die Amerikaner nun plötzlich für 2014 ein Budget von bis zu 799.999 Euro, also 16-mal so viel wie zuvor. Die US-Bank erklärt diesen Sprung vor allem damit, 2014 ein neues Büro in Brüssel eröffnet zu haben.
Doch die Angaben sind immer noch niedrig, wenn man sie zum Beispiel mit der Deutschen Bank vergleicht. Die Frankfurter meldeten 2013 schon zwei Millionen Euro für PR und Lobbyismus, 2014 waren es sogar vier Millionen. „Das jetzige EU-Lobbyregister ist ein zahnloser Tiger“, kritisiert Katzemich. Die EU-Kommission müsse endlich ihr Versprechen wahr machen und ein verbindliches Verzeichnis einführen. „Die Vorbereitungen laufen“, heißt es dazu vage in der Behörde – wann es so weit ist, bleibt offen.
Für ein verbindliches, mit Sanktionen bewehrtes Register setzt sich auch Transparency International ein. Allerdings ist Brüssel nach Ansicht der Experten schon jetzt weiter als Berlin, wo es noch gar kein Lobby-Verzeichnis gibt. Positiv sei vor allem die klare und weite Lobbyismus-Definition, heißt es in der TI-Studie. Gelobt wird außerdem, dass die EU-Kommission neuerdings alle Treffen mit Industrie-Vertretern dokumentiert.
Ähnlich geht das Europaparlament vor, das sich sogar für einen „legislativen Fußabdruck“ einsetzt – also ein Verzeichnis aller Interessenvertreter, die an einem EU-Gesetz beteiligt waren. Wenn die EU so weitermache, könne sich in Brüssel eine „Kultur der Transparenz“ entwickeln, hofft Transparency International.
Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. So hat die EU-Kommission den Zugang zu Dokumenten über das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP gerade erst eingeschränkt.Vor allem in Berlin seien zu viele vertrauliche TTIP-Dokumente geleakt, also an die Presse durchgestochen worden, heißt es zur Begründung. Das zeigt die Grenzen des Brüsseler Registers: Dort werden zwar Namen und Adressen von Lobbyisten gespeichert. Doch welche Ziele die Interessenvertreter im Einzelnen verfolgen und welche Dokumente sie produzieren, bleibt meist im Dunkeln.
Vor allem die Aktivitäten der Chemie- und Pharmabranche in Sachen TTIP sind heftig umstritten – und immer noch schwer durchschaubar. Selbst Europaabgeordneten wird der freie Zugang zu TTIP-Dokumenten verweigert. Dabei hatte Handelskommissarin Cecilia Malmström mehr Transparenz versprochen. „Wir tappen genauso im Dunkeln wie die meisten Bürger“, klagt EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne).
Zudem ändert Transparenz nichts an der EU-typischen Dominanz von Industrie-Interessen. So lässt sich die Kommission bei der Vorbereitung von Gesetzen weiterhin am liebsten von Industrievertretern beraten. Drei Viertel der Treffen mit externen Experten fand mit großen Konzernen wie Google oder mit Arbeitgeberverbänden wie Business Europe statt, meldete Transparency International nach einer Analyse von 4318 Meetings. „Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen dem Geld, das Sie ausgeben, und der Zahl der Treffen, die Sie bekommen“, sagt TI-Experte Daniel Freund. Firmen mit großen PR-Budgets und mit Interessen in der Energie-, Finanz- oder Digital-Wirtschaft hätten deutlich größere Chancen, von EU-Kommissaren und deren Beratern gehört zu werden als Vertreter der Zivilgesellschaft.
Dies gilt auch für Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Wie man auf seiner Webseite nachlesen kann, pflegt der CDU-Politiker vor allem Industriekontakte mit Firmen wie der Deutschen Telekom oder Microsoft. Dagegen lassen sich Treffen mit nichtkommerziellen Organisationen wie dem Bundesjugendring oder der Verbraucherzentrale an einer Hand abzählen.
Immerhin kann man dies in Brüssel nachprüfen – dank dem EU-Register. In Berlin hingegen könnte Oettinger viel freier schalten und walten. Ohne lästige Kontrolle.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation III/2015 Geld. Das Heft können Sie hier bestellen.