Die Jugend-Wahlkämpfer

Samstagmorgens in einem Einkaufszentrum in Neukölln: Eine Handvoll junger Leute steht im Eingang der Gropius-Passagen, genau zwischen Burger King und einem Eiscafé. Die Nachwuchspolitiker verteilen Luftballons und Flyer, sie haben zwei Stände mit Sonnenschirmen aufgebaut. Die Aktivisten sind Mitglieder der Jungen Union, der Jugendorganisation der CDU. Einer trägt ein oranges Partei-T-Shirt, die anderen ihre Freizeitkleidung. Sie bemühen sich um die Passanten. Eine Frau sagt krächzend: „Nee, bleibt mir vom Leib.“ Eine andere beschwert sich über die SPD. Die Kinder haben es vor allem auf die Luftballons abgesehen. Es ist Wahlkampf, Jugendwahlkampf.
Ob Junge Union, Jungsozialisten (Jusos) oder Jung­e Liberale (Julis): Die Nachwuchsorganisationen sind in ihren Forderungen radikaler als die etablierten Parteien und frecher in ihren Politaktionen. Sie haben eigene Plakate, eigene Programme und sogar eigene Kandidaten. Sie machen eigenen Wahlkampf. Direkt gewählt werden können die Verbände aber nicht. Trotzdem läuft ihr Engagement nicht ins Leere. Auch die Nachwuchspolitiker streben nach Einfluss, auch sie wollen mitreden. Jeder hat dafür seine eigene Strategie.
„Wir verstehen uns als eigenständigen Jugendverband“, sagt Kathrin Henneberger. Die 22-jährige Studentin ist Sprecherin der Grünen Jugend, der Nachwuchsorganisation von Bündnis 90/Die Grünen. Zusammen mit Max Löffler steht sie dem Bundesverband vor. Ihre Wahlkampfstrategie baut vor allem auf die Initiative der Mitglieder: „Jeder in der Grünen Jugend hat die Möglichkeit, den Wahlkampf mitzugestalten. Wir sind ein basisdemokratischer Verband.“ Die Inhalte werden auf einem Bundeskon­gress festgelegt, die Bundesgeschäftsstelle gibt danach nur noch Starthilfe und Tipps für den Wahlkampf. Ob die Ortsgruppen dann klassische Informationsstände aufbauen, Straßentheater oder so genannte Flashmobs inszenieren, bleibt ihnen überlassen. Sie können auch eigene Themenschwerpunkte setzen.
Anders sieht es bei den Julis der FDP aus. „Eine Kampagne ist dann schlecht, wenn sie zerfasert“, sagt der 27-jährige Bundesvorsitzende Johannes Vogel. Zwar haben die Jungliberalen in der Ausgestaltung des Wahlkampfs Freiheiten, die Themensschwerpunkte sollen die Ortsgruppen aber nicht variieren. „Deswegen geben wir uns ja auch ein Wahlprogramm.“ So wollen die Julis ihre Kräfte bündeln und eine stärkere Außenwirkung erzielen.

Ein Bausatz für den Wahlkampf

Die Jusos in der SPD haben dagegen lokale Eigeninitiative gleich zum Konzept erklärt. Es ist dieses Jahr das erste Mal, dass sie die Gesamtverantwortung für ihren Wahlkampf tragen. Ihre „Jungen Teams“ sind für je einen Wahlkreis verantwortlich und können dort mit einer Art „Bausatz“ ihre eigene politische Arbeit machen. Die Wahlkampfzentrale der Jusos in Berlin bietet dafür zum Beispiel Flyer an, die die Teams mit regionalen Themenschwerpunkte bedrucken können. „Wir sind nur beratend tätig. Die Jusos in Münster haben beispielsweise Agrarsubventionen zum Thema im Europawahlkampf gemacht“, sagt Robert Spönemann. „Das Thema spielt in ihrer Region eine große Rolle. Sie wollen, dass die Subventionen lieber in die Bildung investiert werden“. Spönemann ist Sprecher des Juso-Bundesvorstands und arbeitet in der Wahlkampfzentrale der Jusos im Willy-Brandt-Haus.

