Das hatte man sich in Gütersloh sicherlich anders vorgestellt: Jahrelang hatte das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) landauf, landab für Studiengebühren gefochten, der Politik Handlungsempfehlungen gegeben und die Einführung der Gebühren 2006/2007 in einigen Bundesländern begleitet. Und nun droht die Studenten-Maut wieder im politischen Nirwana zu verschwinden. Den Anfang nahm das Unheil für die Tochtergesellschaft der Bertelsmann Stiftung ausgerechnet im sonst so konservativen Bayern, wo sich Mitte Januar ein Bürgerbündnis gegen Studiengebühren formierte. Das Volksbegehren war erfolgreich; nun entscheidet der bayerische Landtag. Es spricht vieles dafür, dass Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) auf die Gebührenschranke verzichtet, allein aus wahltaktischen Gründen, da kann die FDP auch noch so murren. Und die neue rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen hat jüngst beschlossen, die Studiengebühren spätestens 2014 abzuschaffen. Damit wäre Deutschland in diesem Punkt bald wieder mautfrei.
Die Ursache für die Pleite hat man in Gütersloh schnell gefunden. „Die Studiengebühren sind nicht aus inhaltlichen Gründen gescheitert. Aber es ist im Wahlkampf natürlich einfacher, gegen als für Gebühren zu sein“, analysiert Jörg Dräger die Lage. Er ist einer von vier Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann Stiftung und gleichzeitig Geschäftsführer des CHE.
Die drei Buchstaben stehen für ein kleines Institut mit gerade mal 30 Mitarbeitern, das sich selbst als überparteiliche Reformwerkstatt versteht. Bei linken Aktivisten und Studentenvertretern ist es jedoch als neoliberale Lobbytruppe verschrien. Allein die Umstände, die 1994 zur Gründung des CHE führten, sind vielen Kritikern ein Dorn im Auge. Damals holte Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn die Hochschulrektorenkonferenz als Gesellschafter mit ins Boot. Ein cleverer Schachzug, so die Gegner, verlieh die Stimme der deutschen Hochschulen dem Centrum doch den Anschein einer unabhängig agierenden Denkfabrik.
Der Fall des CHE zeigt: Lobbying in der Bildungspolitik geschieht verdeckter als in anderen Politikbereichen; auch fehlt der empörte Aufschrei der breiten Öffentlichkeit, wie man ihn etwa aus dem Gesundheitsbereich kennt. In keinem anderen Politikfeld gibt es mehr ideologische Scheuklappen, Strukturdebatten und fundamentale Unterschiede zwischen den Parteien. Und weil die Bundesländer qua Grundgesetz nun mal die Bildungshoheit haben, wird es ohnehin schnell unübersichtlich. Hier liegt der strategische Vorteil von Bildungsstiftungen wie Bertelsmann, Mercator oder der Deutschen Telekom. Sie haben lange Zeithorizonte, sind nicht auf Wählervoten angewiesen. Die Kultusminister kommen und gehen, Bertelsmann bleibt.
Heimliches Bildungsministerium
Jörg Dräger weiß, wovon er spricht. Als parteiloser Politiker war er sieben Jahre lang in Hamburg Wissenschaftssenator. Unter seiner Ägide führte die Hansestadt 2006 Studiengebühren ein. Dräger zog damit den Zorn vieler Studierenden auf sich, einmal warf ihm ein wütenden Demonstranten eine tiefgefrorene Torte ins Gesicht. Vor fünf Jahren hängte der studierte Physiker, der in Hamburg polarisierte und wahlweise als „Bulldozer im Dreiteiler“ („taz“) oder eloquenter Sonnyboy etikettiert wurde, den zermürbenden Politiker-Job an den Nagel. Seither bewirft ihn niemand mehr mit süßen Nachspeisen. Der Ex-Senator ist aus der Schusslinie, dabei ist sein Einfluss auf die Bildungspolitik größer geworden. Dräger verantwortet den Bildungsbereich der Bertelsmann Stiftung; 40 Prozent des Gesamtetats (45 Millionen Euro Projektbudget) fließen dort hinein. Gefördert werden dabei nur Projekte, die dem geistigen Erbe des Stifters Reinhard Mohn entsprechen, alle Lebensbereiche nach den „Grundsätzen des Unternehmertums und der Leistungsgerechtigkeit“ und dem Leitbild „so wenig Staat wie möglich“ umzugestalten.
