Als die Schweden das "Volksheim" erfanden

Kampagne

Die politischen Straßen waren in den zwanziger Jahren glitschig. Acht Stockholmer Kabinette rutschten nacheinander aus der Spur. Aber dass die Reichstagswahl 1928 für ihn zum Elchtest werden würde, ahnte Per Albin Hansson nicht. Der 43-jährige Chef der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) hatte den Wahlkampf gründlich und modern geplant. Trotzdem kippte die SAP seitwärts und trug ein Schleudertrauma davon.

Die Sozialdemokratie hatte rekordverdächtig mobilisiert. Man zählte mehr Kundgebungen, mehr VIP-Auftritte als je zuvor. Hansson investierte in Zeichentrickfilme fürs Parteikino, neuartige Lautsprecher-LKW und Mikrofone, die den tourenden Rednern den Halskatarrh ersparten. Er ließ die Parteiverlage Pamphlete drucken, bis die Pressen qualmten. Trotz nordischer Zurückhaltung war Tür-zu-Tür-Canvassing angesagt. Hansson mietete Autos, um Wähler ins Wahllokal zu karren. Es war perfekt orchestriert. Aber nicht perfekt genug.

Die SAP fuhr 874.000 von 2,36 Millionen Stimmen ein. Das waren mehr als je zuvor, gegenüber 1924 ein Plus von 149.000 Stimmen. Doch ihr Anteil sank von 41 auf 37 Prozent, denn zugleich stieg die Wahlbeteiligung von 53 auf 67 Prozent. Eine halbe Million Schweden mehr strömten an die Urnen: unerhört viele Neuwähler, vor allem Frauen und Bauern. Die Partei hatte stets das allgemeine Wahlrecht gefordert, war aber unvorbereitet, als die Leute davon plötzlich im aufgeheizten Wahlklima Gebrauch machten.

Der Wahlkampf wurde heiß und hart geführt. Das hatte sich die SAP selbst eingebrockt. Ihr Kardinalfehler war es, ein Zählkartell mit den Kommunisten zu wagen. Das passte nicht zum Image der moderaten Reformpartei, die lange in der Regierung gewesen war. Schrill warnten die Bürgerlichen, jede SAP-Stimme sei eine für Moskau. Grimmige Sowjetinvasoren prankten auf den Plakaten. 1928 ging als „Kosakenwahl“ in Schwedens Geschichte ein. Premier wurde ein Konservativer. Die SAP, stärkste Fraktion im Riksdag, machte ein sehr langes Gesicht.

SAP-Chef Hansson wurden drei Dinge klar: Fortan war stets mit hochtourigen Kampagnen zu rechnen, bei denen es auf griffige Slogans und Bilder ankam. Im Rüstungswettlauf um die Wahlkampftechnik galt es zu klotzen statt zu kleckern. Zweitens: Wenn die Wahlbeteiligung so hoch blieb, würde die SAP als reine Partei städtischer Arbeiter nie an eine Mehrheit kommen. Drittens war es brandgefährlich, die Symbolik nationaler Entschlossenheit und Einheit anderen zu überlassen. In der vaterlandslosen Ecke standen nur Verlierer.

Volk statt Klasse

Hansson, vormals selbst feuriger Radikaler, trimmte die SAP auf neuen Kurs: Stramm antikommunistisch nach links, nach rechts flexibel offen, auch für die Gegner von einst. Positioniert als Partei der Patrioten. Nicht nationalistisch, aber national. Also national sozialistisch, mit demokratischem Vorzeichen. Das sollte Wähler gegen braune Viren impfen. Die SAP musste als Volkspartei empathischer Kümmerer auftreten, die für alle etwas im Sortiment hat. Dafür waren neue Symbole zu stanzen. Was zu anstößig war, musste weg. So etwa die Verstaatlichung von Industrien: eine politische Brechstange, die zu vielen Leuten zu viel Angst machte. In der Zielzone war kein Platz mehr für rhetorischen Klassenkampf und Marxistenfantasien. Hansson brauchte breite Projektionsflächen: Allen wohl, niemandem weh, moderne Volkswohlfahrt gemanagt durch kompetente Fortschrittsmacher.

Dazu gehört das Stichwort vom Aufbau des „Folkhemmet“, des Volksheims. Es tauchte 1928 in einer Hansson-Rede auf, bis heute eine der meistzitierten Reden in Schweden. „Im guten Heim gibt es keine Privilegierten oder Benachteiligten, keine Hätschelkinder und keine Stiefkinder“, so Hansson. „Im guten Heim herrschen Gleichheit, Fürsorglichkeit, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft.“

Sein Volksheim ist oft missverstanden worden: Dass ein visionärer Baumeister Hansson es grandios als Leitidee einführte, als Slogan popularisierte und damit den Sozialstaat durchsetzte, ist eine Mär aus den achtziger Jahren. „Folkhemmet“ ist zwar heute so schwedisch wie Ikea und Köttbullar. Doch für Hansson war es nur eine variable Gelegenheitsmetapher. Weder führte er lange Kämpfe um die begriffliche Lufthoheit, noch wurde es zum „Mantra“ der SAP oder „Topos der wohlfahrtsstaatlichen Ziviltheologie“, wie man heute lesen kann. SAP-Eliten schwiegen dazu, in Programme oder auf Plakate wurde „Folkhemmet“ schon gar nicht gedruckt.

