Der Erfolg von Parteien ist von vielen Faktoren abhängig: Personal und Programm sind sicher zentral, wenn es um Anteile am Wählermarkt geht. Doch aus gesellschaftspolitischer Perspektive ist darüber hinaus relevant, dass sie Organisationen sind, deren Mitglieder sich durch Prozesse innerparteilicher Demokratie an der Willensbildung beteiligen. Auf diesem Fundament ruht die deutsche Parteiendemokratie. Oder ruht sie sich darauf aus?
Vor allem die Volksparteien sehen sich mit Ermüdungserscheinungen der Ressource „Mitgliedschaft“ konfrontiert. Denn selbst dort, wo ein Rückgang der Mitgliederzahlen vorerst gestoppt wurde, droht Überalterung oder Frustration an der Basis. Gleichzeitig erscheinen am europäischen Horizont agile Akteure, denen es gelingt, gerade von den Etablierten enttäuschte oder unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Die Rede ist von Bewegungsparteien wie der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, Podemos („Wir können“) in Spanien oder Macrons „En Marche!“ (Die Republik in Bewegung). Gemeinsam ist diesen sonst ganz unterschiedlichen Partei-Projekten (oder: Projekt-Parteien) eine Mobilisierungsfähigkeit, die mit unmittelbaren, oft digitalen Beteiligungsformaten einhergeht.
In Deutschland wurde eine Diskussion über „Mitmach-Parteien“ durch die Piraten und ihre Vorstellungen von „Liquid Democracy“ angestoßen. Die Partei scheiterte aber an der Realisierung eines Antrags-, Diskussions- und Abstimmungssystems, über das sich jedes Mitglied beteiligen kann – wenn nicht selbst, dann über die flexible Delegation seines Stimmrechts. Denn gleichzeitig bleiben andere, auch durch das Parteiengesetz vorgesehene Instrumente der innerparteilichen Demokratie relevant. Unter diesen Bedingungen treten unterschiedlich legitimierte Machtzentren in Konkurrenz. Insofern bleibt das Versprechen einer Verflüssigung der Parteiendemokratie vorerst uneingelöst.
Sozis Lust auf morgen machen
Was Bemühungen zur Parteireform angeht, steht derzeit die SPD im Fokus. Dies ergibt sich aus dem schlechten Abschneiden bei Wahlen und Kritik an der Parteiorganisation. Gleichzeitig entschieden sich die Sozialdemokraten bereits zum zweiten Mal per Mitgliederentscheid zum Eintritt in die Große Koalition. Das verbindliche Votum wurde als Briefabstimmung durchgeführt, aber Mitglieder, die im Ausland leben, durften online teilnehmen. „So konnten wir Erfahrungen mit der Onlineabstimmung sammeln, um diese dann in Zukunft einsetzen zu können“, erklärt eine SPD-Sprecherin.
Eine E-Mail-Adresse ist auch Voraussetzung für die Teilnahme an Online-Mitgliederbefragungen. Die erste wurde im Rahmen der Kampagne „Lust auf Morgen“ im April 2018 durchgeführt. Die Mitglieder gelangten dabei auf die Plattform eines externen Dienstleisters, wo sie multiple Antwortmöglichkeiten auf Fragen vorfanden. Knapp 50.000 Genossen artikulierten so ihre Meinung zur Parteiarbeit. Darüber hinaus soll ein digitales Debattenportal für inhaltliche Diskussionen zur Verfügung stehen.
Inspiriert vom Konferenzformat „Barcamp“, wird schließlich ein zweitägiges „Debattencamp“ veranstaltet. Hier haben die Mitglieder die Möglichkeit, selbst Speaker und Sessions vorzuschlagen, um so das Programm mitzugestalten. Solche Innovationen wurden von jungen Initiativen mit Namen wie „SPD++“ und „Disrupt SPD“ angestoßen. Diese weisen augenscheinlich eine Nähe zum digitalen Kreativmilieu auf und wollen Reformen der Parteiarbeit anstoßen. Während Disrupt SPD dabei als zunächst einmalige Veranstaltung eines Ideen-Pitchs stärker an neuen Instrumenten interessiert ist, will SPD++ den Erneuerungsprozess langfristig begleiten. Darüber hinaus verbinden die überwiegend bereits in der Partei etablierten Initiatoren damit ein inhaltliches Ziel, nämlich „die SPD vielfältiger, offener, jünger, digitaler und weiblicher“ zu machen.
