Wer sich die Menschen vorstellen möchte, von denen die Bundesrepublik Deutschland gelenkt wird, muss sich erstaunlich wenige vorstellen: Nicht einmal 500 Mitarbeiter hat das Bundeskanzleramt. Zwar ist deren Arbeitsplatz größer als der Élysée-Palast in Paris oder das Weiße Haus in Washington. Aber das sind nur umbaute Quadratmeter.
Was Manpower angeht, ist Angela Merkels Regierungszentrale ein Zwerg. Die Präsidialverwaltung von François Hollande hat mehr als doppelt so viele Mitarbeiter. Barack Obama kommandiert noch viel mehr. Und er hat die meisten auch noch selbst aussuchen können, denn während es in Deutschland auch im Kanzleramt nur sehr wenige politische Beamte gibt, wechselt in den USA mit jedem neuen Präsidenten auch die Administration zu großen Teilen.
Ganz auf Merkel eingeschworen sind hingegen nicht einmal die knapp 500 Kanzleramtsmitarbeiter. Ungefähr die Hälfte von ihnen arbeitet eigentlich in einem Fachministerium und ist nur für wenige Jahre in die Zentrale der Macht entsandt. Trotzdem gilt die Mannschaft im Kanzleramt als Elite, die traditionsreicheren Häusern wie dem Auswärtigen Amt in den vergangenen Jahren den Rang abgelaufen hat.
Vielleicht ist die relative Überschaubarkeit der Behörde sogar ein Geheimnis. Nie war sie kleiner als unter dem Kanzler, den viele für den stärksten hielten: Konrad Adenauer. Dessen Amtschef Hans Globke ist den Nachgeborenen oft nur noch wegen seiner Nazi-Vergangenheit ein Begriff. Tatsächlich hatte der frühere preußische Verwaltungsjurist die schändlichen Nürnberger Rassegesetze mitverfasst und kommentiert. Das war nie ein Geheimnis, sondern im Gegenteil jahrzehntelang fester Bestandteil der Anti-BRD-Propaganda in der DDR. Trotzdem ist erst im April dieses Jahres ein mit fünf Millionen Euro ausgestattetes „ressortübergreifendes Forschungsprogramm“ aufgesetzt worden, dass sich auch mit den Karrieren von ehemaligen Nationalsozialisten im Kanzleramt befassen soll. So dürfte das alte Globke-Porträt, das in der vierten Etage des Kanzleramts noch an der Wand hängt, wohl bald abgenommen werden.
Kabinett in Klein
Dabei hilft es nichts: Dieser Mann hat die Organisationsstruktur des Kanzleramts erfunden. Vor allem seine Spiegelreferate. Wie die meisten guten Ideen, war auch diese im Kern einfach: Das Bundeskabinett wurde im Amt einfach im kleineren Maßstab nachgebaut. Jedes Ministerium wurde dabei durch ein Referat abgebildet, das meint: „gespiegelt“. Im Prinzip ist es immer noch so: Die Beamten in den Referaten vollziehen Gesetzgebungsverfahren und andere wichtige Projekte aus den „Häusern“ ständig mit. Will sich der Kanzleramtschef auf den aktuellen Sachstand bringen lassen, muss er nur im eigenen Hause nachfragen. Nicht zu unterschätzen ist seit jeher auch der informelle Informationsfluss: Kanzleramtsmitarbeiter teilen sich Zuständigkeiten und Teeküchen mit ihren aus den Ministerien abgeordneten Kollegen und erfahren so oft per Flurfunk von Problemen, die den Fachminister noch gar nicht erreicht haben.
