Treulose Lager

Zum ersten Mal seit dem Bundestagswahlkampf 2002 ist es wieder so weit: Spitzenkandidaten von SPD und Grünen treten gemeinsam vor die Kameras und werben für ein Revival des einstigen „Projekts“. Eine rot-grüne Koalition gibt es derzeit nur im kleinsten Bundesland, in Bremen. Aber jetzt wollen sie es auch in NRW wieder wissen und fordern Schwarz-Gelb heraus. Am 19. April luden sie zur großen Pressekonferenz mitsamt Parteichefs. Doch dann unterlief SPD-Chef Sigmar Gabriel ein Patzer: „Die Wahl ist entschieden, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist“, sagte er, „dann hat Rot-Rot-Grün eine eigene Mehrheit.“
Eigentlich wollte er sagen, dass es für Rot-Grün reichen könnte – aber nur, wenn die Linkspartei den Sprung ins Parlament nicht schafft. Die Umfragen prognostizieren wenige Wochen vor der Wahl ein Patt zwischen den alten Lagern, die Linkspartei kommt auf fünf Prozent. Spannend wird es also in jedem Fall. Denn am 9. Mai geht es nicht nur darum, von wem das bevölkerungsreichste Bundesland die nächsten fünf Jahre regiert wird. Das Ergebnis wird direkte Auswirkungen auf die Bundespolitik haben: Verliert Schwarz-Gelb in NRW, ist auch die Mehrheit im Bundesrat dahin.
Der amtierende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gibt sich alle Mühe, die bundespolitische Bedeutung des Wahlkampfs zu verschleiern. „NRW muss stabil bleiben“ heißt das Motto der Kampagne. Die Union wirbt für die Botschaft, das Land mit Jürgen Rüttgers „sicher durch die Krise“ zu bringen und kommt damit in den Wochen vor der Wahl auf fast 40 Prozent.
Rüttgers soll vor allem als überparteilicher „Landesvater“ wahrgenommen werden, eine Rolle, die von 1978 bis 1998 Johannes Rau ausgefüllt hat. „An die Wähler von Johannes Rau, die kein Linksbündnis wollen, machen wir ein klares Angebot“, sagt CDU-Pressesprecher und Wahlkampfkoordinator Matthias Heidmeier.  Für ihn geht es zudem um „eine Entscheidungsfrage“. Die Alternativen seien: „Stabilität mit uns oder Chaos mit Rot-Rot.“

