Vom Gedöns zum Top Act und retour

Politik

Wenn es im Jahr 2000 in den Medien um die Zukunft “der Familie” ging, dominierten Beiträge über Lasten und Risiken. Die Diagnosen waren überzeichnet, aber die unterstellte Misere bedrückte durch einen realen Kern. Über Jahrzehnte hatte Familienpolitik, betrieben mit hohem finanziellem Aufwand, unbefriedigende Ergebnisse erzielt. Da sich die politischen Eliten nicht sonderlich dafür interessierten, fiel es ihnen nicht auf. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hatte sich auf Themen kapriziert, für die sich die breite Mehrheit nicht interessierte. Der Prozess der Verkapselung war so weit gediehen, dass Kanzler Gerhard Schröder flapsig vom “Gedöns” sprach. Zwei Jahre später gab er als erster Bundeskanzler eine familienpolitische Regierungserklärung ab.

Schröders Sicht änderte sich aufgrund von Wähleranalysen. Folgerichtig vollzog er 2002 einen Leitungswechsel im Bundesfamilienministerium, dem dort von 2003 an die Vorbereitung eines Politikwechsels folgte. Unerwartet, aber nicht zufällig, erlebte Familienpolitik anschließend eine Hochkonjunktur. In einem Thinktank wurde Politikberatung auf hohem Niveau professionalisiert. Ab 2004 wurde ein neuer, progressiver Weg eingeschlagen, dessen Konzentration auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit breiter Zustimmung quittiert wurde. Geldleistungen wurden wirkungsorientiert ausgerichtet und Infrastruktur bedarfsgerecht ausgebaut. Ausgeprägte Strategiekompetenz zeigte sich, als günstige Zeitfenster gesellschaftlicher Stimmung und politischer Konstellation für Agenda Setting genutzt wurden.

Plebiszitäre Züge

Zwei bemerkenswerte Persönlichkeiten haben als politische Unternehmerinnen Chancen ergriffen. Indem sie in der Gesellschaft Unterstützung mobilisierten, konnten sie ihre Parteien mitziehen und deren Doktrinen überwinden. Als Revolution von oben verabreichte Renate Schmidt der SPD ihre nachhaltige Familienpolitik. In einem Crashkurs überzeugte sie Kanzler Schröder, zog Stakeholder auf ihre Seite und erzielte erste Erfolge. Die neuen SPD-Entscheider verzichteten 2005 auf das Ressort, das die CDU-Vorsitzende Angela Merkel gezielt für ihre Partei reklamierte. Als Generalsekretärin hatte sie in ihrer Wahlanalyse 2002 aufmerksam das Soll registriert.

Die von ihr ausgewählte Ursula von der Leyen überspielte anschließend ihre Partei, als sie Schmidts Programm übernahm und den Modernisierungsschub mit plebiszitären Anklängen verstärkte. Eine hohe Präsenz in der Öffentlichkeit entfaltete Wucht in der medialen Wirkung und verschärfte den Erfolgsdruck auf die Parteien. Selbstverständlich gab es Widerstände: in der Union, auch in der SPD, aus strukturkonservativen Organisationen und Ländern. Neben dem enormen Rückhalt in der Bevölkerung trug die strukturierte Unterstützung durch Persönlichkeiten wie DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun, DGB-Chef Michael Sommer oder Bischof Wolfgang Huber wesentlich zum Erfolg bei.

Im Jahr 2004 tauchte Renate Schmidt als erste Familienministerin in den Top 10 der angesehensten Politiker auf. Ihre Nachfolgerin folgte ihr dorthin, schaffte es sogar mehrfach unter die Top 3. Eine systematisch erarbeitete Berichterstattung in den Leitmedien wirkte seit Anfang 2004 “top down”. Als Treiber funktionierten regelmäßig Pressekonferenzen mit magischen Daten, innovativen Impulsen und anspruchsvollen Zielmarken. Eine wahre Explosion an Beiträgen erfolgte in regionalen Zeitungen; Wirtschaftsblätter öffneten sich für die Anliegen. Der Befund des bis 2009 durchgängig positiven Medientenors lautete: “Familienpolitik wird zum Gewinnerthema” (Infratest). In den Regierungspressekonferenzen manifestierte sich der Bedeutungsgewinn, als die Sprecherin des BMFSFJ in die erste Reihe rückte. Die Deutungshoheit für das Politikfeld lag bei der Familienministerin.

