Die Blackbox

Nein, besonders beliebt ist dieses Amt nicht. „Der Gesundheitsminister hat immer die Torte im Gesicht“, fasste die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Widrigkeiten des Amts einmal zusammen. Schmidt muss es wissen: Denn so lange wie sie, immerhin neun Jahre, hielt es bisher noch niemand im 1961 gegründeten Ministerium aus. Das Ressort gilt als das unattraktivste im Kabinett – entsprechend hoch ist auch die Fluktuation an der Spitze des Hauses. Philipp Rösler wollte nach eigenem Bekunden dieses Amt nie haben und auch sein Nachfolger Daniel Bahr dürfte schon gemerkt haben, dass man mit Gesundheitspolitik Wah-len nicht gewinnen, sondern nur verlieren kann. Doch: Weshalb ist dieses Politikfeld ein so schwieriges Terrain?

Deutsche Spezifika

Nils Bandelow, Politologe an der TU Braunschweig und Experte für Gesundheitspolitik, macht insbesondere drei Faktoren für die Komplexität des deutschen Gesundheitswesens verantwortlich. Erstens stecke hinter der Branche ein enorme Wirtschaftskraft: „Es geht bei jeder Entscheidung um furchtbar viel Geld.“ Der Gesundheitssektor ist mit einem Marktvolumen von 260 Milliarden Euro der größte Wirtschaftszweig in Deutschland; rund 4,5 Millionen Menschen, also jeder zehnte Erwerbstätige, arbeitet in der Branche. Klar, dass hier viele Interessen mitreden wollen.
Doch nicht nur wirtschaftliche Aspekte spielen eine Rolle: Gesundheit, „das höchste Gut“, ist ein sehr sensibles und emotionales Thema, denn – ,so Bandelow, „mit Leben und Tod hat nun mal jeder zu tun.“ Jeder, das sind fast 82 Millionen Bundesbürger.
Last but not least ist das Gesundheitswesen in Deutschland durch eine lange, spezifische Tradition gekennzeichnet. Wenn man sich mit Gesundheitspolitik näher beschäftigt, stolpert man unausweichlich über den alten Bismarck. Der Reichskanzler erfand 1883 die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), über die heute knapp 70 Millionen Deutsche versichert sind. Die GKV ist eine beitragsfinanzierte Pflichtversicherung für Arbeitnehmer. Jedoch nicht für alle: Beamte, Selbstständige und Beschäftigte, die eine jährliche Einkommensgrenze von 50.850 Euro überschreiten, können sich privat versichern. Dadurch existiert ein Dualismus von Versicherungssystemen, der weltweit in dieser Form einzigartig ist. Selbstverwaltung und Korporatismus kennzeichnen das System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutsch-land. Mit anderen Worten: Verbände und Körperschafen wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband entscheiden maßgeblich in Eigenverantwortung über zentrale Fragen der Gesundheitspolitik.

GBA als wichtigstes Gremium

Hauptakteur ist der seit 2004 bestehende Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Ein Gremium mit enormen Einfluss, das der Öffentlichkeit jedoch weitgehend unbekannt ist. Im GBA verhandeln die Krankenkassen mit den Leistungserbringern, Ärzte- und Krankenhausvertretern, welche Medikamente, Therapien und Hilfsmittel durch die gesetzliche Krankenversicherung erstattet werden. Die vom GBA beschlossenen Richtlinien haben in der GKV eine hohe rechtliche Verbindlichkeit. Für viele ist der GBA deshalb das wichtigste Gremium im deutschen Gesundheitswesen, wichtiger als das Gesundheitsministerium. Als unparteiischer Vorsitzender steht dem Gremium seit Kurzem Josef Hecken vor, der zuletzt Staatssekretär im Familienministerium war und als Merkel-Vertrauter gilt.
Im GBA stellt der 2007 gegründete GKV-Spitzenverband die meisten Mitglieder. Dem GKV gehören alle gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland an, inklusive der großen Player wie AOK und Barmer GEK. Dass es bei einem so großen Verband wie dem GKV mitunter schwierig ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, bestätigt Michael Weller, Leiter Politik beim GKV: „Aufgrund der Heterogenität unsere Mitglieder, ist es hin und wieder schwierig, eine einheitliche Position zu finden.“ Dies gelte insbesondere für Themen mit Wettbewerbswirkungen zwischen den Krankenkassen. Weller verweist jedoch auch auf das starke Gewicht der Stimme seines Verbands bei der Politik.
Die Leitstungserbringer im Gesundheitswesen werden im GBA von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Kranken­hausgesellschaft vertreten. Darüber hinaus sind vor allem die Bundesärztekammer mit ihrem mediengewandten Vorsitzenden Frank Ulrich Montgomery und der Marburger Bund, als Fachgewerkschaft für Mediziner, einflussreiche Akteure im Bereich der Ärzteschaft. Ähnlich wie beim GKV-Spitzenverband leiden auch die großen Ärztevereinigungen an der Heterogenität ihrer Mitglieder. Dies führte in den vergangenen Jahren zu einer tendenziellen Stärkung kleiner Verbände wie dem Hausärzteverband. Auch gefährden interne Konflikte zwischen Haus- und Fachärzten die Geschlossenheit der Ärzteschaft.

