Zeiten der Unsicherheiten sind Zeiten der Entscheidung. Derzeit erleben wir, wie politische Zielsetzungen von geopolitischen Krisen und Realitäten eingeholt und überholt werden. Prioritäten werden verschoben, verändert, abgeglichen. Welche Konsequenzen hat das für politisches Handeln und damit für Wirtschaft und Unternehmen? Ein Blick auf die vergangenen zwei Jahre hat Vorteile und Herausforderungen der globalen Verflechtungen deutlich gemacht: größere Resilienz durch Zusammenarbeit und globale Diversifizierung gegenüber Disruption durch Verzahnung und Abhängigkeit. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie mit Lockdowns in Regionen in einem Teil der Erde und deren wirtschaftliche Konsequenzen jenseits der Ozeane sowie der Krieg in der Ukraine und die politische Antwort weltweiter Demokratien mit ihren wirtschaftlichen Konsequenzen haben die politische Agenda weit über unmittelbaren Konsequenzen hinaus verändert. Welche Antworten finden Unternehmen darauf?
Besonders gravierend sind die Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssituation. Die Zahl der Menschen, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, lebensrettende Nahrungsmittel und Unterstützung für den Lebensunterhalt benötigen, steigt in alarmierendem Maße. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) berichtete im April, dass 193 Millionen Menschen in 53 Ländern oder Gebieten akut betroffen sind. Die Hauptursachen dafür sind weiterhin politisch und militärische Konflikte. „Die Invasion Russlands in die Ukraine gefährdet die weltweite Ernährungssicherheit. Die internationale Gemeinschaft muss handeln, um die größte Nahrungsmittelkrise in der Geschichte und die damit verbundenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüche zu verhindern. Die EU ist entschlossen, alle Faktoren anzugehen, die zu Ernährungsunsicherheit führen: Konflikte, Klimawandel, Armut und Ungleichheit“, so die für internationale Partnerschaften zuständige EU-Kommissarin Jutta Urpilainen. Wenngleich die neuesten Ernteprognosen von Anfang August für Getreide und Ölsaaten aus der Ukraine über den Erwartungen vor dem Hintergrund des Krieges liegen und die Exporte langsam wieder steigen, nachdem sie Monate lang gänzlich zum Erliegen gekommen waren, so ist die Situation doch mehr als ungewiss. Niemand weiß, wie lange und welche Mengen an agrarischen Rohstoffen das Land verlassen werden können und ihr Ziel erreichen. Zugleich sind die Preise für Agrarrohstoffe und Betriebsmittel in die Höhe geschnellt. Am stärksten betroffen sind Länder, die direkt auf Agrarexporte aus der Ukraine und Russland oder aber auf Düngemittel aus Russland und Belarus angewiesen sind.
Folgeerscheinungen des Krieges sind ebenfalls Preisinflation besonders bei Lebensmitteln und Agrarimporten, steigenden Energie- und Transportkosten sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen insgesamt. Das hat Auswirkungen auf die Politik in der ganzen Welt, besonders in Europa und in Deutschland.
Klimawandel und Umweltzerstörung als existenzielle Bedrohungen für Europa und die Welt
Um dem Klimawandel entgegenzutreten und den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbefähigen Wirtschaft zu schaffen, hat die Europäische Union ihre Nachhaltigkeitsziele im European Green Deal festgeschrieben. Priorität haben darin die Bereiche Landwirtschaft und Ernährung. Bereits die Maßnahmen gegen die “Corona-Krise“, wie die EU-Kommission tituliert, wurden mit dem Green Deal verknüpft. Ein Drittel der Investitionen aus dem Aufbaupaket NextGenerationEU und dem Siebenjahreshaushalt der EU mit einem Umfang von insgesamt 1,8 Billionen Euro fließt in den Grünen Deal. Die Nahrungsmittelkrise ist aktuell in allen europäischen Ländern ein wichtiges politisches Thema. Viele Regierungen sowie Landwirtschafts- und Lebensmittelorganisationen drängen auf Anpassungen der Farm-to-Fork-Strategie des Green Deals. Einige Forderungen gehen so weit, dass sie eine Verschiebung der Politik und ein Überdenken der grünen Ambitionen der EU vor dem Hintergrund von Ernährungsunsicherheit und steigenden Lebensmittelpreisen fordern. Eine kurzfristige Verschiebung der Green New Deal-Initiativen würde es der EU jedoch erschweren, ihre langfristigen Klimaziele zu erreichen. Zielkonflikte scheinen vorprogrammiert.
