"Das unterschreibe ich mit Blut"

Politik

Ein tragischer Zufall hatte es so gewollt. Kurz vor seinem großen Auftritt waren innerhalb weniger Tage zwei seiner Vorgänger als Parteivorsitzende gestorben, und nun musste Christian Lindner zum Auftakt des FDP-Parteitags im April in Berlin die Totenehrung für sie vornehmen: Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle, beide auf  sehr unterschiedliche Weise Giganten der liberalen Parteigeschichte. Minutenlang dominierten ihre Schwarz-Weiß-Fotos auf den Monitoren den Saal, und jedem der 660 Delegierten musste dabei noch einmal klar werden, in welch großen Schuhen der junge Vorsitzende gehen muss.

Die Erwartungen sind hoch an diesem Tag. Lange haben sich die Medien nicht mehr für die Liberalen interessiert, hatte die FDP größte Schwierigkeiten, überhaupt noch wahrgenommen zu werden. 2013 aus dem Bundestag geflogen, bei der Europawahl ein Jahr später mit 3,4 Prozent so abgeschmiert, dass die “FAZ” davon sprach, die Liberalen seien “auf dem Weg zur Splitterpartei”.

Auftritt Christian Lindner. Die Rede. Er spricht eine Stunde und 18 Minuten, stellt fest, dass aus “Desinteresse wieder Neugier” geworden sei, dass aus dieser wieder “Vertrauen werden kann”. Er macht bewusst einen Spagat, spricht von Demut, aber auch von Selbstbewusstsein. Und sagt auch diesen Satz: “Bei der Bundestagswahl 2013 hat uns niemand anderes besiegt als wir selbst – dazu lassen wir es nie wieder kommen.” Natürlich sagt er das nicht explizit, aber man kann das auch so deuten: Den Karren haben andere an die Wand gefahren (im Zweifelsfall sein unglücklicher Amtsvorgänger Philipp Rösler), ich bin erst danach Parteivorsitzender geworden. Außerdem bin ich frühzeitig (im Dezember 2011) als FDP-Generalsekretär vom sinkenden Schiff abgesprungen. Das Rösler-Ergebnis: 4,8 Prozent – ein Desaster. Vier Jahre zuvor waren es noch 14,6 Prozent.

Christian Lindner: jüngster FDP-Chef der Geschichte. (c) Laurin Schmid

Jetzt liegt wieder ein Hoffnungsschimmer in der Luft. Das ist auf diesem Parteitag zu spüren, und Lindner bedient das. Gerade waren Landtagswahlen, die FDP kommt langsam aus dem Tal der Bedeutungslosigkeit zurück, in Mainz rutscht sie sogar in eine Landesregierung. In den Umfragen im Bund schwanken die Werte zwischen sechs und acht Prozent.

“Die Zeit für Leihstimmen ist für alle Zeiten vorbei”, ruft Lindner in den Saal und sagt dann, die CDU stehe den Liberalen weiter am nächsten “im Vergleich zu den anderen sozialdemokratischen Parteien”, fügt jedoch ein großes Aber hinzu: Die Partei dürfe sich nicht automatisch einseitig auf die Union festlegen: “Das ist eine Soße, den Unterschied müssen wir machen.” Es ist das wohl am meis­ten beachtete Signal dieses Parteitags, dessen Hauptthema eigentlich die Digitalisierung war: Unter Chris­tian Lindner soll sich die FDP aus dem politischen Abseits befreien und ihre Optionen auf dem Weg zurück an die Macht offenhalten.

Seine Rede kommt gut an, auch in den Medien. “Krawall-Kurs gegen die Union”, schreibt die “Bild”, “Focus” notiert: “Die FDP biedert sich keinem Koalitionspartner mehr an” und “Spiegel Online” stellt fest: “Die liberale Idee lebt.” Fulminante Rede, guter Aufschlag, eine runde Geschichte, so sind die Reaktionen fast übereinstimmend bei den Delegierten, aber ohne Namen gibt es auch solche Töne: “Reden konnte er schon immer, das war’s”, oder “Er hat als Person kein Profil”, oder – außer zu Europa kam nichts zur Außenpolitik – “Das ist nicht sein Ding”. Der Altliberale Burk­hardt Hirsch sagt, Lindner sei ein begabter Redner. “Er zeigt Probleme auf, bei Lösungen bin ich mir nicht so sicher.”

Dennoch: Nach den dunklen Jahren ist Lindner, der nach der verheerenden Niederlage 2013 noch eher eine Notlösung war, als Parteivorsitzender bei den Liberalen angekommen. Sein politisches Talent ist offensichtlich, und ein Delegierter verweist auf einen nicht unwesentlichen Punkt: “Wir haben keinen anderen, der ihm das Wasser reichen kann”.