Grassroots-Bewegung

Besonders im Internet ist Eigeninitiative gefragt. Ob auf Facebook, StudiVZ oder Twitter, überall rekrutieren die Jugendverbände Unterstützer für Angela Merkel oder Frank-Walter Steinmeier. Die Nutzer sollen bei Gleichaltrigen für die Parteien werben, sich originelle Wahlkampfaktionen ausdenken und Botschaften transportieren. Langsam entsteht ein ganzes Heer von Freiwilligen, mit Tausenden von Ideen. Im Gegensatz zu den älteren Politikergenerationen in ihren Mutterparteien sind die Jungpolitiker mit dem Internet groß geworden. Für sie wäre es völlig abwegig, dort nicht um Wählerstimmen zu werben.   
In den Gropius-Passagen läuft es inzwischen eher schleppend für die Junge Union. Nur vereinzelt betreten Menschen das Einkaufszentrum. Mittlerweile hat der Landesvorsitzende Conrad Clemens Nachschub an Material besorgt. Jetzt tragen alle Aktivisten die orangen T-Shirts. Auf ihnen steht: Zeller-Team. Sie machen Europawahlkampf für Jo­achim Zeller, den Spitzenkandidaten der Berliner CDU. Zeller ist selbst anwesend, versucht mit Passanten ins Gespräch zu kommen. Einer der Jung-Unionisten sagt laut: „Zeller für Berlin“. Plötzlich erscheint ein Wachmann und versucht, die Wahlkämpfer zu verscheuchen, doch die lassen sich nicht beeindrucken. Sie haben eine Standgenehmigung. Der Sicherheitsmann muss wieder gehen.
 Das Streben nach politischer Einflußnahme ist überall unterschiedlich ausgesprägt. Die Linksjugend Solid, der Jugendverband der Linkspartei, zum Beispiel stellt Bedingungen an seine Kandidaten. „Wir haben gewisse Ansprüche gegenüber unserer Mutterpartei und personalisieren unsere Inhalte mit unserem Europaspitzenkandidaten Sascha Wagener“, sagt Haimo Stiemer. Stiemer ist Mitglied des Sprecherrats der Linksjugend, dem höchsten Gremium des Verbands. Im Nominierungsverfahren müssen sich die Kandidaten zu den Inhalten des Jugendverbands bekennen und sich verpflichten, diese später im Parlament zu vertreten. Auch einen Teil ihrer Diäten müssen sie dann abführen, um politische Projekte der Linksjugend zu finanzieren. Wer für den Verband in Brüssel sitzt, der solle auch dezidiert Ansprechpartner für die Organisation sein, sagt Stiemer. Natürlich machen sie auch Wahlkampf für die Gesamtpartei, sie selbst stehen nicht zur Wahl, und ihre Kandidaten treten schließlich für Die Linke an.
Die Jusos haben in ihrer Partei zwar einen Ruf als Querulanten, setzen aber im Gegensatz zu der Linksjugend nicht primär auf machtpolitischen Einfluss. „Wir stehen nicht mit einem Kandidaten direkt zur Wahl, sondern wir unterstützen den Wahlkampf der SPD. Wir haben nur einen anderen Schwerpunkt, weil wir auch eine andere Zielgruppe haben“, sagt Spönemann vom Juso-Bundesvorstand.
Auch die Junge Union gilt als eher linientreu. Mitte Mai hat sie das deutsch-französische Freundschaftsfest mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Kanzlerin Angela Merkel veranstaltet. „Die Junge Union verfügt bundesweit auf allen Ebenen über organisationsstarke und wahlkampferprobte Verbände, die erneut das Rückgrat von CDU und CSU im Wahlkampf sind“, sagt Thomas Dautzenberg, Bundesgeschäftsführer der Jungen Union. Die Ortsgruppen sollen eigene Kandidaten zwar auf regionaler Ebene unterstützen. Letztlich steht aber vor allem die Kanzlerin im Mittelpunkt. „Angela Merkel ist gerade bei Jüngeren sehr beliebt, diesen Bonus werden wir verstärken“.     

