Brechen wir ab?

Pro & Kontra

Pro
von Konrad Göke

Wo beginnt eigentlich „Cancel Culture“? Ist es bereits die Forderung, eine Person auszuladen, der man die Chance nehmen will, öffentlich ihre Meinung zu sagen? Oder dürfen wir erst davon sprechen, wenn Menschen für ihre Positionen mit einem Jobverlust oder gar Gewalt rechnen müssen?

Die Schwelle wird munter diskutiert. Ich halte das für wenig fruchtbar. Denn wenn es eine sogenannte „Cancel Culture“ gibt, dann ist ihre verhängnisvollste Folge, dass normale Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen. Umfragen deuten darauf hin. Bei einer Statista-­Umfrage 2020 sagten fast 20 Prozent der Befragten, es gebe ein Problem mit „Cancel Culture“ in Deutschland. Interessant: Bei den 18- bis 29-Jährigen sagte das fast jeder Dritte – weil sie häufiger online sind?

Hier liegt das Problem – und nicht bei den prominenten Fällen, bei denen ein Auftritt verhindert wird, die dank ihrer Bekanntheit dann aber doch woanders auftreten können. Dabei sehen nur 29 Prozent derjenigen, die „Cancel Culture“ für ein Problem halten, Prominente davon betroffen – 41 Prozent sehen einfache Bürger im Fokus. Jeder Dritte aller Befragten stimmte der Aussage zu: „Man kann öffentlich seine Meinung nicht mehr sagen.“

Die Aufreger um mehr oder weniger gecancelte Prominente haben aber noch andere Folgen. Sie treten zunehmend in Kanälen auf, in denen sie nicht mehr mit Widerspruch rechnen müssen, selbst wenn sie Unsinn reden oder lügen. Sie werden in Echoräume verdrängt, in denen sie sich schlimmstenfalls radikalisieren – angefeuert von einem Publikum, das wir nicht mehr erreichen. Dazu kommen alle jene, die von renommierten Medien gar nicht erst angefragt werden, weil Redaktionen Shitstorms fürchten. Wenn wir vielen Meinungen Raum geben, bieten wir ihnen keine Bühne, wie oft behauptet wird. Vielmehr holen wir sie in eine Arena. Dort sollten aber alle Zutritt haben.

Kontra
von Judit Čech

Ein Gespenst geht um in den deutschen Feuilletons: Es ist die „Cancel Culture“. Doch worum geht es eigentlich? Diese Frage ist anhand der Verwendung des Begriffs kaum zu beantworten. Zunächst wird von „Cancel Culture“ gesprochen, wenn Studenten gegen Auftritte bestimmter Personen protestieren – etwa Ex-AfD-Chef Bernd Lucke und Thomas de Maizière (CDU). Das ist nicht schön, aber auch nicht neu – man erinnere sich an das Busenattentat 1969 gegen Theodor Adorno.

Angeblich wird auch im Kulturbereich gecancelt. Die Kabarettistin Lisa Eckhart wurde von einem Literaturfestival ausgeladen, weil sie Witze gerissen hatte, die als antisemitisch empfunden wurden. Auf die Ausladung folgten allerdings einige Einladungen – und Tickets für ihre Shows und Bücher verkauften sich besser. Sieht es so aus, wenn man gecancelt wird?

Der letzte große Fall, der die Republik bewegte, war Winnetou. Der Ravensburger Verlag hatte nach Kritik zwei Jugendbücher zum aktuellen Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ zurückgezogen – nein, nicht den echten Karl May. Früher nannte man das einfach eine ökonomische Entscheidung. Da macht der Markt eben, was er soll: Er regelt das.

Abgesehen davon, dass alle diese Fälle auf die Füße gefallen sind, haben sie kaum etwas gemein. Trotzdem haben sie das Branding „Cancel Culture“ aus konservativer bis rechtsradikaler Ecke verpasst bekommen. Interessant ist, was noch nie als „Cancel Culture“ bezeichnet wurde: wenn Politikerinnen wie Renate Künast (Grüne), Aktivistinnen wie Luisa Neubauer oder Journalistinnen wie Dunja Hayali im Netz bedroht werden, wenn Kommunalpolitiker mit Gewalt eingeschüchtert werden oder wenn sämtliche Kontaktdaten von Ehrenämtlern beispielsweise aus der Flüchtlingshilfe auf Todeslisten veröffentlicht werden. Die leere Worthülse „Cancel Culture“ braucht niemand. Sie dient allein der billigen Erregung von Gemütern rechts der Mitte.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.