Eine Politkarriere im Schnelldurchgang. Sie beginnt noch während Lindners Schulzeit in Wermels­kirchen. Der 1979 geborene Schüler sieht sich bei den Parteien um und entscheidet sich für die Liberalen. Mit Schulfreunden gründet er die örtlichen Jungen Liberalen, wird 1995 FDP-Mitglied und stürzt sich in den Politikbetrieb. Lindner gibt heute gern die Anekdote zum Besten, er habe bei einem Parteitag seinen Stuhlnachbarn gefragt, ob er ihn nicht für den FDP-Landesvorstand vorschlagen könne. Er kann, und tatsächlich wird der 19-Jährige als Beisitzer in das Führungsgremium der FDP Nord­rhein-Westfalen gewählt. Lindner startet weiter durch: Er lässt sich 2000 für den Landtag aufstellen, und weil die Partei unerwartet gut abschneidet, schafft er es tatsächlich ins Parlament – mit 21 Jahren der jüngste Abgeordnete in Düsseldorf.

Das bringt ihm vom damaligen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen Möllemann den Spitznamen “Bambi” ein. Möllemann drängt Lindner in die Funktion des Sprechers für Generationen, Familie und Integration. Damit ist Lindner erst einmal auch für Fragen zuständig, die sich mit Problemen von Kindern und Jugendlichen beschäftigen. 2005 steigt er zum stellvertretenden Vorsitzenden seiner Fraktion und Sprecher für die Bereiche Innovation, Wissenschaft und Technologie auf und vertritt die Partei seit 2004 auch als FDP-Generalsekretär in Nord­rhein-Westfalen.

Christian Lindner. (c) Laurin Schmid

Schon als Schüler hat er sich als Jungunternehmer versucht. Er gründet in Wermelskirchen eine Werbe­agentur, und ist damit so erfolgreich, dass er in einen gebrauchten Porsche investiert, mit dem er alsbald zum Zivildienst fährt, den er als Hausmeister einer Bildungseinrichtung absolviert. Den Wehrdienst zu verweigern, stellt er in der Rückschau als rein pragmatische Entscheidung dar: Nur so habe er seine unternehmerische Arbeit gleichzeitig fortsetzen können. Ein Bruch in seiner Vita, widerruft er die Entscheidung gegen das Waffentragen doch später und bewirbt sich als Reserveoffizier bei der Bundeswehr, der er bis heute als Reservist im Range eines Hauptmanns angehört.

Ein zweiter Ausflug ins Unternehmertum freilich scheitert. Mitten in den New-Economy-Hype hinein gründet Lindner mit Partnern eine Internetfirma, die unter anderem mit 1,4 Millionen Euro von der öffentlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau gefördert wird. Die Börsenblase platzt, die Firma geht pleite, die Zuschüsse sind verloren. Parallel zu diesen Ausflügen in Politik und Unternehmerwelt schreibt sich Lindner an der Universität Bonn ein und absolviert erfolgreich ein Studium der Politikwissenschaften.

In der FDP-Achterbahn geht es für den jungen Politiker gleichzeitig erst einmal weiter nach oben. Nach neun Jahren im Landtag bewirbt er sich für ein Bundestagsmandat, und im FDP-Superjahr 2009 mit dem bisher größten Wahlsieg der Liberalen landet der damals 30-Jährige im Berliner Parlament – und wird gleich vom Wahlgewinner Guido Westerwelle zum FDP-Generalsekretär berufen. Dann jedoch endet die Glückssträhne für die Liberalen – und damit fürs Erste auch für Christian Lindner. Die FDP wird nur noch als Klientelpartei wahrgenommen, verengt auf Steuersenkungen, und der Wähler wendet sich bei Landtagswahlen ab. Innerhalb kurzer Zeit ist der Riesen-Wahlerfolg verspielt, die Stimmung im Keller. In der schwarz-gelben Koalition gibt es wechselseitige Beschimpfungen, man nennt sich “Rumpelstilzchen”, “Wildsau” und “Gurkentruppe”.

Guido Westerwelle wird gedrängt zu gehen – und schmeißt tatsächlich hin. Nachfolger wird der junge Philipp Rösler. Christian Lindner macht erst einmal weiter, aber die politische Trendwende will sich nicht einstellen. In der Partei stehen Rebellen auf gegen die Euro-Rettungsschirme der Bundesregierung für Griechenland, die FDP muss sich einem Mitgliedervotum stellen. Das findet keine Mehrheit, aber es gibt jetzt auch Vorwürfe gegen die Parteispitze und ihren Generalsekretär Lindner. Der Kern: Die Abstimmung sei organisatorisch nicht ordnungsgemäß verlaufen. Vor und hinter den Kulissen gärt es.

Schließlich geht auch Christian Lindner. Er kann politisch einfach nicht mit Philipp Rösler. Der junge Dauer-Aufsteiger verschwindet von der Bühne – aber nur vorübergehend, wie sich zeigen soll. Denn an seiner alten Wirkungsstelle, in Düsseldorf, tut sich was. Die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft kommt so in Bedrängnis, dass sie 2012 vorgezogene Neuwahlen ansetzen muss. Lindners Parteifreunde rufen um Hilfe. Er folgt, lässt sich zum Spitzenkandidaten aufstellen und zum Landesvorsitzenden wählen – und holt kurz darauf bei der Landtagswahl 8,6 Prozent. Plötzlich ist er in der gebeutelten FDP wieder ein mächtiger Spieler, mit einem großen Landesverband hinter sich – und wird bald darauf zu einem der stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt.