„Albtraum“ Rot-Rot

Zwar hat die SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft eine Koalition mit den Linken zuletzt quasi ausgeschlossen, als sie bei einem Talkshow-Auftritt in dem bis dahin gebetsmühlenartig wiederholten Satz: „Wir halten die Linkspartei derzeit nicht für regierungsfähig“, das „derzeit“ wegließ. Doch die CDU sieht in der Warnung vor dem Linksbündis den höchsten Mobilisierungseffekt. Versprecher wie der von Gabriel kommen ihr da gerade recht. Prompt haben die Christdemokraten Ende April die Kampagne noch einmal zugespitzt. Auf einem neuen Plakatmotiv ist jetzt Hannelore Kraft zu sehen, wie sie in das Spiegelbild Andrea Ypsilantis blickt. Darüber steht: „Spieglein, Spieglein in der Hand, das erwartet unser Land! – Rot-Roter Wahlbetrug nicht für NRW!“
In dem „Albtraum“ Linksbündnis, den die CDU auch in Wahlkampfspots zeichnet, spielen die Grünen kaum eine Rolle. Denn mit den Grünen flirten die Schwarzen schon lange, zumindest im Vorstand. „Schwarz-Grün, das wäre für große Teile der CDU und der Grünen eine Zumutung“, meint der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann. „Insofern überlagern sich in diesem Wahlkampf Lagerdenken und übergreifende Koalitionsspekulationen.“
Diese Spekulationen haben die Parteibasis der Grünen in NRW jüngst dazu veranlasst, dem Vorstand den Entwurf eines Regierungsprogramms zukommen zu lassen, in dem zentrale Forderungen für eine Regierungsbeteiligung der Grünen festgelegt werden. „Natürlich wäre Rot-Grün der Basis am einfachsten zu vermitteln“, sagt Sabine Brauer, Wahlkampfleiterin und politische Geschäftsführerin der Grünen in NRW, und ergänzt: „Die Zeit eines rot-grünen Projekts ist aber vorbei.“ Es gehe vor allem darum, grüne Themen durchzusetzen. Neben der Bildungspolitik gehört dazu vor allem ein nachhaltigeres Wirtschaften unter dem Motto „Green New Deal“. Für diese Themen werben die Grünen verstärkt online: „Wir setzen im Wahlkampf überall auf Dialog, vor allem auch über das Netz, denn unsere Wähler sind durch ihren oft hohen Bildungsgrad sehr netzaffin“, sagt Brauer. Die Grünen rund um Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann liegen Ende April in den Umfragen bei elf Prozent.
Der bisherige Koalitionspartner der CDU steht schlechter da. Die FDP betrachtet den schwarz-grünen Flirt mit Sorge und hofft auf ein klareres Bekenntnis der CDU noch vor der Wahl. Denn zum ersten Mal sind in NRW zwei Stimmen zu vergeben, für Wahlkreis und Landesliste. „Da kann eine Koalitionsaussage entscheidend sein“, sagt Ralph Sterck, FDP-Hauptgeschäftsführer und Wahlkampfleiter. Im Wahlkampf präsentiert sich die FDP als Reformmotor und Korrektiv für die Union. Bei der Bundestagswahl kamen die Liberalen in NRW noch auf 15 Prozent, jetzt liegen sie bei der Hälfte. Sterck bleibt jedoch gelassen, FDP-Wähler würden sich traditionell sehr spät entscheiden. Entscheidungshilfe sollen zwei Parteitage und Außenminister Guido Westerwelle bieten, der selbst aus Nordhein-Westfalen kommt und im Wahlkampfendspurt bei keinem wichtigen Auftritt des Spitzenkandidaten Andreas Pinkwart fehlen wird.
Die SPD versucht derweil, Jürgen Rüttgers das Image des „Arbeiterführers“ streitig zu machen. Damit hatte Rüttgers die SPD 2005 zum ersten Mal nach 39 Jahren wieder auf die Oppositionsbank geschickt. Im Gegensatz zum „staatstragenden“ Ministerpräsidenten soll die Spitzenkandidatin Hannelore Kraft „frisch und lebendig“ erscheinen, sagt SPD-Generalsekretär und Wahlkampfchef Michael Groschek: „Es soll wieder Spaß machen, die SPD zu wählen.“ Ende April würden das 34 Prozent der Wähler tun. Die SPD setzt auf die Gerechtigkeit als zentrales Wahlkampfthema. Besonders große Mobilisierungskraft erhofft sie sich vom bundespolitischen Streit um die mögliche Einführung einer Kopfpauschale, die die SPD bei einem Wahlsieg über den Bundesrat verhindern könnte. Dabei verzichtet die Partei auf einen aggressiven Ton im Wahlkampf und setzt auf subtilere Mittel. Im Netz ist das zum Beispiel eine Rüttgers-Parodie des Kabarettisten Matthias Richling, die auch auf den SPD-Seiten zu sehen ist. Darin geht es vor allem die Sponsoring-Affäre. Tatsächlich könnte Rüttgers seinen Amtsbonus mit dem Vermieten von Gesprächszeit an Lobbyisten verspielt haben, meint auch von Alemann, denn damit sei im präsidialen Landesvater wieder der Partei-Politiker sichtbar geworden.

„Hartz IV in NRW abwählen“

Der Wahlkampf der Linken findet noch weitgehend auf der Straße statt. Besonderheit der Kampagne ist ein spezieller Frauenwahlkampf. „Es ist ja kein Geheimnis, dass bisher mehr Männer als Frauen unsere Partei wählen“, sagt Wahlkampfleiterin Katharina Schwabedissen. Spitzenkandidaten sind Bärbel Beuermann und Wolfgang Zimmermann, allerdings ist der Wahlkampf weniger personalisiert als bei der Konkurrenz. Die Linke setzt vor allem auf bundespolitische Themen wie den Rückzug aus Afghanistan. Denn auch in NRW gibt es mehrere Bundeswehrstandorte, und Hartz IV könne man über eine andere Bundesrats-Mehrheit auch in NRW abwählen, meint Schwabedissen. Einem möglichen Linksbündnis steht sie skeptisch gegenüber: „An uns wird eine Abwahl von Rüttgers nicht scheitern. Aber eine SPD, die geschlossen gegen den Mindestlohn abgestimmt hat, und Grüne, die ökologisch und bildungsfreundlich tun, gleichzeitig aber mit der CDU liebäugeln, erschweren einen Bündnisgedanken erheblich.“ Die Forderungen der Linkspartei fänden auch über die Opposition bereits ihren Weg in die Politik.
Weitere Parteien – wie die rechtsradikale Pro-NRW, die sich die Rechte an den Plakat-Motiven gesichert hat, mit denen die Anti-Minarett-Kampagne der Schweizerischen Volkspartei erfolgreich war – spielen im Wahlkampf kaum eine Rolle. Die Piratenpartei kann mit einem Achtungserfolg von ein bis zwei Prozent rechnen. Genau die könnten der alten Liebe Rot-Grün am Schluss fehlen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skandal! – was ist wirklich ein Skandal? und was wird bloss so genannt?. Das Heft können Sie hier bestellen.