Daher hat der für den Green Deal zuständige EU-Kommissar und Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, bereits im April erklärt, dass es unverantwortlich und unehrlich sei, den Krieg und die Nahrungsmittelknappheit als „Vorwand“ zu nutzen, um die Ziele der EU für eine nachhaltigere Landwirtschaft zu verschieben. Landwirtschaftskommissar Janusz Wojciechowski entgegnete, dass die EU die Nahrungsmittelproduktion steigern müsse, und sagte es sei „einfach vernünftig, dass wir unsere Landwirte dabei unterstützen, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, solange sie es noch können.“ Diese beiden unterschiedlichen Ansätze zeigen das Dilemma, in dem sich die EU befindet: Es gibt keine klare Meinung innerhalb der Europäischen Kommission über den weiteren Weg.
Jüngstes Beispiel dafür, wie schwierig und ungewiss die politische Lage insgesamt ist, zeigt sich auch in der Ablehnung im Europäischen Parlament von weiten Teilen des Nachhaltigkeitspakets der Kommission. Hier stimmten im Juni 2022 sowohl das rechte als auch das sozialdemokratische und grüne Spektrum der Parteien gegen die Vorschläge der von-der-Leyen-Administration – wenngleich aus unterschiedlichen Beweggründen. Nun muss der Umweltausschuss einen neuen Kompromiss finden. Wie der ausfällt und welche Seite von der taktischen Abstimmung letztlich profitieren wird, ist ungewiss.
Alte Gewissheiten gelten nicht mehr: Politik im Umbruch
Auch eine andere Gewissheit scheint im Umbruch: Viele Jahre galt Deutschland als Musterschüler, was Regulierungen für mehr Nachhaltigkeit anbelangte. EU-Richtlinien wurden nicht immer auf die unkomplizierteste Weise umgesetzt, mitunter gab es nationales Recht, das einer EU-Richtlinie zuvorkam und dann später an die Vorgaben aus Brüssel angepasst werden musste. Für Unternehmen, die im Land operieren, hatte das mitunter ein verzehrtes Level Playing Field zur Folge. Kürzlich hat nun die EU-Kommission den vom grünen Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir vorgelegte Strategieplan zurückgewiesen. Der Strategieplan legt fest, wie die Agrarsubventionen der EU verteilt werden. Für Deutschland geht es in der Förderperiode von 2023 bis 2027 um rund 30 Milliarden Euro an EU-Fördermitteln. Etwa die Hälfte davon soll für Klima, Umwelt und Artenschutz ausgegeben werden, darüber hinaus geht es auch um eine krisenfeste Lebensmittelversorgung und die Attraktivität ländlicher Räume. Der deutsche Strategieplan trage nur teilweise zur Erreichung der Klima- und Umweltziele der Europäischen Union bei, so die Kritik der EU. Die Kommission zweifelt daran, dass die vorgeschlagene Strategie die erwartete Wirksamkeit haben werde. Deutschland wird zu konkreten Nachbesserungen aufgefordert.
Die Öffentlichkeit wird von vielen als letzte Instanz angesehen. Inflation und Nahrungsmittelknappheit werden Wahlverhalten und politische Präferenzen beeinflussen. Insbesondere in den wohlhabenden Ländern wie Deutschland gibt es nach wie vor eine starke öffentliche Unterstützung dafür, dass die Nachhaltigkeitsziele auch in schwierigen Zeiten auf dem richtigen Weg sind. Steigende Preise und sinkende Lebensmittelvorräte könnten jedoch die öffentliche Meinung verändern. Im Moment scheint es ausgemacht, dass die EU ihrer Green-Deal-Agenda folgen wird. Doch im Gefolge des größten Konflikts in Europa seit 75 Jahren verflüchtigen sich Gewissheiten. Planungssicherheit und Verlässlichkeit in politische Agenden und Mehrheiten werden für den gesamten Sektor der Agrar- und Ernährungsindustrie weiter abnehmen. Vor diesem Hintergrund ist es für Unternehmen umso dringlicher, einen eigenen, klaren Blick auf die Entwicklungen in Brüssel und Deutschland zu haben, um ihren Weg zu finden und Entscheidungen zu treffen.