Patienten mit schwacher Lobby

Die Gruppe allerdings, derentwegen das ganze System überhaupt geschaffen wurde, die Patienten, besitzt kaum Mitspracherechte. Ihre Interessen zu vertreten, beanspruchen so ziemlich alle Parteien im Gesundheitswesen, insbesondere die Krankenkassen – freilich wenig glaubhaft. Für Franz Knieps, Partner bei der Unternehmensberatung Wiese-Consult und jahrelang die „rechte Hand“ von Ulla Schmidt im Gesundheitsministerium, „ist es offensichtlich, dass es bei allen Interessenwahrnehmungen im Gesundheitswesen primär um Macht und Geld und bestensfalls sekundär um das Wohl der Patienten geht“.
Im GBA besitzen derzeit vier Patientenvertretungen ein sogenanntes Mitberatungs- und Antragsrecht: der Deutsche Behindertenrat, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen und die Verbraucherzentrale Bundesverband. Stimmrechte besitzen die Patientenorganisationen allerdings nicht. Susanne Mauersberg, Referentin Gesundheitspolitik beim Verbraucherzentrale Bundesverband, meint, längerfristig müsse es darauf hinauslaufen, dass sie zumindest in Verfahrensfragen ein Stimmrecht bekämen. „Wichtiger aber wäre für uns, einen Unparteiischen benennen zu dürfen, der in der Öffentlichkeit mit den Patientenanliegen identifiziert wird.“ Die Politik hat in den vergangenen Jahren versucht, die Patientenrechte zu stärken: Dies zeigt nicht zuletzt das 2004 geschaffene Amt des Patientenbeauftragten der Bundesregierung (derzeit: Wolfgang Zöller, CSU). Dennoch sind die Einflussmöglichkeiten der Patienten im deutschen Gesundheitswesen sehr gering – zu heterogen und finanzschwach sind ihre Vertreter.

 

Zerstrittene Pharmaindustrie

Die Pharmaindustrie wird in der Regel als besonders einflussreich und skrupellos beschrieben: Deren Lobbyisten halten sich nicht mit den normalen MdBs auf, sondern fahren direkt im Kanzleramt vor, so die Erzählungen. Mehr Mythos als Realität. Denn in Wirklichkeit ist der Einfluss der pharmazeutischen Industrie schon länger rückläufig. Genauer gesagt, seit 1994: In diesem Jahr verließen zahlreiche forschende pharmazeutische Unternehmen den einst so mächtigen Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Ihnen folgten die Generika-Hersteller. Zwei Drittel der Mitgliedsbeiträge brachen dadurch weg. Neben dem BPI existieren heute sechs weitere Verbände, von denen der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) und Pro Generika die Hauptkonkurrenten des BPI sind.
„Die Verbände der Pharmaindustrie sind erschreckend schwach“, so Franz Knieps. Hinzu käme, so der Gesundheitsexperte, dass große Pharmaunternehmen wie Pfizer oder Bayer ihre eigenen Büros in Berlin unterhielten und den direkten Kontakt zur Politik suchten. Dies räumt auch Sebastian Hofmann, Leiter Gesundheitspolitik beim BPI, ein: „In unserer Branche besteht eine Tendenz zu einem eigenständigen Lobbying von Unternehmen und Verbänden, diese Konkurrenz in der Meinungsbildung kann zu einem Problem werden.“ Vor allem dann, wenn sich einzelne Unternehmen gegenüber der Politik konträr zu Verbandsmeinungen äußern. Wer dachte, durch die schwarz-gelbe Regierung kämen wieder bessere Zeiten auf die Branche zu, der irrte: Das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts (Amnog) wird gemeinhin als große Niederlage für die Branche gewertet. Seitdem müssen die Pharmahersteller die Preise von neuen Medikamenten mit den Kassen verhandeln.

Privilegierte Apotheker

Wer lobbyiert im Gesundheitswesen am erfolgreichsten? Für viele Branchenkenner sind dies die Apotheker, die sich in der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) organisieren. Anzeichen hierfür: Die Apotheker besitzen nach wie vor zahlreiche Privilegien, hierzu gehören die Ständeordnung und der geringe Wettbewerb im Apothekenwesen. Außerdem profitieren sie von hohen Vertrauenswerten in der Bevölkerung. Dies trägt auch dazu bei, dass die Politik nur sehr zögerlich die Privilegien der Apotheken beschneidet.

Reformdiskussion

Eine zentrale Frage beherrscht die Diskussionen im deutschen Gesundheitswesen: Brauchen wir eine grundlegende Reform? Jürgen Wasem, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, verweist im p&k-Interview darauf, dass die Statisti-ken zum deutschen Gesundheitssystem Besserung aufzeigen. Seiner Meinung nach, solle man sich auch von der Vorstellung befreien, dass es durch eine Reform den großen Befreiungsschlag gäbe. Reformprozesse seien „kleinteiliges Engineering“, so Wasem.
Es mehren sich jedoch die Stimmen, die den Dualismus von GKV und PKV als Auslaufmodell sehen. Die Forderungen nach einem einheitlichen Versicherungsmodell werden immer lauter. Kommt es nach der Bundestagswahl 2013 zu einer rot-grünen Regierung, so dürfte der Einführung der Bürgerversicherung nichts mehr im Wege stehen, dies zumindest hat SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles angekündigt. De facto wäre dies das Aus für die private Krankenversicherung.
Einig sind sich die meisten Gesundheitsexperten, dass die Patienten künftig einen noch größeren Beitrag zur Finanzierung des Gesundheitswesens leisten müssen. Die demografische Entwicklung in Deutschland – die Alterung der Gesellschaft – spricht hier eine klare Sprache. Sie führt auch zu einem erhöhten Bedarf an medizinischem Personal. Diese Berufe attraktiver zu machen – etwa durch einen höheren Mindestlohn in der Pflegebranche – ist daher eine dringende Aufgabe der Politik.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Minilobbyisten – Kleinstverbände im Porträt. Das Heft können Sie hier bestellen.