Zuhören und christdemokratische Selbstwahrnehmung
Ähnlich nutzt die CDU ihren Prozess zur Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms, um die Basis zu beteiligen. Der erste Schritt war die Zuhör-Tour der Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer mit mehr als 40 Veranstaltungen, zu denen exklusiv Parteimitglieder eingeladen werden. Aus diesen Gesprächen im überschaubaren Teilnehmerkreis sowie Eingaben, die auch online über CDUplus, das Mitgliedernetz der Partei, eingereicht werden können, sollen Leitfragen entwickelt werden, die den Schwerpunkt im weiteren Prozess bilden.
Die direkte Beteiligung der Mitglieder an Antragsverfahren und Programmausarbeitungen praktizieren die Christdemokraten schon länger. Darüber hinaus heißt es in einem organisationspolitischen Parteitagsbeschluss von 2015: „Mitgliederoffene Fachausschüsse mit Antragsrechten zu Landesparteitagen oder online-gestützte, mitgliederrepräsentative parteiinterne Fokusgruppen zur Ermittlung von Stimmungsbildern sind weitere Elemente, die bereits erfolgreich praktiziert werden.“ Die Berliner CDU ermittelte ihre Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe durch einen Mitgliederentscheid. Eine begleitende Fallstudie (www.innerparteiliche-demokratie.de) belegte dabei Sekundäreffekte im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung der Mitglieder, die sich daran beteiligt haben: Nach dem Votum beurteilten diese ihre Möglichkeiten, in der Partei Einfluss zu nehmen deutlich positiver.
Wahlkampf statt Urwahl in Bayern
Auch die Schwesterpartei CSU kennt das Instrument der Mitgliederbefragung, das 2016 erstmals durchgeführt wurde. Über die Frage, ob sich die Partei auf Bundesebene für Volksentscheide einsetzen soll, konnten die Bayern online oder per Brief abstimmen. Mehr als ein Drittel der Parteimitglieder beteiligte sich an der Befragung und davon sprachen sich fast 70 Prozent für Volksentscheide aus. Bevor sich Horst Seehofer und Markus Söder darüber verständigten, wer die Partei und wer das Land führt, brachte eine potenzielle Mitbewerberin die Urwahl des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl ins Gespräch. Sie sei eine Chance, die zerstrittenen Lager in der CSU zu befrieden. Doch dazu kam es nicht, zuletzt stand für die Partei die Beteiligung der Mitglieder am Wahlkampf im Vordergrund. Zur Mobilisierung und Vernetzung von Freiwilligen gab es eine Unterstützer-App fürs Smartphone, Belohnungen für besonders Aktive und eine geschlossene Facebook-Gruppe. Gerade im Haustürwahlkampf sowie in den sozialen Medien haben viele Parteien informelle Beteiligungsangebote etabliert, bei denen Mitglieder sich individuell und unmittelbar in Kampagnen involvieren können.
Liberales Netzwerk als Arbeitsplattform
Die bayerische FDP bestimmte ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl hingegen per Urwahl. Insgesamt sind die Liberalen darum bemüht, ihre Affinität zur Digitalisierung zu demonstrieren. In der Heimat von Parteichef Lindner ließ die FDP ihre Mitglieder nach der Landtagswahl 2017 erstmals in einer Online-Abstimmung per Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag mit der CDU und die Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen entscheiden. Ein Argument dafür war, dass nur ein kleines Zeitfenster zwischen dem Ende der Koalitionsverhandlungen und der geplanten Wahl des Ministerpräsidenten bestand. Dabei erreichte der Zugangscode die Mitglieder per Post. Die Abstimmung, an der sich über 40 Prozent beteiligten, fand dann auf der für Online-Wahlen zertifizierten Plattform eines Dienstleisters statt. Diese wurde auch von der FDP und Bündnis 90/Die Grünen in Schleswig-Holstein für Mitgliederentscheide über die dortige Jamaika-Koalition genutzt.
Das Rückgrat der innerparteilichen Beteiligung soll die Online-Plattform „Meine Freiheit“ sein, die an die Aktivierung von Freiwilligen für die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama durch ein eigenes soziales Netzwerk („MyBO“) erinnert und bei der aktuell knapp 20.000 Nutzer registriert sind. Hier können sich allgemein Interessierte anmelden, es werden aber auch exklusiv für Mitglieder Intranetfunktionen für die Parteiorganisation abgebildet. Es geht vor allem um individuelle Mitgliederservices und Online-Instrumente für das Management von Ortsgruppen.
