Neues aus der Brüsseler Blase

Medientipps

In den meisten Hauptstädten dominieren die nationalen Medien die Berichterstattung, dazu kommt eine kleine Minderheit von Korrespondenten aus dem Ausland. In Brüssel ist es genau umgekehrt: Internationale Medien sind tonangebend, die Minderheit stellen die Kollegen aus Belgien dar – eine weltweit wohl einzigartige Konstellation. Die Folgen sind ein babylonisches Sprachwirrwarr und eine weitere Einzigartigkeit: Die rund 1.000 in Brüssel akkreditierten Korrespondenten berichten nicht für eine, sondern für viele Öffentlichkeiten.

Eine europäische Öffentlichkeit, so eine verbreitete Annahme, existiert schon wegen der Sprachbarrieren nicht – zumindest nicht in dem Sinn, dass ein Großteil der Bevölkerung an einem Diskurs teilnimmt und dazu auf ein ähnliches Reservoir von Informationsquellen zugreift. Stattdessen berichten nationale Medien jeweils für ihr heimisches Publikum, wodurch teils voneinander abgeschottete nationale Diskurse entstehen.

Brüssel kommt hier eine Art Brückenfunktion zu. Was in den EU-Staaten passiert, kommt in die EU-Hauptstadt zurück und wird dort von rund 50.000 Mitarbeitern der EU-Institutionen, 25.000 Lobbyisten und den Medien verhandelt – in aller Regel auf Englisch, das spätestens seit der EU-Osterweiterung von 2008 Französisch als Lingua franca der EU verdrängt hat. Diese Community, oft ein wenig abschätzig als “Brüsseler Blase” bezeichnet, ist für Medien einer der vielleicht spannendsten Orte der Welt. Ob Migration, Handelskriege oder Klimawandel – kaum ein aktuelles politisches Großproblem kann noch auf nationaler Ebene gelöst werden. Entsprechend schnell ist in den vergangenen Jahren die Bedeutung der EU gewachsen.

8 Medientipps:

 

“Politico”

Das US-Magazin “Politico” hat 2015 sein Brüsseler Büro eröffnet. Seitdem ist die Zahl der dort beschäftigten Journalisten auf 54 gewachsen. Sie sind zu einer der wichtigsten, wenn nicht gar zur führenden Informationsquelle für Brüsseler Insider geworden. Die größte Breitenwirkung erzielt der Morgen-Newsletter “Playbook” mit einem breiten Mix aus EU-Themen und Brüssel-Gossip. Eine zusätzliche deutsche Version namens “Morgen Europa” wurde im März 2018 eingestellt, so dass “Politico” nun ausschließlich auf Englisch berichtet. Daneben bietet “Politico” diverse weitere, allerdings kostenpflichtige Newsletter zu unterschiedlichen Spezialgebieten an, die sich vor allem an ein Fachpublikum richten. Obwohl die Website 2017 und 2018 von Comres/Burson-Marsteller zum einflussreichsten Medium für EU-Angelegenheiten gekürt wurde, ist ihre Reichweite von im Vergleich zu den Massenmedien der großen EU-Staaten eher bescheiden. Dass “Politico” in Brüssel dennoch großen Einfluss hat, liegt am Multiplikator-Effekt: Nationale Massenmedien zitieren „Politico“ regelmäßig oder nutzen die dort veröffentlichten Artikel als Anstoß für eigene Recherchen.

 

Britische Medien

Welche Medien wichtig sind, hängt nicht zuletzt von der aktuellen politischen Lage ab. Derzeit ist der Brexit das in der EU dominante Thema. Entsprechend unverzichtbar sind britische Medien, die das Drama aus Londoner Sicht abbilden. Wobei man mindestens vier Medien regelmäßig lesen muss, um über das ganze Spektrum der britischen Politik auf dem Laufenden zu bleiben: Der “Guardian” bietet eine eher linksliberale (und EU-freundliche) Perspektive, die BBC versucht traditionell neutral zu sein, während die “Times” eine moderat konservative und der “Telegraph” eine dezidierte Pro-Brexit-Position einnimmt.

