Rhetorik braucht Gegner

Reschs Rhetorik Review

Hand aufs Herz! Können Sie sich an ein einziges dieser ach so legendären Sommerinterviews erinnern? Themen gibt es ja genug: Krieg! Energie! Corona! Die rumpelnde Koalition! Der schweigende Kanzler! Und dann gibt es dieses andere Thema, über das keiner spricht: die Hamburger Warburg-Bank im CumEx-Skandal. Die Journalisten könnten ihren Köcher voll haben, nicht nur mit Fragen, sondern auch mit Nachfragen. Und dazu noch einmal Munition fürs erneute Nachfragen. Mit ihren Recherchepfeilen könnten sie ihre Polit-Gäste richtig schön „löchern“, wie es früher in verrauchten Redaktionsstuben einmal hieß.

Darf man das nicht mehr: löchern? Klingt es zu sehr nach Winnetou? Es muss ja einen Grund geben, dass wir uns in den Medientrainings immer wieder und immer noch auf einen rhetorischen Kampf auf höchstem Niveau vorbereiten, um uns im Fall der Fälle dann so zu fühlen, als würden die Journalisten die Speisekarte aus dem (auch nicht mehr so angesagten) Café Einstein vorlesen. Von rhetorischem Gemetzel – keine Spur. Nicht einmal der Hauch einer scharfen Klinge blitzt auf an der Biegung des politischen Flusses im Lichte der untergehenden journalistischen Sonne. Howgh, ich habe gesprochen!

Empört euch nicht

Liebe Journalisten, wenn ihr so weitermacht, dann seid ihr dabei, nicht nur eurer Reputation das Grab zu schaufeln, sondern dem Beruf des Medientrainers den Garaus zu machen. Worauf sollen wir uns denn noch vorbereiten, wenn ihr mit Wattebäuschen in das Sommerinterview zieht? Ein guter Medientrainer antizipiert im Vorfeld alle Fragen, die da so dräuen könnten. Er hat manchmal Respekt vor dem Waffenarsenal, das man in den Händen der Medien vermutet. Ich überlege, ob ich euch das nächste Mal meinen Zettel mit den Trainingsfragen zur Verfügung stelle. So könnten die Politiker mal wieder zeigen, was sie rhetorisch so draufhaben. Wir wären gut vorbereitet. Und ihr?

Und wenn wir schon dabei sind, dann noch einen Tipp. Die Vertreter der AfD stellt man in Interviews nicht mit dem Habitus der Empörung. „Aber Frau Weidel, Sie können doch nicht wirklich …“ Als Vorwurf wird dann irgendetwas hanebüchen Rechtes aus dem Parteiprogramm oder einer Rede zitiert. Was sollen denn die Weidels dieser Welt antworten, außer: „Doch! Genau!“? Da ist er dann wieder, der Applaus von der falschen Seite.

Notabene, liebe Fragenden: Die AfD kann man nur inhaltlich stellen. In der Rhetorik gilt schon lange für die Antwortenden die Regel: Emotional und empört: schon verloren! Für Journalisten gilt das erst recht. Merkt ihr es denn nicht? Ihr kommt ihnen nicht mit Empörung bei. Muss euch jetzt schon ein Medientrainer zur Seite springen, damit es mit dem Interview klappt? Uns hat das früher ein Eberhard Piltz oder ein Klaus-Peter Siegloch beigebracht. Haben die keine Nachfolger?