In der Publizistik und später auch in der Geschichtswissenschaft wird heftig gestritten, ob diese Art der Regierungsführung eine heimliche, ja extralegale „Führungszentrale“ Globkes war, gar ein „politischer Generalstab“, wie es Arnulf Baring in den siebziger Jahren formulierte. Oder doch nur ein „Frühwarnsystem“, eine „Relaisstation für die Regierungstätigkeit“, wie der Politikwissenschaftler Jürgen Hartmann bescheidener meint. Tatsächlich befindet sich das Kanzleramt mit seinen Spiegelreferaten bis heute in genau diesem Rollenkonflikt – und unter Kanzlerin Angela Merkel sind die Schwankungen sogar extremer geworden. Was entgegen einer verbreiteten Meinung im politischen Berlin nicht nur an den unterschiedlichen Temperamenten ihrer drei Kanzleramtschefs Thomas de Maizière, Ronald Pofalla und Peter Altmaier liegt.
Zunehmende Kontrolle
Wobei die Globke’sche Modellbehörde selbstverständlich schon lange zuvor Geschichte war. In der Staatsaufblähung der sozialliberalen Ära ging die Regierungszentrale mit schlechtem Beispiel voran. Brandts Kanzleramtschef Horst Ehmke stellte hunderte neuer Beamten auf, schuf Unmengen neuer Referate und verdoppelte die Posten für Staatssekretäre und Abteilungsleiter. Er erfand ein „Erfassungssystem“, in dem alle Ministerien in standardisierter Form alle Vorhaben eingeben mussten. Ehmke wollte nicht koordinieren, sondern eindeutig lenken – anders als sein an Detailarbeit uninteressierter Bundeskanzler Willy Brandt.
Interessanterweise machte mehr als zwanzig Jahre später erneut ein sozialdemokratischer „ChefBK“, wie der Kanzleramtschef intern genannt wird, den gleichen Fehler: „Ich versuchte, alle großen Vorhaben der Regierung zentral aus dem Kanzleramt zu führen und brachte damit alle Ministerien auf. So entstand eine kritische Dynamik“, reflektiert Bodo Hombach, der erste Kanzleramtschef von Gerhard Schröder die Anfänge von Rot-Grün. Statt die zahlreichen Anfängerfehler der überambitionierten rot-grünen Pioniere in den Ministerien auszubügeln, machte das Kanzleramt auch noch selbst welche.
Hombachs Nachfolger Frank-Walter Steinmeier ging wie Helmut Kohls stärkster ChefBK, Wolfgang Schäuble, geschickter vor und nahm sich zumindest öffentlich stark zurück. Auch Merkels erster ChefBK, Thomas de Maizière, erklärte noch gern „Koordinierung ist die beste Führung“. Damit war spätestens unter Ronald Pofalla Schluss. Der ehemalige CDU-Generalsekretär und erfolgreiche Wahlkämpfer hatte Schwarz-Gelb gegen alle Wahrscheinlichkeit möglich gemacht – nun wollte er die bürgerliche „Traumkonstellation“ auch zum Erfolg führen.
Doch programmatisch hatten sich die sozialdemokratisierte Merkel-CDU und eine in der Opposition radikalisierte Westerwelle-FDP viel zu weit auseinander entwickelt. Zwar war es gute alte Tradition, beide Koalitionspartner über eine komplementäre Besetzung aufeinander angewiesener Ressorts einzubinden. Aber diesmal funktionierte es nicht. Im Gegenteil: In der Energiepolitik gruben sich Wirtschaft (FDP) und Umwelt (CDU) wie in einem Schützengraben ein, in Anti-Terror-Gesetzgebung blockierte Justiz (FDP) das Innenministerium (CDU) und in der Steuerpolitik Finanzen (CDU) die gesamte FDP. Auch die „Spiegelressorts“ konnten den manchmal fast ideologisch scheinenden Streit nur hochmelden.
Da Geduld nicht zu Pofallas Haupttugenden zählte, riss er bald immer öfter die Verantwortung einfach an sich. Bei der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke im Jahr 2010 telefonierte der ChefBK schließlich direkt vom Kanzleramt aus mit den Bossen der vier großen Energiekonzerne. Pofalla vertraute weder den als Ökos verschrienen Beamten aus dem Bundesumweltministerium noch den als in Atomfragen Amateure geschmähten Mitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums, sondern verließ sich nur auf seine Spiegelreferate – wenn überhaupt.
