Der Zweck und die Mittel

Aktivismus

Mitte Februar stand Carla Hinrichs in Berlin vor Gericht. Sie hatte in der Woche zuvor zusammen mit anderen Aktivisten morgens um 7.40 Uhr die Autobahnausfahrt am Spandauer Damm blockiert. Vor dem Amtsgericht Berlin verteidigte sie die Aktion, indem sie auf ihr Ziel verwies: Sie wolle das Leben auf der Erde schützen. Der Richter des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten hielt dagegen: „Es geht nicht um Ihr Ziel, sondern um die Art und Weise.“

Mit der Art und Weise ihrer Proteste steht die Letzte Generation seit Monaten in den Schlagzeilen. Um ihre Ziele geht es in den Beiträgen, wenn überhaupt, oft nur am Rande. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen erboste Autofahrer, entsetzte Museumsdirektorinnen und die Thailand-Reise zweier Mitglieder der Letzten Generation. Die „Bild“-Zeitung schreibt fast durchgängig von „Klima-Klebern“ und „Klima-Chaoten“. Die Bezeichnung „Klimaterroristen“ wurde zum Unwort des Jahres gekürt. Besonders stark spitzte sich die Debatte nach dem Unfalltod einer Berliner Radfahrerin zu, als kurz die Frage im Raum stand, ob sie besser hätte versorgt werden können, wenn es an diesem Tag in Berlin keine Straßenblockaden gegeben hätte.

Auch Stimmen aus der Bundesregierung verschärften zuletzt ihren Ton. Kurz nach dem tödlichen Fahrradunfall warnte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt vor der „Entstehung einer Klima-RAF“. Nachdem der Flugverkehr auf dem Hauptstadtflughafen BER zeitweise lahmgelegt wurde, nannte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Aktion „nicht nur nicht verständlich, sondern auch hochgefährlich“. Und Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) sagte im Interview mit dem „Stern“: „Am Ende braucht ein politisches Ziel in einer Demokratie eine Mehrheit. Und dabei helfen Protestformen, die verärgern, nicht wirklich.“ Bei der Letzten Generation erlebe man eine „Radikalisierung der Wenigen“.

Im historischen Vergleich sind Blockaden noch moderat

Letzte-Generation-Sprecher Karim Dillhöfer sagt, er finde es normalerweise auch falsch, sich auf die Straße zu setzen und den Verkehr zu unterbrechen. „Aber wir gehen nicht auf die Straße, um gegen die Autofahrenden zu protestieren, sondern weil wir wissen, dass wir ignoriert werden, wenn wir nur vorm Bundeskanzleramt sitzen.“ Dillhöfer wünscht sich, dass die Leute „diesen ersten Irritationsmoment überwinden und die Dringlichkeit der Klimakrise nachvollziehen“. In Umfragen von Anfang November, kurz nach dem Fahrradunfall, gaben jedoch rund 80 Prozent der Menschen hierzulande an, dass ihnen die Protestformen der Letzten Generation zu weit gehen. Dabei zeigte eine Forsa-Umfrage aus demselben Monat, dass der Klimawandel den Menschen hierzulande die größten Sorgen macht – mehr als Krieg und hohe Energiekosten.

Dabei seien die Protestpraktiken der Letzten Generation im historischen und internationalen Vergleich relativ moderat, sagt Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin. „Sie alle schließen etwa explizit und aus Prinzip Gewalt gegen Personen aus, was sie zu Beispielen des zivilen Ungehorsams macht und klar von gewaltsamem Widerstand oder gar Terrorismus abgrenzt.“ Der Eindruck der Radikalisierung sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Blockaden im Straßenverkehr und die Aktionen in Kunstmuseen gezielt auf Störung und Provokation angelegt seien, um politischen Druck aufzubauen. „Sicherlich sind solche Blockaden für den Anfang ein effektives Mittel, weil mit wenigen Leuten relativ viel Aufmerksamkeit erzielt werden konnte.“

Zudem sind sie eines der vergleichsweise wenigen Mittel, die jungen Menschen zur Verfügung stehen, die noch keine wichtigen Positionen in Wirtschaft oder Politik besetzen. „Diejenigen, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind, haben keine Interessenvertretung und kaum ein Mitspracherecht“, sagt Celikates. „Das gilt sowohl intergenerationell als auch international. Da leidet die Demokratie.“ Um hierzulande Mitsprache zu ermöglichen, fordert die Letzte Generation – neben der Einführung eines Tempolimits und des 9-Euro-Tickets – einen Gesellschaftsrat. Der ähnelt dem Bürgerrat, wie ihn auch Extinction Rebellion fordert. Bisher gab es drei bundesweite Bürgerräte in Deutschland. Einer davon widmete sich 2021 der Klimapolitik. Das Bürgerbegehren Klimaschutz und die Scientists for Future hatten ihn initiiert. Im Unterschied dazu soll der Gesellschaftsrat von der Bundesregierung einberufen werden. „Nur dann wird auch überall darüber berichtet werden“, sagt Klimaaktivist Karim Dillhöfer. „Nur dann wird dem Thema die Aufmerksamkeit zuteil, die es braucht.“