Es ist genau dieses neoliberale Leitbild, das die „Bertelsmänner“ angreifbar macht. Inzwischen gibt es sogar ganze Bücher über das Netzwerk des Think-Tanks; eines stammt von Thomas Schuler. 2010 veröffentlichte der freie Journalist unter dem provokanten Titel „Bertelsmannrepublik Deutschland“ eine 300 lange Enthüllungsschrift; darin enthalten zahlreiche Beispiele, „wie die Stiftung zuweilen als Unternehmensberatung für staatliche Einrichtungen agiert“. Schuler hatte sich zuvor sechs Jahre lang Fakten recherchiert; mit ehemaligen Stiftungsmitarbeitern gesprochen; in Archiven der Stiftung gewühlt. Sein Buch enthält auch einige aufschlussreiche Zitate des ersten CHE-Leiters, Detlef Müller-Böling, über die Anfangszeit: „Hochschulpolitik ist ein vielrädriges Gebilde. Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann.“
Schuler sprach für seine Buchrecherche auch mit dem ehemaligen Staatssek-retär im Wissenschaftsministerium von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Lieb. Der Mann mit dem markanten Schnauzbart ist inzwischen einer der Herausgeber des Blogs „NachDenkSeiten“ und einer der ärgsten Kritiker des CHE. Für Schuler und Lieb steht fest: Das nordrhein-westfälische Hochschulfreiheitsgesetz aus dem Jahr 2006 ist der deutlichste Beweis, welch großen Einfluss das Centrum auf die deutsche Hochschulpolitik ausübt. „Dieses Gesetz ist auf dem Schreibtisch in Gütersloh entworfen worden“, urteilt Lieb. Von 1996 bis 2000 erlebte er persönlich mit, wie die Bertelsmann Stiftung ihre Forderungen an die Politik herantrug. Für den ehemaligen SPD-Politiker geht das Vorgehen der CHE beim Hochschulfreiheitsgesetz weiter als klassischer Lobbyismus. Aus seiner Sicht übernahm der damalige Wissenschaftsminister in NRW, Andreas Pinkwart (FDP), Eckpunkte für ein Hochschulfreiheitsgesetz eins zu eins von der Denkfabrik. Wohl auch deshalb bezeichnet der gebürtige Schwabe die Stiftung gern als „heimliches Bildungsministerium“.
Dräger kann über solche Zuschreibungen nur den Kopf schütteln: „Wir stellen unsere Ergebnisse der gesamten Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Politik interessiert sich dann dafür, wenn unsere Konzepte durch Inhalt und Substanz überzeugen.“
Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Ernst Dieter Rossmann pflichtet Dräger bei. Für den Parteilinken mit dem bordeauxroten Schal ist die Bertelsmann Stiftung eine von vielen Interessenvertretungen, deren Materialien sich auf seinem Schreibtisch stapeln. Er selbst habe erst kürzlich als Vorsitzender des Deutschen Volkshochschul-Verbandes mit der Stiftung zusammenarbeitet, als es um den Zukunftsdialog von Kanzlerin Angela Merkel ging. Rossmann sagt: „Ich habe nicht den Eindruck, dass Bertelsmann die deutschen Lehrpläne schreibt, und das darf auch nie geschehen.“
Das Gespräch macht einmal mehr deutlich, dass die Bertelsmann Stiftung in nahezu allen politischen Lagern einen guten Ruf genießt.
Dagegen kommt Kritik am Centrum für Hochschulentwicklung neuerdings aus einer Ecke, aus der man sie gar nicht erwartet hätte. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg und 2008 vom CHE noch als bester Hochschulmanager ausgezeichnet, stört sich plötzlich am jährlichen CHE-Hochschulranking. Dieser Vergleichstest habe „gravierende methodische Mängel“, sagt der 65-Jährige, der selbst gern auftritt wie ein wirtschaftsliberaler Manager. Lenzen, gleichzeitig Vizepräsident der mächtigen Hochschulrektorenkonferenz, ist jedoch nicht alleine mit dieser Bewertung. Neben der Uni Hamburg hat unter anderem auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie angekündigt, das Ranking künftig zu boykottieren. Lenzen missfällt die Rangliste auch deshalb, weil sie „unter der Hand“ als Maßstab für hochschulpolitische Entscheidungen fungiere; sei es für staatliche Zuwendungen oder für Gelder aus der Wirtschaft.
