Feintuning erforderlich

Die Wahl der Abgeordneten der Volksvertretung ist laut Bundesverfassungsgericht der Grundakt demokratischer Willensbildung. Nach Artikel 38 des Grundgesetzes (GG) werden die Abgeordneten des Bundestags in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Allerdings enthält das Grundgesetz abseits dieser Wahlrechtsgrundsätze keine detaillierten Regelungen für das Wahlsystem; Art 38 Absatz III besagt lediglich, dass das Nähere durch ein Bundesgesetz bestimmt wird. Dem Gesetzgeber wird insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt.
Grundsätzlich kommen zwei Wahlsysteme in Frage: zum einen das Mehrheitswahlsystem und zum anderen das Verhältniswahlsystem. Nach geläufiger Definition siegt bei der Mehrheitswahl der Kandidat, der die – absolute oder relative – Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann. Bei der Verhältniswahl werden die zu vergebenden Sitze im Verhältnis der abgegebenen Stimmen verteilt. Das vom Bundesgesetzgeber geregelte System für die Wahlen des Bundestags, das so genannte personalisierte Verhältniswahlsystem, ist ein Kombinationsmodell, welches das Verhältniswahlsystem mit ausgleichenden Elementen der Mehrheitswahl vereint. In diesem System wird die erste Hälfte der zu besetzenden Bundestagsmandate nach den Grundsätzen der relativen Mehrheitswahl vergeben, während die zweite Hälfte nach den Grundsätzen der Verhältniswahl über Landeslisten der Parteien besetzt werden. Jedem Wähler stehen zwei Stimmen zu, von denen die Erststimme auf einen Wahlkreisbewerber entfällt, die Zweitstimme auf einen Landeswahlvorschlag. Die Einbeziehung des Verhältniswahlsystems soll sicherstellen, dass kleinere Parteien ihren Einfluss im Parlament wahren können. Um aber andererseits eine Zersplitterung der Parteienlandschaft zu verhindern und weiterhin regierungsfähige Mehrheiten bilden zu können, werden bei der Vergabe der Sitze im Rahmen der Verhältniswahlsystems nur solche Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der Stimmen oder drei Direktmandate auf sich vereinigen können.
Allerdings ist das bundesrepublikanische Wahlsystem bis heute nicht unumstritten. Erst kürzlich gab der frühere Bundespräsident Roman Herzog zu bedenken, dass angesichts des Einzugs der Linken als fünfte Partei im Bundestag auch der Einzug einer sechsten Partei nicht mehr ausgeschlossen werden könne. Dies erhöhe die Gefahr von Minderheitsregierungen. Im Zusammenhang mit dem immer wieder aufkommenden Ruf nach einem Mehrheitswahlsystem verweist er auf die Wahlen für das französische Parlament – die Nationalversammlung. In diesem gemilderten Mehrheitswahlsystem werden die Abgeordneten in bis zu zwei Wahlgängen ermittelt. Im ersten Wahlgang ist ein Kandidat lediglich dann gewählt, wenn er mindestens die Hälfte der abgegeben Stimmen erhalten hat. Die Stimmenzahl muss darüber hinaus mindestens 25 Prozent der Anzahl der im Wählerverzeichnis eingetragenen Wahlberechtigten entsprechen. Erreicht keiner der Bewerber diese Mehrheit, erfolgt eine Woche später in einem zweiten Wahlgang eine Stichwahl zwischen den Kandidaten, die im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben.
Vorteil eines solchen Systems ist, dass sich einerseits kleinere Parteien am ersten Wahlgang ungehindert beteiligen können. Nach der ersten Runde einigen sich die Parteien eines politischen Lagers allerdings in zahlreichen Wahlkreisen darauf, gemeinsam einen Bewerber zu unterstützen.
Andererseits entscheidet tatsächlich die Mehrheit der Stimmen über die Mehrheit der Parlamentsmandate. Das ist ein entscheidender Unterschied zu einem Mehrheitswahlsystem, wie es beispielsweise in Großbritannien existiert, in dem zur Wahl des einzelnen Abgeordneten die einfache Mehrheit im Wahlkreis ausreicht. Das kann dazu führen, dass eine Partei, die beispielsweise nur 15 Prozent der Stimmen auf sich vereint, nur deshalb die Mehrheit der Parlamentsmandate erlangt, weil keine andere Partei mehr Stimmen bekommen hat. So kann bei einem solchen System unter Umständen landesweit letztendlich eine Minderheit der Stimmen zur Mehrheit der Parlamentsmandate führen.
Letztlich haben sowohl das französische als auch das britischen Mehrheitswahlsystem gemein, dass sich im Prinzip zwei politische Lager beziehungsweise Parteien gegenüberstehen, während – anders als in der Bundesrepublik – kleinere Parteien kaum eine Chance haben, an der Regierung beteiligt zu werden. Dabei hat sich in der Bundesrepublik die Beteiligung kleinerer Parteien bislang auch nicht wirklich als problematisch erwiesen.
Zudem ist im europäischen Vergleich das Verhältniswahlsystem das häufigere System. Dies gilt umso mehr mit Blick auf die relativ jungen osteuropäischen Staaten, die sich größtenteils für ein Verhältniswahlrecht entschieden haben.

Nachbesserungsbedarf

Unser Wahlsystem hat sich grundsätzlich als praktikabel erwiesen. Dennoch besteht Nachbesserungsbedarf bei Details. So zum Beispiel laut Bundesverfassungsgericht beim sogenannten negativen Stimmgewicht. In seiner Entscheidung hierzu hat es den Gesetzgeber aufgefordert, das „kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“. Das wird die Aufgabe des nächsten Bundestags sein. In diesem Zusammenhang könnten darüber hinaus Chancen bestehen, den Sorgen von Roman Herzog vor einer allzugroßen Zersplitterung der Parteienlandschaft durch eine Anpassung des Wahlrechts Rechnung zu tragen. Die Befürchtungen der vermeintlich kleinen Parteien, mittelfristig den Einzug in den Bundestag zu verpassen, dürfte angesichts einer Stabilisierung bei komfortablen Werten um die zehn Prozent geringer geworden sein. Im Übrigen ist die Handlungsfähigkeit der Bundestagsmehrheiten eher durch von Fall zu Fall wechselnde politische Lager im Bundesrat als durch ein unzureichendes Wahlrecht beschränkt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beruhigungsmittel- Regierungskommunikation in der finanzkrise. Das Heft können Sie hier bestellen.