„Ein toxisches System“

Auch als 2019 immer mehr Schüler bei Fridays for Future mitmachten und in den Schulstreik traten und die Aktivisten von Extinction Rebellion den Kreisverkehr rund um die Siegessäule blockierten, gab es eine Debatte darüber, wie weit ziviler Ungehorsam gehen darf. „Uns wurden 2019 auch diese Fragen gestellt“, sagt Annemarie Botzki aus dem Presseteam von Extinction Rebellion. „Damals war relativ schnell klar, dass das legitim ist und in einer Demokratie gebraucht wird.“ Für Botzki geht es „voll am Thema vorbei“, wenn in den Medien kritisiert wird, dass die Letzte Generation die Spitze des Weihnachtsbaums am Brandenburger Tor absägt, während gleichzeitig Wälder abgeholzt werden. „Diese Unausgewogenheit der Diskussion sieht man an vielen Stellen“, sagt Botzki. „Klimaaktivist*innen werden weggesperrt, während Firmenchefs, die großflächig Ökosysteme zerstören, von der Politik gehört werden.“ Aber solche „Aufregerstorys“ würden anscheinend funktionieren, sagt Botzki.

Mittlerweile versucht die Bewegung, ihre Aktionen in Richtung Politik und Wirtschaft zu verschieben. Bei den letzten „Rebellionswochen“, die zweimal im Jahr in Berlin stattfinden, blockierte Extinction Rebellion zum Beispiel den Eingang zur Geschäftsstelle des Deutschen Bauernverbands und die Straße vor dem Bundeslandwirtschaftsministerium. Auch bei HeidelbergCement und der Berliner Bayer-Zentrale standen die Klimaschützer schon vor der Tür. „Man muss als Bewegung natürlich immer wieder die Strategie neu überdenken“, sagt Aktivistin Botzki. Aber auch Straßenblockaden nutzt Extinction Rebellion weiterhin als Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Meist in Form von sogenannten Swarmings, kurzzeitigen Blockaden für ein, zwei Ampelphasen. Die Aktivisten haben Banner, Flyer und Kekse dabei und versuchen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Es gehe nicht darum, die Einzelperson, die im Auto sitzt, zu verurteilen, sagt Botzki. „Es ist ein toxisches System.“

Auch bei Fridays for Future habe es anfangs „eine enorme Debatte“ über die Schulstreiks gegeben, erinnert sich Sprecherin Annika Rittmann. „Gerade am Anfang konnte man kaum inhaltliche Diskussionen führen, ohne dass jemand die Streiks kritisiert hat.“ Erst mit den großen Demonstrationen im September 2019 – allein in Berlin kamen 270.000 Menschen – habe sich das geändert. „Da hatten wir so ein großes Momentum, dass das nicht mehr kleinzureden war.“ Sowohl der öffentliche Zuspruch von Entscheidern habe den Diskurs verschoben als auch die Tatsache, dass an vielen Esstischen zu Hause darüber gesprochen wurde.

Demonstrationen sind anschlussfähig

Friday for Future setzte neben den Schulstreiks bisher vor allem auf Demonstrationen, war jetzt aber zum Beispiel auch in Lützerath, wo Demonstranten den regulären Zug verließen und bis zur Abrisskante vordrangen. Rittmann verteidigte die Demonstranten anschließend: Auch die Bundesregierung halte sich nicht an geltendes Recht – wie die Einhaltung der Bestimmungen des Pariser Klimaschutzabkommens. Aktivistin Carla Reemtsma sagte schon im Herbst 2021 in einem Interview mit der „taz“: „Wenn wir wieder stärker über Dringlichkeit sprechen wollen, braucht es eine Radikalisierung der Aktionsformen. Klima ist so sehr im Mainstream angekommen, dass jede und jeder sagen kann, er oder sie ist für Klimaschutz, aber gleichzeitig jede einzelne Klimaschutzmaßnahme ablehnen kann.“

Im Gespräch mit p&k sagt Rittmann, es brauche die verschiedenen Aktionsformen der unterschiedlichen Klimabewegungen. „Wir sind regelmäßig im kritischen Austausch darüber.“ Bei Fridays for Future werde es weiterhin Demonstrationen geben, um niedrigschwellige Angebote zu machen und anschlussfähig zu bleiben. „Ziviler Ungehorsam kommt hinzu, um eben zu­ ­stören.“
Ähnlich erklärte Carla Hinrichs dem Richter vor dem Berliner Amtsgericht den Sinn der Straßenblockaden der Letzten Generation: „Erst die Unterbrechung sorgt dafür, dass das Thema die notwendige Aufmerksamkeit bekommt.“ Der Richter zeigte sich unbeeindruckt: „Der Mensch wird sowieso aussterben. Das lässt sich nicht verhindern, dafür ist er zu dumm.“ Das dürften die meisten Aktivisten anders sehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 142 – Thema: Künstliche Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.