„Das Problem ist, dass Desinformation oft einen wahren Kern hat“

Fake News

Herr Güllner, manche ­sprechen vom Ukraine-Krieg als ­erstem großem Informationskrieg. ­Würden Sie zustimmen?

Ja und nein. Information hat in jedem Krieg eine wesentliche Rolle gespielt, über Jahrhunderte. Verändert hat sich die Art und Weise, wie diese Information verbreitet wird. Da spielen soziale Medien natürlich eine ganz wichtige Rolle.

Was ist heute anders?

Neu ist, dass es nicht mehr nur um das Verbreiten bestimmter Narrative geht, sondern immer mehr auch darum, die Kontrolle des Informationsraums als strategisches Moment auszunutzen. Das ist tatsächlich etwas, was wir erst seit ein paar Jahren sehen. Da geht es nicht nur um Propaganda, sondern darum, das Informationsumfeld kontrollieren und beeinflussen zu können. Nicht speziell für einen Konflikt, das ist ein sehr viel umfassenderer Ansatz.

Sprechen Sie jetzt über Russland? Oder machen das auch andere Staaten?

Es gibt eine Studie des Oxford Internet Institute dazu, die zu dem Ergebnis kommt, dass 80 Staaten so etwas machen. Die Studie ist schon etwas älter, und mit der Methodik muss man ein bisschen vorsichtig sein – aber ich glaube, es ist unzweifelhaft, dass das ein großer Trend ist.

Lutz Güllner leitet das Referat Strategic Communication, Task Forces and Information Analysis im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Güllner leitet das rund 40-köpfige Team seit 2017, vorher war er Referatsleiter Kommunikation in der Generaldirektion Handel. Die bekannteste Task Force des Referats, die East StratCom Task Force, gibt es seit 2015. Andere Task Forces beobachten Desinformationsaktivitäten in China, im westlichen Balkan, im südlichen Mittelmeer, im arabischsprachigen Raum. Auf der Website euvsdisinfo.eu klärt die East StratCom Task Force über Kreml-freundliche Desinformation auf und pflegt eine Disinfo-Datenbank mit mittlerweile mehr als 14.000 Einträgen. (c) European Union
Lutz Güllner leitet das Referat Strategic Communication Task Forces and Information Analysis im Europäischen Auswärtigen Dienst EAD Güllner leitet das rund 40 köpfige Team seit 2017 vorher war er Referatsleiter Kommunikation in der Generaldirektion Handel Die bekannteste Task Force des Referats die East StratCom Task Force gibt es seit 2015 Andere Task Forces beobachten Desinformationsaktivitäten in China im westlichen Balkan im südlichen Mittelmeer im arabischsprachigen Raum Auf der Website euvsdisinfoeu klärt die East StratCom Task Force über Kreml freundliche Desinformation auf und pflegt eine Disinfo Datenbank mit mittlerweile mehr als 14000 Einträgen c European Union

 

Wie grenzen Sie diese ­Kontrolle des Informationsraums von ­Propaganda ab?

Ich bin sehr vorsichtig mit dem Wort Propaganda. Das große Problem an der Desinformation ist, dass sie eben oftmals nicht nur konstruiert ist, sondern einen kleinen oder manchmal auch größeren wahren Kern hat. Wichtig ist auch, wie diese Information zur Verfügung gestellt wird und wie sie manipuliert wird. Diese Manipulation kann über die Inhalte selbst passieren und über vermeintliche Beweismittel, die dafür angeführt werden. Sie kann aber auch über Identitäten geschehen, scheinbar genuine Stimmen oder scheinbare Meinungen, die überhaupt gar keine Meinungen sind, weil sie nämlich staatlich organisiert sind und manchmal auch gar nicht als Individuen existieren. Und dann gibt es noch die Manipulation der Reichweite durch technische Mittel. Wir unterschätzen diese Manipulation enorm. Wir verharren viel zu sehr bei der Frage: Ist der Inhalt richtig oder falsch?

Wie geht die russische Regierung dabei vor?