Ökonomischer Charme

Mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft gelang eine Verständigung auf einen priorisierten Mix gesellschaftspolitischer Maßnahmen. Spitzenbeamte hatten das Konzept mit Sachverständigen wie dem Soziologen Hans Bertram entwickelt. Die von Schmidt als Plattform begründete “Allianz für die Familie” verfügte bald über einen beträchtlichen operativen Unterbau. In über 600 “Lokalen” engagierten sich neben sozialen Organisationen und Institutionen alle Kammern sowie Tausende Unternehmen für den “Erfolgsfaktor Familie”. Die Rezeptur der Argumentation erwies sich für die Medien als reizvoll und für die Bevölkerung als anziehend. Sie beruhte auf einer Mischung aus evidenzbasierter Rationalität und kommunitaristischer Verantwortung, aus modernen Rollenbildern und protestantischem Wertkonservatismus.

Beide Ministerinnen fanden über die “guten Menschen” hinaus immer dann Aufmerksamkeit, wenn sie über betriebliche Rendite, Wachstum oder Geburtenrate sprachen. Zum Kurswechsel zählte neben internationalen Benchmarks der überlegte Einsatz von ökonomischem Sachverstand. Eine Expertise des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegte erstmals den volkswirtschaftlichen Nutzen des Ausbaus der Kinderbetreuung. Mit Bert Rürup trat der erste Wirtschaftsweise an der Seite einer Familienministerin auf und begründete den Charme des Elterngeldes. Das Wirtschaftsinstitut Prognos wies für Unternehmen nach, wieviel Gewinn familienfreundliche Maßnahmen bringen. In Kooperation mit der Wochenzeitung “Die Zeit” wurde die Familienfreundlichkeit aller Regionen anhand harter Indikatoren ermittelt und als “Familienatlas 2005” und “Familienatlas 2007” mit fulminanter Resonanz veröffentlicht.

Messbare Erfolge

Der nachholende Ausbau der Tagesbetreuung schuf eine angemessene Infrastruktur. Der Kinderzuschlag für Geringverdiener holte Hunderttausende Kinder effizient aus der Sozialhilfe. Das Elterngeld verbesserte die Erwerbstätigkeit von Frauen substanziell und reduzierte Armutsgefährdung in Familien signifikant. Eine kleine Kulturrevolution löste die Elternzeit bei den Vätern aus. Familienforscher, Ökonomen und Demografen erwarten längerfristig eine höhere Geburtenrate. An transparenten Zielen ausgewiesene Wirksamkeit wurde zum Maßstab erklärt. Mit einer weltweit singulären Gesamtevaluation gelang der in der Politik seltene empirische Nachweis von Effektivität und Effizienz. Mit guten Gründen honorierte die Bevölkerung deutlich mehrheitlich, dass sich bis 2009 “die Bedingungen für Familien mit Kindern spürbar verbessert haben” (Allensbach). Nicht alles verlief erfolgreich, aber das Gesamtbild überzeugte.

Verlorene Jahre

Während die Vordenker 2009 im BMFSFJ noch weitere ehrgeizige Vorhaben konzipierten, strebte von der Leyen nach Höherem. Ihre Nachfolgerin Kristina Schröder bescherte der Familienpolitik vier verlorene Jahre und das Ressort richtete sich im Bedeutungsverlust ein. Den Protagonisten der schwarz-gelben Koalition war ein zeitgemäßes Profil der Familienpolitik gleichgültig. Die Bevölkerung blickte 2013 erwartungsvoll auf die erneute Große Koalition – laut Umfragen am nachdrücklichsten bezogen auf die Familienpolitik. In seltsamem Kontrast dazu verlief die Pressekonferenz der Parteivorsitzenden zum Koalitionsstart.

Die Worte Familie, Vereinbarkeit oder Kinder kamen in den politischen Statements nicht vor. Der Parteienforscher Joachim Raschke spricht in solchen Fällen von “pathologischem Lernen”. Ein Comeback progressiver Familienpolitik ist aber überfällig. Die von Familienministerin Manuela Schwesig propagierte partnerschaftlich gestaltete Familienarbeitszeit drängt sich als Fortschrittsziel förmlich auf. Wer die für Wahlerfolge unabdingbare soziale Mitte gewinnen will, sollte sich um bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf kümmern. Eine mögliche Kanzlerkandidatin zumindest hat das erkennbar gespeichert, für ihre weitere Lernkurve.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.