Wie die Energiekrise die Bundesregierung vor politische Dilemmata stellt

Politik

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Deutschland zu einer Kehrtwende seiner Energiepolitik gezwungen. Zu Beginn dieses Jahres basierte die Energieversorgung des größten europäischen Industrielandes zu bedeutenden Teilen auf Energieimporten aus Russland. Gleichzeitig waren der Ausstieg aus Atom und Kohle sowie ein verstärkter Ausbau der zuletzt eher schleppend vorankommenden erneuerbaren Energien politischer Fahrplan und politisches Ziel der Ampelkoalition. Deutschland steht im Zentrum der europäischen Industrie und der Lieferketten. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer Energiekrise geführt, die die Wirtschaftskraft der europäischen Unternehmen und Industrie schwächt, sowie die Lebenshaltungskosten der Bürger in der EU steigen lässt. Von diesen Auswirkungen ist Deutschland als Industrienation besonders betroffen: Die Stimmung in der Wirtschaft hat sich deutlich verschlechtert. Fast alle Indikatoren haben sich im dritten Quartal ins Negative gedreht. Selbst das Bundeswirtschaftsministerium schließt offiziell nicht aus, dass die Wirtschaftsleistung in der zweiten Jahreshälfte zurückgehen wird. Die deutsche Wirtschaft wird in eine Rezession gedrängt.

Im Verlauf der vergangenen Monate hat sich einmal mehr gezeigt, wie komplex und verzahnt Energiepolitik, Wirtschaft, Klimaschutz und Geopolitik sind. Zahlreiche politische Maßnahmen auf verschiedensten Ebenen wurden angestoßen. Dabei kristallisieren sich derzeit vier Blickwinkel heraus, deren Entwicklung es zu beobachten gilt.

Innenpolitische Uneinigkeit und die 200 Milliarden Finanzspritze

Die wirtschaftspolitischen Herausforderungen sind enorm. Führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland gehen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 Prozent im Jahr 2023 zurückgehen wird. Schuld sind vor allem die hochgeschnellten Energiekosten, die mit einem massiven gesamtwirtschaftlichen Kaufkraftentzug einhergehen. Der Anteil der Firmen, die sich von den höheren Energiekosten betroffen sehen, ist Stand Anfang September auf 62 Prozent gestiegen.

Gleichwohl sieht sich ein Großteil der Unternehmen derzeit in der Lage, die Energiekosten auf dem Niveau von Anfang September dauerhaft zu schultern. Anders sieht das bei Kommunen und den Bürgern aus. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von politischen Weichen gestellt, Gesetze und Verordnungen erlassen und Hilfspakete verabschiedet worden. Auch vor einer quasi Verstaatlichung von in Not geraten Energieunternehmen wurde nicht zurückgeschreckt, um den Energiemarkt und die Versorgungssicherheit zu stabilisieren. Dennoch tritt die politische Uneinigkeit offen zutage. Innerhalb der Regierungskoalition lassen sich die Sollbruchstellen nicht mehr übersehen. Gerungen wird öffentlich über Verlängerung von Atomenergie und fossilen Energieträgern, Haushaltsdisziplin und der Einhaltung der Schuldenbremse, die Entlastung von Wirtschaft sowie von Bürgern.

Aber auch zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern lässt sich derzeit kein Konsens über die Finanzierung der Entlastungs- und Unterstützungspakete zur Bewältigung der Energiekrise finden. Kompromissbereitschaft und Partikularinteressen stehen sich gegenüber. Dabei spielen nicht zuletzt Landtagswahlen und das neue Machtgefüge der Regierungskoalition auf der einen und der nunmehr oppositionellen CDU auf der anderen Seite eine Rolle. Nach dem Ausscheiden der FDP aus dem niedersächsischen Landtag nach der Wahl am 9. Oktober, lässt sich nicht allzu schwer erahnen, welche Auswirkungen das auf die Profilierung der Partei innerhalb der Bundeskoalition haben wird. Das lässt den Regierungskurs und die Bewältigung der Krise nicht einfacher werden.