Ironischerweise wurde dann auch die Abwicklung der Laufzeitverlängerung nach dem Unglück von Fukushima wieder zentral aus dem Kanzleramt gelenkt: Das Rekordtempo wäre im normalen demokratischen Verfahren schlicht nicht möglich gewesen.
Kritische Entwicklung
In Einzelfällen kehrte sich das Verhältnis zwischen dem großen Mutterhaus und dem viel kleineren Spiegelreferat sogar zeitweise um. So stabilisierte sich ein lange glückloser Außenminister Guido Westerwelle, indem er 2011 mit Emily Haber eine Diplomatin zu seiner Staatssekretärin machte, für die neben ausgewiesener Expertise auch ein besonderer Draht zu Christoph Heusgen sprach. Der außenpolitische Chefberater Angela Merkels leitete im Kanzleramt die Abteilung 2, zu der alle Spiegelreferate für das Auswärtige Amt gehören. Heusgen und Haber fanden gemeinsam für Westerwelle mit den Schwellenländern ein Profilierungsfeld jenseits der bereits vergebenen Europapolitik – das dieser klug nutzte.
Sein Nachfolger Frank-Walter Steinmeier sah allerdings gar nicht ein, dass der Schwanz weiter mit dem Hund wedeln sollte. Haber wechselte ins Innenministerium. Dort füllt sie als Leiterin des zentralen Flüchtlingsstabs wiederum eine Aufgabe aus, bei der die Beamten des Kanzleramts unzweifelhaft die Richtlinien der Politik bestimmen – und diese nicht nur spiegeln.
Im dritten Kabinett Merkel haben sich trotz eines ungleich stärkeren Koalitionspartners die Machtverhältnisse weiter in Richtung Kanzleramt verschoben. Obwohl der neue Kanzleramtschef Peter Altmaier bei seinem Amtsantritt das Gegenteil verkündete. Er wolle „die Häuser“, erst einmal machen lassen, weil er „als früherer Fachminister deren Sensibilitäten“ kenne: „Ein Kanzleramtsminister muss nicht nur wissen, wo er gefordert ist, sondern auch, wo er sich heraushält“, sagte Altmaier damals.
Doch daraus wurde nichts. „Da sind Mechanismen am Werk, die eher zu einer Präsidialdemokratie passen als zu einer Parteiendemokratie“, analysiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die aktuellen Entwicklungen: „Wir nähern uns dem amerikanischen Modell. „Das Weiße Haus aber hat Politikfelder, in denen es konkurrenzlos ist. Der amerikanische „Chief of staff“ lenkt nicht nur Spiegelreferate.
Und auch Altmaier, der sich zurückhalten wollte, agiert spätestens mit seiner Ernennung zum Flüchtlingskoordinator auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mehr wie ein „Chief of staff“. Der Rollenwechsel, den er selbst betrieben hat, wurde nicht nur vom ehemaligen ChefBK Wolfgang Schäuble skeptisch gesehen. Altmaier gebe in einer Woche mehr Interviews als seine beiden Vorgänger in acht Jahren, witzelten Unionsabgeordnete.
Die Leitung der Stabsstelle, die Altmaier im Kanzleramt schuf, ließ er weder mit einem Beamten aus dem Haus besetzen noch von einem Entsandten aus dem eigentlich zuständigen Innenministerium. Mit Jan Hecker wurde ein 48-jähriger Richter am Bundesverwaltungsgericht angeworben. Unter seiner Leitung hat eine kleine Truppe von Beamten, Offizieren und Juristen tatsächlich Struktur in das Chaos gebracht, das mit der Grenzöffnung vom 4. September entstand. Im Kanzleramt ist man mächtig stolz darauf, dass obwohl über eine Million Menschen nach Deutschland kamen, kein Flüchtling im Winter ohne Obdach blieb und keiner hungern muss. Eine logistische Meisterleistung – ohne dass ein Spiegelreferat kontrollieren konnte.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation II/2016 Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.