I. Politische Kampagnen werden für Content Creators und Influencerinnen geöffnet
Kampagnen setzen auch in der Politik immer stärker auf Content Creators und reichweitenstarke (Micro)-Influencerinnen. Dass dafür auch Geld bezahlt wird, ist zum Standard geworden. Ein branchenweiter Maßstab hat sich noch nicht herauskristallisiert – 100 US-Dollar pro 1.000 Followerinnen und Post scheinen ein guter Annäherungswert zu sein. Regulatorisch sind die Kooperationen „Wilder Westen“ – ob sie transparent als solche gekennzeichnet werden, bleibt (noch?) den Campaignern überlassen. Wichtig für das Reporting: Mit den Content Creators vorab – am besten im Vertrag – vereinbaren, wie Kennzahlen reportet werden. Das erleichtert danach die Arbeit.
Der Trend wird sich vermutlich noch verstetigen: Je stärker Social-Media-Plattformen politische Absender und organische Inhalte durch den Algorithmus abstrafen, umso größer wird die Rolle Dritter, die ihre Reichweite zur Verfügung stellen und helfen, neue Zielgruppen zu erschließen. Der reichweitenstärkste Facebook-Kanal der Biden-Kampagne war zum Beispiel nicht der Account des Kandidaten, sondern ein bereits existierender Meme-Account, den man für die Kampagne gewinnen konnte. Dieser entwickelte sich im Lauf der Zeit zum Rapid-Response-Account der Kampagne selbst. Das bedeutet: Die Politik muss lernen, ihre Kampagnen für Dritte zu öffnen und Kontrolle bei der Erstellung der Inhalte abzugeben.
II. TikTok ist das Experimentierfeld
TikTok ist als Plattform nach wie vor so jung, dass Campaignerinnen den richtigen Umgang damit suchen. Und weil dies so ist, gibt es nach wie vor keine Experten für politisches Campaigning auf TikTok. Wird Gegenteiliges behauptet, ist Skepsis angebracht, so jedenfalls der Tenor auf der Netroots Nation. Was daraus auch folgt: Man sollte offen sein, junge Talente in Kampagnen-Teams aufzunehmen und ihnen zu vertrauen. Content Creators wissen am besten selbst, wie sie Inhalte so umsetzen, dass sie in ihrer Community funktionieren. Das wird für viele politische Organisationen eine Herausforderung, weil dort Jobs mit viel Verantwortung in der Regel meist von Mitarbeiterinnen erledigt werden, die sich über viele Jahre(!) bewährt haben. Expertise muss sich erst verdient werden; aber das gilt für TikTok eben genau nicht.
TikTok hält sich weiter sehr bedeckt darüber, wie der Algorithmus der Plattform funktioniert. Auch TikTok scheint bei politischen Inhalten die Reichweite künstlich zu reduzieren. Experimentieren ist also der einzige Weg zum Erfolg. Schlagworte wie „Klimakrise“ oder „Abtreibung“ führen dazu, dass Inhalte seltener ausgespielt und deswegen kreativ umgangen werden. Dass dies auch politische Implikationen hat, steht außer Frage und sollte dazu führen, dass über den Umgang mit der Plattform und ihre Regulierung diskutiert wird. Denn bislang ist sie regulatorisch Freiland.
III. SMS-Campaigning ist Standard
In den letzten zehn Jahren hat sich SMS-Campaigning in den USA zum absoluten Standard entwickelt. Kaum eine Organisation setzt SMS nicht als Kanal ein. Weil sie immer preiswerter wurden und heute in den USA schon für zwei oder drei Cent verschickt werden können, wurde SMS-Campaigning auch für Graswurzel-Organisationen erschwinglich. Jahr für Jahr werden Milliarden SMS verschickt. Genutzt werden zwei Wege: Entweder das sogenannte Peer-2-Peer-Texting, bei dem Freiwillige in den direkten Austausch mit anderen gehen, oder das SMSBroadcasting, also das massenhafte Aussenden von Nachrichten. Was nach Spam klingt muss kein Spam sein, wenn der Kanal im Interesse der Unterstützer eingesetzt wird und ihnen Mehrwerte bietet.