Zuletzt hatte die Ampelkoalition einen „Doppel-Wumms“ angekündigt, der die Folgen der Energiekrise für Verbraucher sowie die Wirtschaft abfedern soll: Ein 200 Milliarden Euro schweres Entlastungspaket soll gegen hohe Gas- und Strompreise wirken. Die Details dieser weit beachteten Ankündigung sind noch nicht geklärt. Die Expertenkommission der Bundesregierung schlug am 10. Oktober einen zweistufen Plan vor: Demnach soll der Staat in einem ersten Schritt im Dezember einmalig die Abschlagszahlung aller Gas-Standardlastprofil-Kunden und Fernwärmekunden übernehmen. Das solle für private Haushalte sowie für klein- und mittelständische Unternehmen gelten. Der zweite Schritt, den die Kommission rät, braucht längere Vorbereitungszeit, weshalb ab Frühjahr 2023 ein Kompensationsmodell eingeführt werden soll. Demnach würde ein Teil der Gasrechnung zu einem subventionierten Preis bezahlt, der Rest zu den dann geltenden hohen Gaspreisen. Im Gespräch sind 12 Cent pro Kilowattstunde für Privat- und Gewerbekunden, wovon 80 Prozent subventioniert werden sollen. Für die Industrie ist zum 1. Januar 2023 ein Kontingent von 70 Prozent der Kilowattstunden zu einem fixen Preis von 7 Cent vorgesehen. Dies sind die Empfehlungen der von der Bundesregierung eingesetzten Experten zur Ausgestaltung des „Gaspreisdeckels“. Mit Blick auf die Kurzlebigkeit energiepolitischer Ankündigungen und Entscheidungen in den vergangenen Monaten gilt es noch nicht als ausgemacht, dass das Kabinett Scholz die Empfehlungen übernimmt. Es bleibt zu beobachten, welche Entscheidung die Regierung trifft.

Wenngleich das Entlastungspaket in der derzeitigen Notsituation mit der im deutschen Grundgesetz verankerten Schuldenbremse vereinbar scheint, wirft der 200-Milliarden-Abwehrschirm auf europäischer Ebene Fragen auf.

Europäischer Zusammenhalt und Europäischer Zwist

Innenpolitisch als starkes Zeichen beachtet, erntet Bundeskanzler Scholz (SPD) von seinen Amtskollegen in der EU viel Kritik für sein 200-Milliarden-Paket. Während Scholz bemüht ist zu betonen, Europa sei etwa in Prag beim informellen Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs Anfang Oktober noch enger zusammengerückt, rumort es in Brüssel und manchen Mitgliedsstaaten gewaltig. Deutschland, so kritisieren einige EU-Partner, nutze sein ökonomisches Großgewicht auf dem Kontinent, um seine nationale Wirtschaft und die Kaufkraft der Bevölkerung im Alleingang zu stützen.

Viele EU-Länder hingegen könnten sich solch eine Finanzspritze schlichtweg nicht leisten. Deutsche Unternehmen bekämen so einen Wettbewerbsvorteil, wenn sie zu günstigeren Energiepreisen produzieren könnten. Ein „level playing field“ sei innerhalb der EU nicht mehr gegeben. Es ist gar von „deutschem Egoismus“ und einem „Diktat Deutschlands“ die Rede, wie Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki es formulierte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach Deutschland zwar nicht direkt an, warnte aber von höchster EU-Stelle aus vor Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt. „Alle Unternehmen müssen die gleichen Chancen haben, am Binnenmarkt teilzunehmen“, so von der Leyen.

Die EU hatte zu Beginn der geopolitischen Krise auf dem Kontinent einen großen Zusammenhalt gezeigt und mittlerweile das achte Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet. Diese Einigkeit zeigte von Anfang an kleine Risse. Vor dem Hintergrund der Energiekrise bemüht sich die politische Gemeinschaft, dass der europäische Zusammenhalt nicht in europäischem Zwist endet. Die nationale und europäische Energieversorgung kann nicht ohne eine abgestimmte Energiepolitik in der Europäischen Union sichergestellt werden. Artikel 194 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union regelt die Zuständigkeit der EU.