Wie rund 400 weitere Hochschulrektoren befindet sich Lenzen im Kampf um private Geldgeber. Denn der Staat zieht sich immer mehr aus der Hochschulfinanzierung zurück. Selbst die wirtschaftsnahe FDP bestreitet nicht, dass der Staat zu wenig Geld für Bildung ausgibt
Um es mit einer Metapher aus der Autowelt auszudrücken: Das Politikfeld Bildung ähnelt immer mehr einer rostigen Staatskarosse, dessen klammer Besitzer schon lange nicht mehr in der Werkstatt war, was dazu führt, dass die poröse Konstruktion nun private Geldgeber aufpolieren müssen.
Was für klamme Hochschulkassen ein Segen ist, betrachten Professoren und Studierende zunehmend mit Argwohn. „Die Gefahr, dass man sich in Abhängigkeit der Wirtschaft begibt, besteht durchaus“, sagt Matthias Jaroch vom Deutschen Hochschulverband (DHV). Als Beispiel nennt er den Streit um den Kooperationsvertrag zwischen der Uniklinik Köln und dem Pharmakonzern Bayer. Das Leverkusener Unternehmen steht im Verdacht, zu großen Einfluss auf die Belange der Universität auszuüben. Deshalb pocht der DHV darauf, die privaten Geldgeber offenzulegen.
Lobbyisten-Service für Lehrer
Anderswo ist man schon weiter: „Hochschulwatch“, heißt das neue Portal von Transparency International in Zusammenarbeit mit dem Freien Zusammenschluss von StudentInnenschaften (FZS) und der Tageszeitung „taz“. Die Seite will künftig über Verquickungen zwischen Wirtschaft und Politik informieren. „Es wäre gefährlich, wenn ökonomische Interessen die Ausrichtung der Forschungslandschaft diktieren“, begründet FZS-Vorstandsmitglied Erik Marquardt die Einrichtung der Anti-Korruptions-Plattform. „Das größte Gut der Wissenschaft ist ihre Unabhängigkeit und Transparenz. Hochschulwatch soll einen Beitrag dazu leisten.“
Ein Internetportal für besseren Durchblick im Lobbyisten-Dschungel könnten auch die Schulen gut gebrauchen. Denn der Lobbyismus ist inzwischen in Deutschlands Lehrerzimmer vorgedrungen. Das Einfallstor ist einmal mehr das Internet. Dort bieten seit etlichen Jahren Wirtschaftsunternehmen, Verbände, Stiftungen und Gewerkschaften den Lehrern einen ganz besonderen Service an: Arbeitsblätter oder ganze Stundenentwürfe zu den Themen Finanzen, Arbeitsmarkt, Globalisierung und das alles zum Nulltarif. Ein Klick, fertig. Doch anders als offizielle Schulbücher durchlaufen die privaten Materialien keine vorherige Qualitätskontrolle. Kein Wunder, dass sich in der Vergangenheit Fälle häuften, in denen einige der Arbeitsblätter wegen ihrer einseitiger Darstellung oder ihres kommerziellen Charakters in Verruf gerieten.
Schulfach Wirtschaft?
Die Deutsche Vermögensberatung (DVAG) etwa heimste 2011 die wenig schmeichelhafte Nominierung für die Lobbykratie-Medaille ein; ein Preis der Organisation Lobby-Control. In der Begründung hieß es, dass die DVAG als Sponsor der Lehrer-Broschüre zur Finanziellen Allgemeinbildung dazu beigetragen habe, dass „oberflächliches und einseitiges Material“ in die Lehrerzimmer gelangt. Lobby-Control sah darin einen klaren Verstoß gegen den sogenannten Beutelsbacher Konsens, eine Art Grundgesetz für die politische Bildung, in dem das Gebot der Kontroversität an oberster Stelle steht.