Das Interessante am Vorgehen des russischen Staatsapparats ist augenscheinlich, dass wirklich das gesamte Spektrum genutzt wird. Das fängt an bei relativ legitimen Public-Diplomacy-Aktivitäten über Botschaften und offizielle Regierungsvertreter, geht weiter in die staatlich kontrollierten und beeinflussten Medien und sogenannte Informationsportale, die man aufgebaut hat und die zum Teil auch sehr aktiv auf Deutsch kommunizieren, wie zum Beispiel News Front. Dann kommt der Bereich der sozialen Medien. Interessant ist, wie aktiv staatliche Stellen insbesondere das diplomatische Netzwerk nutzen, um zum Beispiel die Sanktionen gegen Russia Today zu umgehen. Das ist ein relativ neues Phänomen, das noch mal den Beweis liefert, wie sehr diese Strukturen staatlich kontrolliert und gesteuert sind.

Haben Sie ein ­konkretes Beispiel dafür, wie die ­Aktivitäten dieser Akteure ­ineinandergreifen?

Als beispielsweise das Krankenhaus in Mariupol getroffen wurde, hat man das erst diskreditiert und behauptet, es wäre durch Schauspieler initiiert worden. Dann hat man so getan, als wäre es überhaupt nicht passiert, und dann hat man eine Art Gegennarrativ konstruiert. Gerade in diesen russischen Desinformationsaktivitäten werden oftmals auch Schauspieler eingesetzt, um sogenannte News-Berichte zu produzieren, die dann eben durch diese Kanäle verbreitet werden, die sich dann wiederum gegenseitig retweeten oder sich gegenseitig als Quelle benennen.

Wie können Sie nach­weisen, dass das Schauspieler sind?

Das ist sehr schwierig. Man braucht hier forensische Möglichkeiten. Wir machen das nicht allein, da gibt es ja sehr viele Akteure, gerade im Journalismus oder in der Forschung, wie zum Beispiel Bellingcat. Es gibt einige, die sich darauf spezialisiert haben, sich diese Dinge genau anzusehen.

Was sind denn genau die Aufgaben der Task Forces, die Sie leiten, insbesondere der East StratCom Task Force?

Mein Team beschäftigt sich mit diesen relativ neuen Phänomen der Informationsmanipulation, die ganz gezielt durch externe Akteure eingesetzt wird, entweder gegenüber der EU oder gegenüber anderen Partnern. Wir haben 2015 angefangen mit der East StratCom Task Force. Das hat sich über die Zeit weiterentwickelt, und wir schauen uns auch andere Akteure an.

Sehen Sie sich als eine Art Think-Tank?

Ich sehe die Arbeit meines Teams ein bisschen als Taktgeber. Wir schärfen einerseits das Bewusstsein über dieses Problem: Wie sieht es aus? Was kann man dagegen machen? Und wie kann man andere Regierungen innerhalb der EU, aber auch Nichtregierungs­organisationen, gerade im Bereich Journalismus, Akademia und so weiter, motivieren, noch aktiver zu werden? Denn am Ende ist das eine gesellschaftliche Aufgabe.

Auf Ihrer Website EUvsDisinfo klären Sie in 15 Sprachen über russische Desinformation auf. Wen wollen Sie mit dieser Website und den dazugehörigen Kanälen erreichen?

Genau diese Multiplikatoren. Wir wollen einen Beitrag leisten zu einem größeren Mosaik, das durch andere vervollständigt werden muss. Das heißt, wir sehen das als Motivation für die eine oder andere Organisation, für die eine oder andere Regierung, da noch mal genau hinzugucken. Wir arbeiten nur mit sogenannter Open Source. Ich weiß, dass sich auch die Geheimdienste der verschiedenen Mitgliedsstaaten mit dem Thema beschäftigen, aber wir wollen bewusst nur öffentlich zugängliche Quellen benutzen.

Das, was normale ­Menschen auch finden könnten.

Ja, entweder zufällig oder weil man selbst zur Zielscheibe geworden ist. Wichtig ist, dass wir nicht davon ausgehen, dass es ein russisches Narrativ gibt und wir machen ein Gegenarrativ – und dann ist das Problem gelöst. Sondern wir zeigen, wie diese Strategien entworfen, implementiert und ausgerollt werden. Dadurch kann man viel mehr erreichen als durch sogenannte Gegennarrative oder Gegendarstellungen.