Eigene Vorschläge

Johannes Vogel dagegen ist stolz auf seinen eigenen Spitzenkandidaten. „Alexander Alvaro ist von den Julis auf Platz sechs der Bundesliste gebracht worden. Er setzt Juli-Inhalte im Europäischen Parlament um und hält Kontakt zu uns, er ist präsent.“ Alvaro tritt nach 2004 bereits zum zweiten Mal als Europakandidat der Jungen Liberalen an. Vogel ist selbstbewusst: „Wir sehen uns in dieser Hinsicht wie einen Landesverband der FDP. Deswegen machen wir bei personellen Entscheidungen wie Listen und Vorstandswahlen eigene Vorschläge.“ Vogel ist Mitglied des Bundesvorstands der FDP und kann so auch auf der Bundesebene agieren.  
Europakandidat Joachim Zeller hat sich inzwischen mit seinen Unterstützern tiefer in das Einkaufszentrum vorgewagt. Die kleine orange Gruppe, mit Luftballons und Flyern bewaffnet, sorgt dabei für Aufmerksamkeit. Ein älteres Ehepaar schaut ungläubig, als es Zeller vor sich sieht. Ist das wirklich der Mann von der Postkarte, die sie in den Händen halten? Ein Mitglied der Jungen Union hat ihnen eine Wahlkampfkarte in die Hand gedrückt. Die jungen Leute zeigen sich engagiert. „Heute Nachmittag haben wir noch ein Beachvolleyball-Turnier und morgen ein Fußballturnier. Das ist auch Teil des Wahlkampfs“, sagt Conrad Clemens. In der Landesgeschäftsstelle hat Clemens außerdem ein Wahlkampf-Café einrichten lassen, in dem sich Bürger informieren und mit den Kandidaten treffen können.
Viele der Jungpolitiker betonen ihre eigenen Stärken und sparen auch nicht mit Kritik an den  Parteien. „Unser Wahlkampfslogan ist: ,Nicht nur Opa für Europa‘ “, sagt Kathrin Henneberger. Die jungen Grünen kritisieren, dass viele Parteien nur altgediente Politiker nach Brüssel schicken und damit die Wichtigkeit der EU für die Jugend mißachten. Sie haben gleich drei Spitzenkandidaten für die Europawahl aufgestellt, für die sie besonders Wahlkampf machen. Selbstverständlich ist das aber nicht. „Wir müssen unsere Plätze auf den Landeslisten jedes Mal hart erkämpfen. Wir werden aber sehr ernst genommen, sowohl inhaltlich als auch mit unseren Kandidaten.“    
Zur politischen Einflussnahme gehört auch, dass die Jugendverbände ihre Themen plazieren können. Was die Jugendverbände später davon in ihren Mutterparteien durchsetzen können, ist jedoch eine andere Sache. Johannes Vogel sieht seine Julis als erfolgreiche Reformer: „Wir haben jahrelang immer wieder gesagt, die FDP muss das Thema Bürgerrechte wieder stärker in den Vordergrund stellen. Heute können wir sagen, dass das ein zentrales Thema der Partei ist.“ Schon 2001 konnten sie nach vielen Diskussionen die Abschaffung der Wehrpflicht als Thema in der FDP durchsetzen. Auf diese Weise gestalten sie Bundespolitik mit.
„Themen, die im Wahlkampf besonders greifen, sind zum einen Bildungspolitik, weil die Jugendlichen direkt betroffen sind, und zum anderen antifaschistische Arbeit, also Kampf gegen Rechts“, sagt Haimo Stiemer von der Linksjugend. Auch Stiemer und seine Mitstreiter kritisieren ihre eigene Partei: „Wir wollen einen generellen Austausch auf den Listen und nicht, dass 90 Prozent der alten Kandidaten wieder auf den oberen Plätzen zu finden sind. Das kritisieren wir  durchaus an der Mutterpartei, dass es da eine gewisse Erstarrung gibt.“

Hohe Parteiämter

Zur Profilierung trägt auch das eigene Design bei. Grüne Jugend und Linksjugend entwickeln es sogar komplett selbst, die anderen haben dafür Agenturen. Die Verbandsmitglieder versuchen sich engagiert und kreativ zu geben. Der frühere Juso-Vorsitzende und Altkanzler Gerhard Schröder hat es vorgemacht: Wer eine politische Karriere anstrebt, sollte sich schon in jungen Jahren einen Namen machen, am Besten in einer der Jugendorganisationen.  
In Neukölln findet der Ausflug der Unions­-Anhänger plötzlich ein ungewolltes Ende. Der Wachmann ist wieder da. Doch dieses Mal weist er die Gruppe zurück an ihren Stand. Die Genehmigung gelte nur für den Standbereich, nicht für das übrige Gebäude. Zeller und seine jungen Aktivisten müssen den Rückzug antreten. Der Motivation tut das aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Junge Union Berlin setzt ihre Arbeit noch bis zum Mittag fort. Dann geht es zum Beachvolleyball. Auch das ist Wahlkampf, wie Conrad Clemens sagt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wahlkampf – Diesen Sommer in Ganz Deutschland. Das Heft können Sie hier bestellen.