Doch warum geben private Organisationen den Lehrern überhaupt Gratis-Lehrmittel an die Hand? Auf der Suche nach einer Antwort ist das ostwestfälische Bielefeld eine gute Adresse. An der Fakultät für Soziologie setzt sich Professor Reinhold Hedtke seit Längerem mit der Frage aufeinander, wie viel ökonomische Bildung an deutschen Schulen notwendig ist. Im zufolge wird den Schülern heutzutage schon zu viel Wirtschaftswissen vermittelt. Eine Sichtweise, die den Arbeitgeberverbänden gar nicht gefällt, weswegen der Professor aus Bielefeld in diesem Kreise auch eine Persona non grata ist. Die Wirtschaftsvertreter beharren seit Jahren auf der Einführung eines eigenen Schulfachs Wirtschaft; bislang weitgehend vergeblich. Laut Hedtke sind die Unterrichtsangebote eine Art Plan B, um über Umwege doch noch in die Schulen zu gelangen.
Auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) betreibt seit sieben Jahren ein eigenes Lehrerportal. Die Plattform „Wirtschaft und Schule“, die im November 2012 knapp 98.000 Seitenabrufe hatte, wird inhaltlich von einem Redaktionsteam des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln betreut; regelmäßig werden zudem Pädagogen in die redaktionelle Arbeit einbezogen. In der Vergangenheit wurde der finanzkräftigen Organisation (Jahresetat 2012: 6,97 Millionen Euro) vorgeworfen, in ihren Materialien gegen den Mindestlohn zu argumentieren und zu wenig transparent zu sein. „Wir haben uns diese Kritik zu Herzen genommen und seitdem auch Dinge weiter verbessert“, erklärt Projektleierin Julia Saalmann. Nach dem Relaunch der Seite im Oktober 2011 prangt nun auf jedem Dokument ein Quellenhinweis.
Saalmann, die nach eigener Aussage alles als Schülerin alles zum Thema Wirtschaft im Erdkundeunterricht gelernt habe, findet, dass sich dringend etwas ändern müsse im den Klassenzimmern: Die Schüler müssten lernen, wie die Wirtschaft funktioniert, um später in der Arbeitswelt zurechtzukommen. Bildungspolitik betreibe die INSM mit dem Portal ausdrücklich nicht. Das Angebot sei als ein Debattenbeitrag zu verstehen, in der es nicht nur eine Wahrheit gibt. „Die Redaktion stellt wissenschaftlich belegbare Argumente mit den nach ihrer Überzeugung anschaulichsten Erklärungen dar“, macht Saalmann Werbung. Außerdem seien die Lehrer die Gatekeeper.
Staatliche Prüfstelle gefordert
Wer den anderen Part des Diskurses übernimmt, ist der Initiative nicht so wichtig. Die GEW, mit rund 260.000 Mitgliedern die größte Bildungsgewerkschaft in Deutschland, könnte so ein Gegenspieler sein. Und in der Tat bietet die Gewerkschaft im Netz ebenfalls Arbeitsblätter für den Unterricht an; jedoch mit einem Mini-Budget. Mehr als zwei bis drei Euro pro Material kann die Gewerkschaft nicht ausgeben, erklärt Martina Schmerr, GEW-Referentin im Bereich Schule. Wie viel das Lehrerportal die INSM kostet, will deren Pressesprecher Florian von Hennet nicht preisgeben. Geschäftsgeheimnis.
Zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund hat die GEW im Dezember die Kultusminister aufgefordert, eine Prüfstelle für externe Unterrichtsinhalte einzurichten. Die Antwort der Kultusministerkonferenz (KMK) steht noch aus. Auf Nachfrage in der Pressestelle heißt es, es liege noch keine Stellungnahme vor. Die Antwort verwundert, gehört das Gremium mit knapp 250 Mitarbeitern doch zu den Big Playern im Bildungsbereich.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Kanzlermacher – Zu Besuch in Deutschlands Wahlkampfagenturen. Das Heft können Sie hier bestellen.