 

“Foreign Affairs”

Das Zentralorgan des außenpolitischen Establishments der USA ist auch in Brüssel ein Must-read – neben der EU hat die Nato hier ihr Hauptquartier. Und auch in Zeiten von Donald Trump gilt: Wer wissen will, was man in Washington über das transatlantische Verhältnis denkt, sollte zumindest hin und wieder einen Blick in “Foreign Affairs” werfen. Auch wenn die Lektüre in dieser Hinsicht zuletzt meist wenig erbaulich war.

 

“Foreign Policy”

Auch “Foreign Policy” ist nicht unbedingt ein EU-spezifisches Medium, aber wertvoll, wenn es darum geht, ungewöhnliche Außenperspektiven auf das Treiben in der EU zu erhalten. Lesenswert sind vor allem die Kommentare und Essays, die Einblicke in die Psychen einzelner Länder bieten, etwa: Warum manche Staaten (darunter Deutschland) in der Außenpolitik “pathologisch schüchtern” sind oder warum Rap-Musik aus Sicht italienischer Regierungspolitiker unitalienisch ist.

 

“Euractiv”

“Euractiv” verfolgt inhaltlich einen ähnlichen Ansatz wie “Politico”: Nachrichten für EU-Aficionados statt für das ganz breite Publikum. Die Leserschaft ist zwar noch kleiner, dafür unterhält “Euractiv” Büros in zwölf EU-Ländern. Auf euractiv.de gibt es eine Auswahl an Nachrichten auf Deutsch, auf euractiv.com eine noch größere Zahl auf Englisch – was wertvoll für alle ist, die bei bestimmten Themen nicht nur an der Perspektive Brüssels oder Berlins, sondern auch an der von Warschau, Budapest oder Lissabon interessiert sind, die jeweilige Landessprache aber nicht beherrschen. Nach eigenen Angaben ist das 1999 vom Journalisten Christophe Leclercq gegründete “Euractiv” unabhängig. Allerdings können unter anderem Industrieverbände, Beratergesellschaften, NGOs und politische Parteien Mitglieder im „Euractiv“-Netzwerk werden. Im Gegenzug wird ihnen angeboten, ihre Positionen zu verbreiten. 

 

“Ideas on Europe”

Warum sich mit einem Blog begnügen, wenn man viele haben kann? “Ideas on Europe” bietet 75 Einzel-Blogs eine Plattform. Hinter “IoE” steht die Academic Association for Contemporary European Studies (UACES), eine Organisation von Europa-Spezialisten vor allem aus der akademischen Welt. Entsprechend hoch ist die Qualität der Beiträge. Dort werden etwa Fragen verhandelt, auf die die meisten Leser eine einfache Antwort zu haben glauben – bis sie die Beiträge lesen und überraschende neue Einblicke gewinnen.

 

“EU Scream”

“EU Scream” ist ein erst vor kurzem gegründeter Podcast – und wohl einer der spannendsten über EU-Themen. Chefredakteur ist James Kanter, zuvor langjähriger EU-Korrespondent der “New York Times” – doch das hält sein Team nicht davon ab, harte Informationen leicht anarchisch zu präsentieren. Da wird ein renommierter Historiker schon mal gefragt, was Populismus mit Pornografie zu tun hat. “Wir versuchen auch im Kopf zu behalten, dass Sie lachen müssen”, versprechen die Macher von “EU Scream”. “Sonst weinen Sie.”

 

“Bruegel-Blog”

Unter den zahlreichen in Brüssel stationierten Thinktanks gilt Bruegel als der einflussreichste, und er unterhält auch einen Blog. Allerdings handelt es sich dabei nicht um den klassischen Blog eines einzelnen Autors. Stattdessen kommen diverse Autoren zu Wort, bei denen es sich zum Teil um Bruegel-Experten, zum Teil um externe Autoren handelt, unter denen sich mitunter EU-Kommissare befinden. Die Themen folgen der Ausrichtung von Bruegel: Es geht vor allem um die Wirtschaft. Und in dieser Hinsicht gibt es wenig, was in Sachen Kenntnis- und Detailtiefe an den Bruegel-Blog heranreicht. Eine mögliche Ausnahme ist das (allerdings kostenpflichtige) “Brussels Briefing” der “Financial Times”.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 126 – Thema: Vor der Europawahl: Deutsche in Brüssel. Das Heft können Sie hier bestellen.