Grüne beraten Grundsatzprogramm online
Basisdemokratie gehört seit jeher zum grünen Selbstverständnis, doch auch hier wird verstärkt um die Partizipation der Mitglieder gerungen. Öffentlichkeitswirksam wurde diese zuletzt bei der Urwahl der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2017 praktiziert. Wählten hier die Mitglieder noch per Brief, wurde im April 2018 eine „Ordnung für Onlinebeteiligung“ beschlossen. In einer Erprobungsphase bis Ende 2019 werden im Rahmen der Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms Mitgliederbegehren ermöglicht. Dabei geht es um inhaltliche Impulse, die mit dem Online-Tool „Beteiligungsgrün“ eingereicht werden. Die Eingaben können drei Wochen lang kommentiert werden. Wenn sie in einer abschließenden Form 50 Unterstützer finden, befasst sich der Bundesvorstand damit und gibt zumindest ein Feedback.
Thomas Künstler, Referent für Beteiligung und Digitales in der Bundesgeschäftsstelle, gilt der „Grüne Monitor“, die wiederholt durchgeführte Mitgliederbefragung des Bundesvorstandes, als ein weiteres zentrales Instrument zur Beteiligung aller Mitglieder. Dabei werden Meinungen zu zentralen politischen Themenfeldern ebenso abgefragt wie soziodemografische Daten, um die Umfrage zu bewerten. Zudem lassen sich dort Fragen finden, die sich zum Beispiel auf die Hürden beziehen, um in der Partei aktiv zu werden. Zu Sachthemen kann auch von zwei Prozent der Mitglieder eine Befragung initiiert werden. Beide Formate werden auf der Plattform für Parteimitglieder, dem „Grünen Netz“, realisiert, aber sowohl die Bekanntmachung als auch die Beantwortung der Befragung bleibt offline möglich.
Linke Programmatik per Mitgliederentscheid ändern
Die Partei Die Linke ist für Kontroversen bekannt, und umstritten ist auch die Position zum bedingungslosen Grundeinkommen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Grundeinkommen der Partei möchte ihre Vorstellungen dazu im Parteiprogramm verankert sehen. Zu allen politischen Fragen, einschließlich herausgehobener Personalfragen, kann auf Antrag von Gliederungen und Gremien ein Mitgliederentscheid stattfinden. Auch fünf Prozent der Parteimitglieder können eine Urabstimmung erreichen. Dafür sammelt die BAG nun Unterschriften. Diese werden per Formular auf der Kampagnen-Website erhoben und via E-Mail bestätigt. Demgegenüber spricht sich der Parteivorstand dafür aus, das Thema in Übereinstimmung mit einem Parteitagsbeschluss nicht zu entscheiden. Er empfiehlt daher allen Mitgliedern, Gliederungen und Zusammenschlüssen, das Projekt nicht zu unterstützen.
Alternative Beteiligungsstrategie?
Eine dem direktdemokratischen Anspruch geschuldete Besonderheit der AfD ist, dass Parteitage nicht nur als Delegierten-, sondern auch als Mitgliederversammlungen durchgeführt werden können. Ansonsten unterscheidet sich die Beteiligungsstrategie nur bedingt von den „Altparteien“. In der Satzung sind Mitgliederentscheide und -befragungen vorgesehen. Letztere können auch Personalfragen betreffen, denn „über Spitzenkandidaturen aus Anlass allgemeiner Wahlen kann auf Bundesebene eine Mitgliederbefragung durchgeführt werden. Die Mitgliederbefragung hat empfehlenden Charakter. Die Abstimmung erfolgt online“, heißt es in Paragraf 20. Auch zum Bundestagswahlprogramm 2017 wurde eine solche Umfrage durchgeführt, mit der die Meinung der Basis zu diversen Themen eruiert wurde.
Bislang bewirkt die Digitalisierung einen eher moderaten Wandel parteiinterner Beteiligungsarchitekturen. Gleichzeitig bleibt die Idee der Umsetzung basisdemokratischer sowie bewegungsförmiger Vorstellungen in der parlamentarischen Demokratie durch Verfahren digitaler Partizipation virulent. Dies hat zuletzt die Parteigründung „Demokratie in Bewegung“ aufgegriffen, die mit neuen Methoden für Mitbestimmung, Kooperation und Transparenz experimentiert. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde dieser Ansatz allerdings nur von 0,1 Prozent der Wähler unterstützt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 124 – Thema: Die Macht der Länder. Das Heft können Sie hier bestellen.