Zäh und langsam robbte die SAP in Richtung Mitte. Hansson hielt die Linie, als das Land von Weltwirtschaftskrise, Rekordarbeitslosigkeit und Extremismus gebeutelt wurde. Hitzköpfe, die die SAP zur Systemopposition drängten, stellte er kalt. 1931 geriet ein Streik außer Kontrolle. Das Militär erschoss fünf Arbeiter. Nach den „Schüssen von Ådalen“ erfassten Unruhen das Land. In der SAP brodelte es. Hansson blieb stur und kümmerte sich ums strategisch wichtigere Thema, die Not auf dem Land – ein Kernanliegen der antisozialistischen Bauernpartei. Hanssons Ziel war eine bislang undenkbare „rot-grüne“ Allianz. Als 1932 ein Spendenskandal die Regierung zu Fall brachte und die Wahl kam, legten beide Parteien zu. Die SAP holte fast 42, die Bauern 14 Prozent. Es folgte der legendäre „Kuhhandel“: Im Tausch für Agrarsubventionen räumte die Bauernpartei ihre Anti-SAP-Haltung ab. Sie bahnte Hansson den Weg zur Macht.

Axel, Ulla und Per Albin

In rascher Folge peitschte Hanssons Kabinett nun Beschäftigungs-, Infrastruktur-, Bildungs-, Renten- und Gesundheitspakete durch und setzte Reformkommissionen ein. Vier Jahre später war Schweden eine unübersichtliche Baustelle, auf der noch nichts fertig war. Doch rechtzeitig sprang die Konjunktur wieder an. Hansson setzte auf eine Bilanzkampagne. „Wir haben die Krise besiegt“, jubelte die SAP auf allen Kanälen: Vorwärts wie bisher, sicher in die Zukunft. Dass die Weltpresse nun vom „Modell Schweden“ als „Drittem Weg“ und vom Bollwerk gegen Europas Diktaturen schwärmte, ließ sich dabei prächtig nutzen.

Allein auf Zahlenkolonnen und externes Lob verließ sich die SAP nicht. Sie griff in den Schmalztopf und ließ einen 40-Minuten-Kinostreifen mit populären Filmstars drehen: In „Land für das Volk“ schmust sich das Liebespaar Axel und Ulla durch die schöne neue Werktätigen-Welt, in der Politik und privates Glück verschmelzen. Die Filmtickets waren Gold in den Händen der Ortsverbände.

Die Personalisierung setzte neue Maßstäbe. Auf vielen der 600.000 SAP-Plakate prangte nur der markante Schädel des Premiers mit den buschigen Augenbrauen. „Noch einmal Per Albin“, hieß es. Wo war der Nachname? Nur König Gustav nannte man beim Vornamen. Ein gezielter Bruch der Etikette. Hansson wurde zur Nationalikone stilisiert, als Garant für Fortschritt, Retter des sozialen Friedens, Familienvater der Herzen. Ohnmächtig sah die Opposition zu, wie die SAP Nationalgefühl, Volksideologie, Sozialpolitik und Hansson in eine Großportion Zuckerwatte aufwickelte.

Meister der Medien

Bei nun 75 Prozent Beteiligung wählten 46 Prozent SAP. Doch für Hansson war noch Luft nach oben. Seine Medienfinesse wuchs. Trotz brüchiger Bilanzen und düsterer Außenpolitik sicherte er sich positive Omnipräsenz nebst volkstümlicher Szenen beim Kegeln, Kartenspielen und Tramfahren. Zum Meister des Radiotalks wurde Hansson auch noch. Im mitbürgerlichen Plauderton erläuterte „Per Albin“ in Millionen Wohnzimmern seine Politik in einfachen Worten, so wie es US-Präsident Franklin Roosevelt bei den berühmten „Fireside Chats“ tat. Als 1940 die Nachbarn Norwegen, Dänemark und Finnland überfallen wurden, scharte sich die neutrale Nation um Hansson. Auf Wahlplakate kam weder sein noch der Parteiname, nur noch sein Konterfei und „Ein fester Kurs, mit dem Vertrauen der Menschen“. Er holte 54 Prozent.

Sein Kommunikationsstil prägte eine Ära. Er sicherte dem Sozialprogramm unerwartet breiten Rückhalt. 1946 starb er; erst drei Jahrzehnte später gab die SAP die Macht ab.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beste Wahl. Das Heft können Sie hier bestellen.