Auf Bundesebene geht das Trauerspiel um die FDP dagegen weiter. Am Abend des 22. September 2013 ist klar: Nach 64 Jahren scheiden die Liberalen aus dem Bundestag aus. Der Vorstand tritt zurück. Die FDP ist kopf- und führungslos. Wieder schlägt die Stunde von Christian Lindner. Zweieinhalb Monate nach dem Debakel hebt ihn ein Parteitag auf den Schild: Lindner, 34 Jahre alt, wird der jüngste Bundesvorsitzende in der Parteigeschichte.

Er beginnt mit dem Wiederaufbau. Intern spricht er von der Notwendigkeit der Teamarbeit, mehr Frauen an Bord, auch mehr Jüngere, eine bessere Mischung in der Führung. “Er muss nicht mit den Muskeln spielen”, sagt jemand über seinen Führungsstil, er brauche keine “Kennzeichen der Macht”. 2014 soll das Jahr der Neubesinnung werden. Lindner verordnet den Leitbildprozess, Themen kommen auf den Prüfstand. Auch Mitglieder und potenzielle Wähler werden befragt. Das Ergebnis ist, dass es nicht so sehr die falschen Themen sind, sondern eher Probleme mit der Glaubwürdigkeit; dass es darum gehen müsse, Reden und Handeln in Übereinstimmung zu bringen.

Lindner wird von seiner Umgebung als effektiv und diszipliniert beschrieben, einer, der viel von der Partei, aber vor allem sehr viel von sich selbst verlange – mit einem riesigen Einsatz in Wahlkämpfen vor Ort. Das nötigt auch Respekt beim politischen Wettbewerber ab. Er sei, so beschreibt ihn der Chef der CDU Nord­rhein-Westfalen, Armin Laschet, im Landtag “extrem fleißig, bis tief in die Nacht hinein”, stets sehr gut vorbereitet und informiert. Auch Laschet verweist auf Lindners Rednerfähigkeiten, die besonders bei seiner als “Wutrede” bei Youtube und anderswo berühmt gewordenen Auseinandersetzung mit einem SPD-Abgeordneten im Landtag deutlich wurden, als es um Unternehmensgründer ging. „Dämlich“ sei dessen Zwischenruf gewesen, poltert Lindner und beendet seine minutenlange Tirade mit: “So, das hat Spaß gemacht”. 619.778 Zuschauern bei Youtube hat es das offenbar auch.

Parteiintern ist klar, er ist die “Galionsfigur”, der Mann, der stets angefragt wird, wenn es gilt, die Partei bei Veranstaltungen oder in Talkshows zu vertreten, was einerseits die Belas­tung noch erhöht, andererseits aber auch klarmacht, dass die FDP bei ihrer Wahrnehmung nach außen noch ein erhebliches Problem hat.

Christian Lindner startete früh in der Politik durch. Mit 21 Jahren in den Düsseldorfer Landtag gewählt, arbeitete er sich in kürzester Zeit nach oben. (c) Laurin Schmid

Mit heute 37 Jahren noch immer der Junior unter den Parteivorsitzenden, versucht Lindner jetzt, die Partei wieder auf den Sprung zurück in den Bundestag vorzubereiten. Und seinen eigenen dazu. Er will dabei den alten Fehler vermeiden, dass die FDP vor allem als Steuersenkungspartei wahrgenommen wird. Das Thema wolle man schon besetzen, aber: “Die FDP ist keine Steuersenkungs-, sondern eine liberale Partei”, sagt er. “Deshalb sind Fragen der Bildungspolitik, der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft angesichts der Digitalisierung genauso bedeutend.” Er will in Zeiten des Terrors zwar eine Stärkung der Polizei und mehr Zusammenarbeit der Geheimdienste, aber dennoch mehr Überwachung des Bürgers verhindern. “Ich bin gegen einen übergriffigen Staat, der unbescholtene Bürger ihrer Privatheit beraubt, denn es macht keinen Sinn, wenn man die Nadel im Heuhaufen nicht findet, den Heuhaufen größer zu machen.” Beim Ringen um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP schlägt er sich auf die Seite der Bundesregierung, die das betreibt: “Ja, und zwar mit Enthusiasmus”, sagt er dazu und sieht darin vor allem die wirtschaftlichen Wachstumschancen.

Mit diesen Klassikern liberaler Themen hofft er auf eine Verstetigung des Trends, der in den Umfragen gegenwärtig eine Rückkehr der FDP in weitere Landesparlamente und 2017 in den Bundestag andeutet – wohl wissend, dass Koalitionsbildungen immer komplexer werden. Zwar will er im nächsten Jahr noch einmal in Nord­rhein-Westfalen antreten, wenige Monate später aber auf jeden Fall wieder nach Berlin wechseln. Ohne Wenn und Aber zurück in den Bundestag? Lindner antwortet: “Ja, das unterschreibe ich mit Blut.”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation II/2016 Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.