Ihre Datenbank zählt inzwischen mehr als 14.000 Einträge für ­Des­information. Wie entscheiden Sie, was Sie dort auflisten?

Das ist nur die Spitze des Eisbergs: Beiträge, die von sogenannten Outlets stammen, von denen wir ganz genau wissen, dass sie mit dem russischen Staat oder dem russischen Informations-Ökosystem zu tun haben, wie Sputnik, RT und andere. Damit wollen wir immer wieder zeigen: Wie funktioniert das? Welche Muster werden benutzt? Der einzelne Artikel oder der einzelne Fall an sich ist gar nicht so interessant, viel interessanter ist, wie sehr diese Fälle untereinander vernetzt sind. Das kann man an diesen 14.000 Fällen gut ablesen. Es geht wie gesagt nicht darum zu zeigen, dass der Inhalt falsch ist – in vielen Fällen ist er auch falsch, aber in manchen ist es sozusagen ein bisschen eine Interpretationsfrage. Interessant ist eben vielmehr, dass sehr unterschiedliche Outlets das gleiche Narrativ zum gleichen Zeitpunkt manchmal praktisch im gleichen Wortlaut veröffentlichen, was eben von der Taktik zeugt, Verstärkung über nicht authentische Mittel zu verbreiten.

Welche Rolle spielen Influencer dabei?

Schwierig einzuschätzen, weil man es irgendwie quantifizieren muss. Aber natürlich gibt jeder echt diskutierende Influencer, jede Influencerin diesen Narrativen eine gewisse Legitimität, weil es eine echte Person mit echtem Back­ground ist. Es gibt ganz interessante Recherchen zu diesen Fällen: Wie sehr sind diese Influencer Sprachrohre für existierende Netzwerke? Aber das geht über das hinaus, was wir untersuchen.

Was glauben Sie denn, wer empfänglich für diese Desinformation ist? Wie findet die Propaganda diese Menschen, oder wie finden sie die Desinformation?

Da gibt es widersprüchliche Taktiken. Die eine ist sehr breit angelegt, man probiert einfach Dinge aus. Wir haben das mal auf Englisch charakterisiert als „Dreck an die Wand schmeißen und gucken, was hängen bleibt“. Dann sieht man, was hängen bleibt, und macht da weiter. Und dann gibt es auch sehr gezielte Aktivitäten, die auf empfängliche Bevölkerungsgruppen zielen. Da muss man ein bisschen vorsichtig sein, dass man nicht gewisse Bevölkerungsgruppen als besonders empfänglich und dadurch als besonders dumm charakterisiert. Man muss einfach wissen, dass es gewisse Narrative gibt, die bei einigen große Resonanz haben. Ein Beispiel kommt immer wieder auf: dass gerade Querdenker-Netzwerke extrem interessant sind.

Die viel zitierte Spaltung, besonders in den USA, aber auch hierzulande, wie viel Anteil hat der russische Staat Ihrer Meinung nach daran?

Das kann man nicht quantifizieren. Desinformation ist wie gesagt eine breitere gesellschaftliche Herausforderung, die kann man nicht nur auf externe Akteure oder auf Russland zurückschieben. Wir haben in unserer modernen Informationsgesellschaft einfach neue Formen des Informationskonsums. Die Gatekeeper-Funktion des Journalismus ist weggefallen. Dadurch haben wir eine ganz neue Situation.
Inwiefern beeinflusst diese Einmischung in die Debatte auch die politische Kommunikation?
Soziale Medien leben natürlich von Individuen, die kommunizieren, und da tun sich staatliche Institutionen, Regierungen oder Ministerien sehr schwer. Es gibt ein Umdenken, es gibt auch gute erste Ansätze. Als mögliche Zielscheibe muss man sich damit auseinandersetzen: Wie gehe ich mit diesem Thema um? Mache ich das durch Gegennarrative oder durch eigene, bessere Kommunikation? Das ist eine Riesenherausforderung für den politischen Sektor.

Welche Politiker machen das aus Ihrer Sicht gut?

