Ach, hör doch auf

Rücktritte

Das Aufsteigen haben jene Parteimitglieder gelernt, die entschlossen sind, die Politik zum Beruf zu machen und weit oben anzukommen. Getreu dem Motto „Früh übt sich“ knüpfen sie als junge Leute ihre Netzwerke – bei Jungsozialisten, in der Jungen Union, bei Jungen Liberalen und in der Grünen Jugend. Sie lernen, Bündnisse zu schmieden, auf Versammlungen zu bestehen, sich in Szene zu setzen und in Zeitungen wie in sozialen Netzwerken für ihre Bekanntheit zu sorgen. Sie akzeptieren die vermaledeite Steigerung „Freund, Feind, Parteifreund“. Rückschläge nehmen sie in Kauf.

Oben angelangt, haben sie aber eines nicht gelernt: das Aufhören. Zwar wissen sie, dass die Luft dort dünn ist. Doch das ist Theorie. Die Erfahrung, öffentlich am Pranger zu stehen und zu ahnen, wann genug genug ist, ist existenziell. Freunde wenden sich ab. Die Medien dann auch. Wer zurücktreten muss, fällt tief – manchmal schier ins Bodenlose. Gefühlt jedenfalls. In kaum einem Berufsfeld kann das Scheitern so vernichtend sein wie in der Politik. Scheitern heißt Rücktritt. Schlimmer geht’s nimmer?

Lang ist die Liste. Prominente sind dabei und sogenannte Hinterbänkler. Alte und Erfahrene kann es erwischen und junge Neulinge. Männer und Frauen. Opfer sind darunter und Täter. Gemischt sind die Ursachen. Große Fehlleistungen oder auch kleine Nebensächlichkeiten. Politische Gründe im eigentlichen Sinne oder auch persönlich-private Angelegenheiten. Bestechlichkeit und Vorteilsnahme, strafrechtliche Vergehen oder auch aufgebauschte und erst dann ernst genommene Petitessen. Lange zurück können sie liegen oder auch gerade erst geschehen. Abgang nach Wahlniederlagen? Bei allem gilt ein Grundsatz des politischen Betriebs: Wenn zwei das Gleiche tun (oder auch sagen), dann ist es längst nicht gleich. Es kommt eben darauf an: wer, wann, warum, unter welchen Umständen – und was geschieht sonst im Lande und in der Welt? Und schließlich: Warum erwischt es den einen, den anderen aber nicht?

Zuvorkommend

Und auch das noch: Rücktritt, Entlassung, Abwahl, Nicht-wieder-Antreten, Amtsverzicht aus taktischen Gründen – die Unterschiede zwischen den Begriffen und dem, was sie beschreiben, verschwimmen. Mit einem Rücktritt der Entlassung zuvorzukommen, ist ein probates Mittel. Der kürzliche Rücktritt des CSU-Generalsekretärs Stephan Mayer war nur das vorerst letzte Beispiel dafür. Mayers telefonische Drohung gegenüber einem Redakteur der Zeitschrift „Bunte“ („Ich werde Sie vernichten … Ich werde Sie ausfindig machen, ich verfolge Sie bis ans Ende Ihres Lebens“) zog zwangsläufig den Verlust seines Parteiamtes nach sich. Und zwar unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls.

Es kam lediglich noch auf die Umstände an. Indem Mayer seinen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Markus Söder um Entlassung bat und er nicht etwa um das Verbleiben im Amt kämpfte, konnte Söder Mayers offizielle (und nur halbwahre) Begründung („gesundheitliche Gründe“) akzeptieren und übernehmen. Es gehe Mayer „tatsächlich nicht gut“, sagte Söder, womit er freilich auch kenntlich machte, Leute zu verstehen, die die gesundheitliche Begründung nicht zu glauben bereit waren.