Bezieht man die Kosten auf die Performance und vergleicht SMS direkt mit anderen Kanälen, schneiden sie sehr gut ab: Die Öffnungs- und CTR-Raten sind deutlich höher als bei E-Mails und klassischer digitaler Werbung. Ein weiterer Vorteil: Weil SMS in der Regel sofort geöffnet und gelesen werden, sind sie besonders gut für die Rapid-Response-Kommunikation geeignet. Man kann sie direkt beantworten und hat damit einen direkten Draht zu Unterstützern und Interessierten. Das bietet großes Potenzial, um Freiwillige zu aktivieren, Wechselwählerinnen anzusprechen oder Service-Inhalte zur Verfügung zu stellen. Vote America setzte SMS zum Beispiel für eine Helpline zur Wählerregistrierung ein. 270 Freiwillige beantworteten per SMS die Fragen von Bürgerinnen, die Probleme bei der der Registrierung hatten. So konnten innerhalb vier Wochen 17.000 Wähler registriert werden. Bislang wird SMS-Campaigning in Deutschland und Europa selten eingesetzt. Wer also jetzt damit startet und kreative Wege findet (trotz der in Europa im Vergleich zu den Gesamtbudgets hohen Kosten) hat die Chance, besonders effektive Kampagnen umzusetzen.
IV. E-Mail ist und bleibt die Basis
Totgesagte leben länger: Ein gut gepflegter E-Mail-Verteiler ist noch immer Basis jeder Kampagne. Und seine Bedeutung wächst sogar wieder: Die großen Social-Media-Plattformen haben die Reichweiten organischer Beiträge massiv reduziert – und dies besonders bei politischen Themen. Zudem wurden die Werbemöglichkeiten für politische Akteure stark eingeschränkt. Ein reichweitenstarker E-Mail-Verteiler macht davon unabhängig. CRM-Systeme wurden in den letzten Jahren immer professioneller. Heute lassen sich in der Regel E-Mail, SMS und die Möglichkeit, Unterstützer direkt über die Plattformen durch Freiwillige anzurufen, relativ einfach miteinander verbinden. Dezentral, vom Wohnzimmertisch aus. Mit den gewonnenen Daten können wiederum passgenaue Verteiler bedient werden. Nicht zuletzt ist dies auch die Basis für E-Mail-Fundraising, mit dem sich Parteien in Deutschland – im Vergleich zu den USA – noch immer schwertun.
V. Der Markt für politische Technologie konzentriert sich
Das Budget des vergangenen US-Präsidentschaftswahlkampfs lag bei rund 14 Milliarden US-Dollar – und war damit doppelt so hoch wie der vorige. Infolgedessen hat sich auch der Markt für politische Technologie weiter professionalisiert: Die Anbieter haben immer umfassendere Services im Programm – teils durch den Zukauf von Plattformen, die zusammengeführt oder integriert werden, teils durch Innovationen von Start-ups. Vor allem aber gab es eine starke Konzentration: EveryAction hat zahlreiche Unternehmen gekauft, bevor es schließlich selbst von einem Hedgefonds übernommen wurde – man schätzt zu einem Rekordpreis von um die zwei Milliarden US-Dollar. Der Kauf hat politische Brisanz, weil zum EveryAction-Konzern auch NGP/VAN gehört – und die Demokraten seit über 15 Jahren über die Plattform und ihre Schnittstellen zum Beispiel den Haustürwahlkampf und ihr Fundraising organisieren. Ob und inwieweit die Partei durch den Verkauf die Kontrolle über ihre wichtigste technologische Infrastruktur verliert, ist eine hoch spannende, offene Frage.
Nicolas Schwendemann schreibt einen wöchentlichen Campaigning-Newsletter, der hier abonniert werden kann.