Danach ist ein funktionierender Binnenmarkt von entscheidender Bedeutung. Die Entscheidung über die nationale Energieerzeugung bleibt jedoch Sache der Mitgliedstaaten. So kommt es, dass es sehr unterschiedliche energiepolitische Ansätze in den einzelnen EU-Ländern gibt, was sich nicht zuletzt bei der Diskussion um EU-Taxonomie und der unterschiedlichen Einstufung von Atomenergie gezeigt hat.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise haben die Mitgliedstaaten verschiedene politische Maßnahmen zur Eindämmung in ihren Ländern ergriffen. Gleichzeitig gibt es gemeinsame politische Ideen auf europäischer Ebene. Aber gerade hier blockiert Deutschland einen EU-Vorschlag für einen europäischen Gaspreisdeckel. Das dürfte die Begeisterung der europäischen Nachbarn über die Ankündigung des 200 Milliarden „Doppel-Wumms“ in Deutschland nicht gerade gesteigert haben.

Zielkonflikte und politisches Dilemma: Klimaschutz, Versorgungssicherheit, Geopolitik und Geoökonomie

Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise stellt die Bundesregierung vor ein weiteres Dilemma: Eines der wichtigen politischen Ziele der Regierungskoalition ist das Vorantreiben der Energiewende und der Kampf gegen die Klimakrise. Die Bundesregierung hat sich ehrgeizige klimapolitische Ziele gesetzt. Nun muss sie die Energietransformation in Deutschland weitaus stärker aus geopolitischer und geoökonomischer Sicht betrachten.

Um die Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland zu verringern, hat die Bundesregierung mit schnellen Schritten begonnen, die Energieversorgung unter anderem durch eine Diversifizierung der Gas- und Kohlelieferanten, den Bau von Terminals für Flüssigerdgas (LNG) sowie einer Kohle- und Gasreserve zu sichern. Gleichzeitig soll der Ausbau von erneuerbaren Energien deutlich an Fahrt aufnehmen. Bundeskanzler Scholz und der gleichzeitig für Wirtschaft, Energie und Klimaschutz zuständige Bundesminister Robert Habeck (Grüne) haben sich in den vergangenen Monaten auf energiediplomatische Reisen begeben. Die Gespräche in Skandinavien, Kanada, Katar, Saudi-Arabien, den Niederlanden oder Spanien haben aber nicht nur Zustimmung gefunden. Besonders die Verhandlungen mit den Golfstaaten wurden vor dem Hintergrund der dortigen Menschenrechtssituation kritisch beobachtet.

Der Ukraine-Krieg stellt die Energiepolitik der Bundesregierung vor Zielkonflikte mit Brisanz. Einerseits muss sie die Abhängigkeit von russischen Importen drastisch und mit hohem Tempo reduzieren, anderseits ein Trade-off zwischen hohen klimapolitischen Ansprüchen und Versorgungssicherheit verhindern. Auch diese Entwicklungen gilt es im Blick zu haben.

Ein Blick weit über den Winter 2022/23 hinaus

So drängend die gegenwärtige Energiekrise ist und ihre wirtschaftlichen wie gleichermaßen sozialen Auswirkungen eines schnellen und konkreten politischen Handelns bedürfen, desto wichtiger ist es, den Blick nicht nur auf die kommenden Monate zu richten. Die öffentliche Debatte fokussiert stark auf den anstehenden Winter: darauf, wie Bürger und Unternehmen die Strom- und Gaspreise stemmen können und ob die Gasspeicher ausreichend gefüllt sind, um uns durch diesen Winter zu bringen. Dabei gehen die Herausforderungen weit darüber hinaus.

Es stellt sich vielmehr die Frage, bis wann kann die Energieversorgung auf langfristige Beine gestellt werden, etwa wie die Gasspeicher im nächsten Jahr wieder gefüllt werden und wann sich die Energiepreise wieder stabilisieren. Was kommt auf uns zu, wenn die Rettungs- und Unterstützungspakete ihrem Ende entgegensehen? Mit bedacht hat die Regierung viele ihrer Maßnahmen nicht nur bis ins kommende Jahr, sondern bis 2024 geplant. Es bleibt jedoch ein hoher Grad an Ungewissheit.