Söder war auch bereit, bekanntzumachen, er habe ein „sehr langes, sehr menschliches Gespräch“ mit Mayer geführt, was einfühlsam und verständnisvoll klingen sollte, und „ein Stück weit“ handele es sich um eine „menschliche Tragödie“. Dass es ohne Mayers sofortige Bereitschaft zum Rücktritt zu einer Entlassung gekommen wäre, gab Söder freilich auch zu erkennen. Die Wortwahl Mayers habe ihn „erschüttert“. Sie habe nicht „dem Stil“ der CSU und seinem eigenen „sowieso nicht“ entsprochen.

Wer am Boden liegt, wird getreten

Nahezu alle Bundesminister, die vom Amt zurücktraten, kamen einer Entlassung zuvor. Sie hatten sich lange gesträubt – am Ende aber in das Unabänderliche gefügt. Anne Spiegel, die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, war die bislang letzte (und die erste) aus dem Kabinett der Ampelkoalition. Ungereimtheiten ihrer Rolle bei der Bewältigung der Flutkatastrophe an der Ahr, für die sie im vergangenen Jahr als Landesministerin zuständig gewesen war, hatten sich mit Ungeschicklichkeiten verknüpft.

Einen längeren Urlaub mit ihrer Familie, für den es ziemlich gute Gründe gab, wollte sie erst verheimlichen und dann in seiner Bedeutung für ihre damalige Amtsführung kleinhalten. In der Folge verstrickte sie sich immer mehr in Widersprüche. Es bewahrheitete sich schließlich die politische Erfahrung, nicht ein mögliches Fehlverhalten führe zum Rücktritt oder zur Entlassung, sondern die kommunikative Bewältigung der Krise. Die Grünen-Parteispitze wollte Spiegel nicht im Amt halten. Spiegel wollte kämpfen. An einem Sonntagabend für 21 Uhr kurzfristig eine Pressekonferenz anzusetzen, deutet schon einen Kommunikationsgau an. Dass der Ministerin nicht klar war, ihr Statement werde live auf Phoenix übertragen, kam hinzu. Dass sie mit Verweisen auf gesundheitliche Umstände in ihrer Familie um Verständnis für ihren Urlaub bat, war zwar ehrlich, machte aber alles noch schlimmer. Am Montag bat sie um Entlassung.

Die warmen Worte ihrer Parteifreunde hielten sich in Grenzen. Zu lange hatte Spiegel nicht einsehen wollen, was geboten war. Und das erst recht nach dem Rücktritt von Ursula Heinen-Esser (CDU). Die Umweltministerin in Nordrhein-Westfalen hatte aus ähnlichen Gründen zurücktreten müssen: vorgeblich ihres Verhaltens während der Flutkatastrophe wegen und eines damaligen – familienbedingten – Urlaubs, sodann wegen Ungereimtheiten und lässlichen Falschaussagen über die Dauer des Urlaubs. Im Hintergrund aber wirkte sich der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen aus. Die CDU wollte sich nicht ins Abseits begeben. In solchen Zeiten werden „Notlügen“ zu „Lügen“. Parteien ziehen dann die Konsequenzen. Und schwer hat es, wer einmal ins Gerede gekommen ist – wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Wer am Boden liegt, wird getreten.

Keine Skrupel

Meist trifft es dann die, die nicht genügend Freunde mobilisieren können oder deren Stand im Parteiapparat ohnehin geschwächt ist. Was andererseits auch heißt: Selbst andauerndes Fehlverhalten muss nicht zwangsläufig geahndet werden. Beispiel gefällig? Andreas Scheuer, CSU, in der vergangenen Wahlperiode Verkehrsminister. Wegen seines Missmanagements in Sachen Pkw-Maut wäre seine Demission eigentlich fällig gewesen. Doch Scheuer blieb standhaft dabei, alles richtig gemacht zu haben und überhaupt nicht an Rücktritt zu denken. Zweitens wollte und musste wohl auch sein Parteichef Markus Söder an ihm festhalten, weil Scheuer als Vorsitzender des CSU-Bezirks Niederbayern ein mächtiger Mann ist und sich außerdem als Bundesverkehrsminister bei allen möglichen Vorhaben für Interessen Bayerns mit Erfolg eingesetzt hatte. Auch scheint das Motto zu gelten: Wer Skrupel hat, wird gelyncht.