Ich möchte keine Beispiele nennen, aber es gibt hervorragende Aktivitäten, gerade in den sozialen Medien, wirklich authentische Kommunikation – nicht nur mit klarem Inhalt, sondern auch auf die Zielgruppe ausgerichtet. Es gibt ja in der Praktik der Kommunikatoren die goldene Regel, nicht nur die perfekten Inhalte zu liefern, sondern diese Inhalte auch an die Zielgruppe anzupassen, die man erreichen möchte. Das ist der Schritt, den die Institutionen noch gehen müssen.

Sie haben mal gesagt, man müsse die Resilienz der Nutzer stärken.

Die Stärkung der Resilienz ist ein Riesenbereich. Da geht es darum, die Medienkompetenz zu fördern und den Qualitätsjournalismus sowie zivilgesellschaftliche Strukturen zu unterstützen. Zum Beispiel, indem man NGOs mit Journalisten oder Journalisten mit Faktencheckern vernetzt. Resilienz ist eher eine mittel- bis langfristige Strategie, also eine Investition in die Zukunft. Aber sie muss dringend gemacht werden. Dazu kommen – neben dem Schärfen des Bewusstseins der Öffentlichkeit – regulatorische Maßnahmen wie der Digital Services Act und der Code of Practice, ein gemeinsamer Verhaltenskodex verschiedener Online-Plattformen und -Akteure. Und weitere Instrumente wie Sanktionen, die wir ja zum Beispiel gegen RT und Sputnik verhängt haben. Ein scharfes Schwert, aber aus meiner Sicht absolut gerechtfertigt.

Es gibt Kritik: Man müsse es aushalten, dass es diese Medien gibt.

Man muss sehr deutlich unterscheiden: Was ist ein Medium? Wir reden hier von Minimalstandards einer redaktionellen Tätigkeit und entsprechenden redaktionellen Freiheit, die eben nicht nur als Erfüllungsinstrument einer Regierung oder eines staatlichen Apparats gilt. Deswegen würde ich auch RT und Sputnik nicht als Medien bezeichnen. Es geht nicht um Redaktionen, die vielleicht keine Mainstream-Meinung vertreten – sondern es geht hier wirklich um staatlich kontrollierte Instrumente, die über das hinausgehen, was man als staatlich beeinflusst bezeichnen könnte. RT und Sputnik spielen in Russland überhaupt keine Rolle, sie wurden nur kreiert, um externe Zielgruppen zu beeinflussen.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Edda Humprecht sagt: Polarisierung schwächt die Resilienz gegenüber Des­informationen. Müssen wir uns Sorgen machen?

Ich sehe das in Europa nicht so dramatisch. Wenn wir auf Deutschland gucken, haben wir nach wie vor eine sehr aktive und breit gefächerte Medienlandschaft, die entsprechenden Pluralismus zulässt – und mit diesen pluralistischen Strukturen auch sehr viel schwerer zu beeinflussen ist. Problematisch wird es, wenn eine Gesellschaft extrem schwache Öffentlichkeitselemente hat, wie eine Hyperkonzentration von Medien oder eingeschränkte Medienfreiheit. Die sind anfälliger für solche Manipulationsaktivitäten, das ist ganz klar. Ich möchte auf keinen Fall dramatisieren, ich möchte nur immer wieder unterstreichen: Vorsicht, wir haben hier ein Phänomen, das wir sehr genau im Auge behalten sollten.

Sie haben gesagt, Ihre Task Force soll auch zur Inspiration dienen, zivilgesellschaftlich Ähnliches zu schaffen. Was stellen Sie sich da vor?

Ich glaube, wir brauchen breite und sehr unterschiedliche Aktivitäten von Faktencheckern, von Forschern, von Journalismusverbänden, von Plattformen und so weiter. Die müssen sich auch untereinander austauschen, um solche Dinge aufdecken und entsprechende Gegenstrategien entwickeln zu können. Es gibt viele kleinere Initiativen, die da tolle Arbeit machen, auch im Bereich Medienkompetenz. Das, glaube ich, muss man noch weiter unterstützen und vernetzen. Es braucht auch staatliches Handeln in diesem Bereich, man kann das nicht nur der Zielgesellschaft überlassen, Stichwort Sanktionen, Digital Services Act und so weiter. Viel muss auch auf Ebene der Mitgliedsstaaten passieren. Da ist noch ein Stück Weg zu gehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.