Die Urkunde zum Ende der Tätigkeit im Bundeskabinett heißt „Entlassungsurkunde“, weil die Betroffenen formal vom Bundespräsidenten entlassen werden, was auch auf jene zutrifft, die freiwillig oder gezwungenermaßen zurückgetreten sind. Etwa, weil sie für ihre Doktorarbeiten abgeschrieben haben (Guttenberg, Schavan, Giffey), wegen Belastungen, die in einem früheren Ministeramt entstanden waren (Jung, Friedrich), viele auch, weil sich ihre Parteien für Kabinettsumbildungen entschieden, manche wegen Aktionen, die bloß ein Geschmäckle hatten.

Der ehemalige Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) etwa musste zurücktreten, weil er sich in einem Schreiben – mit Bundesminister-Briefkopf – an Supermärkte für die Idee eines Schwagers eingesetzt hatte, der die heute immer noch gebräuchlichen Chips bei Einkaufswagen „erfunden“ hatte. Entlassen – im wirklichen Sinne von gefeuert – wurden nur zwei Bundesminister: 2002 Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und 2012 Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) durch Kanzlerin Angela Merkel. Beide Minister hatten die Aufforderung der Kanzler, per Rücktritt um Entlassung zu bitten, abgelehnt. Schröder und Merkel waren darüber empört. Dankesworte blieben aus.

Frontbegradigung

Doch auch die beiden Kanzler mussten Verzicht üben, als sie sich in politischen Schwierigkeiten sahen. Im Februar 2004 trat Schröder als SPD-Vorsitzender zurück; wegen der innerparteilichen Auseinandersetzungen über die Agenda-2010-Vorhaben überließ er das Parteiamt dem Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering. Merkel verzichtete im Herbst 2018 darauf, abermals als CDU-Vorsitzende zu kandidieren – wegen schlechter Ergebnisse bei Landtagswahlen und nachdem ihr Vertrauter Volker Kauder als Fraktionschef abgewählt worden war. Beiden Kanzlern ging es darum,
wenigstens das Regierungsamt ohne weitere Beschädigungen ausüben zu können. Freiwillig waren ihre Entscheidungen nicht. Als gewöhnliche Rücktritte aber gingen sie nicht in die Zeitgeschichte
ein, sondern als politisch-taktische Frontbegradigungen.

Gefahren lauern auch anderswo. Wer erfolgreich in der Politik arbeitet, hat beruflich mit Leuten zu tun, die Einkommen erwirtschaften, die um ein Vielfaches höher sind als selbst die von Spitzenpolitikern. Den einstigen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück brachte das 2013 zu der Erkenntnis, jeder Vorstand einer Kreissparkasse verdiene mehr als die Bundeskanzlerin. Über ihre Tätigkeit sind Spitzenpolitiker mit wirtschaftlich Erfolgreichen gut bekannt oder auch befreundet, die ein eigenes Flugzeug, eine Motorjacht oder ein Anwesen auf einer Mittelmeerinsel besitzen. Warum also nicht Bekanntschaften nutzen? Warum freundliche Angebote, kleine Gesten wie Mitnahmegelegenheiten schnöde ausschlagen und sie nicht gegen ein nur geringes Entgelt nutzen? Es scheint, als würden vor allem die Männer in der Politik solchen Versuchungen erliegen. Oft reicht der Anschein von Vorteilsnahme, der im öffentlich-politischen Streit zum Vorwurf der Bestechlichkeit wird. Der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) musste deswegen zurücktreten und Christian Wulff verlor darüber sein Amt als Bundespräsident – späterer Freispruch hin oder her.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.