Schlesinger schlüpft in die Opferrolle

Ach, doch, da fällt es mir ein. Es gab einmal eine gefeierte Journalistin namens Patricia Schlesinger. Sie war einst die Investigativ-Königin der ARD, die Chefin des Magazins Panorama. Wer einmal investigativ gearbeitet hat wie der Autor dieser Zeilen, der weiß, wie solche Redaktionen sich immer wieder wundern und es letztlich auch ein klein wenig feiern, wenn die Objekte der investigativen Begierde rhetorisch immer wieder die gleichen Fehler machen: Kopf in den Sand, Anwaltsschreiben, alles abstreiten und etwas von Kampagne murmeln. Fertig ist der Film. Dümmer geht’s nimmer.
Aber was macht Frau Schlesinger nun auf der anderen Seite? Gibt sie nun selbst das „Opfer der Recherche“? Genau das! Kann man das verstehen? Warum tut sie nicht das, was sie bei ihren investigierten Opfern immer wieder vermisst hat: Gesicht zeigen? Haltung zeigen. Kämpfen, mit der Macht der Worte und dem Schwert der Argumente!

Es geht in solchen Fällen, ähnlich wie bei Ex-Familienministerin Anne Spiegel (Grüne), ja selten noch darum, das Amt und den Job zu verteidigen. Es geht vielmehr darum, was in anderen Disziplinen „Wiederverwendungsfähigkeit“ heißt. Es muss ja irgendwie weitergehen, man hat ja gewisse Lebenshaltungskosten. Für Anne Spiegel hätte sich noch was bei den Wasserwerken Südpfalz finden lassen – aber nicht nach ihrem Auftritt bei der berüchtigten Pressekonferenz. Auch Frau Schlesinger droht jetzt das berufliche Zappenduster. Überleben geht nur mit offenem Visier und der Kunst der Rhetorik, die auf altmodische Dinge wie Haltung setzt – und nicht auf das hohe Ross des unbedingten Machterhalts.

Liebe Leserschaft, bitte merken Sie sich: Das funktioniert nie! Genau wie es keine Schönheitsoperation gibt, über die nicht auch die besten Freunde hinter vorgehaltener Hand tuscheln, gibt es im Krisenfall nur eine politische Überlebensstrategie: Die Rhetorik der Einsicht, der Entschuldigung und der gelobten Besserung. Es wird nicht automatisch alles besser, aber zumindest hat man noch mal eine Chance.

Entgleist

Liest hier eigentlich der Frankfurter Oberbürgermeister mit? Zu spät! Vor dem Fall kommt immer der rhetorische Hochmut. Wissen Sie, was ich meine, Herr Feldmann? Und dann gab es im rhetorisch mehr als lauen Sommer noch das Interview mit dem Bahnchef im heute journal. Mit wem? Mit dem Bahnchef! Aber ist der nicht lange im Ruhestand? Nein, ich meine nicht den Mehdorn, diesen rhetorischen Berserker, bei dem man immer das Gefühl hatte, er würde die Gleise mit bloßen Händen verlegen. Bei diesem Rhetorik-Rabauken wusste aber zumindest jeder Fahrgast, wer der Bahnchef ist. Der aktuelle heißt aber Richard Lutz. Bahnchef Lutz! Klingt schon wie bei „Thomas und seine Freunde“.

Aber zurück zum Thema: Der Mann von der Bahn war live bei Christian Sievers (hätte schlimmer kommen können, mit Marietta Slomka zum Beispiel). Der oberste aller Maskenkontrolleure ist sogar persönlich nach Mainz gereist für dieses Interview. Man hat es bei der Bahn also echt ernst genommen, dieses Interview inmitten der größtmöglichen Bahn-Unbill aller Zeiten. Sicher hat man es auch bestens vorbereitet.

Und schon schließt Christian Sievers die erste Frage ab: „Sind Sie in den letzten Tagen schon mal Bahn gefahren?“ Die Frage ist so klein und fein, dass sie großartig ist. Für den Herrn Lutz ist sie eine Chance – wenn er denn wüsste, was die Rhetorik seit 2000 Jahren diktiert in solchen Fällen. Die Antwort wäre so einfach: „Oh ja! Und ich kann mich nur entschuldigen, was ich alles gesehen und erlebt habe. Ich verspreche: Wir tun alles dafür, dass Sie nach der Bahn wieder die Uhr stellen können.“

In der Antwort wäre alles drin: Haltung, Ethos, Logos und Pathos. Jeder versteht das. Jeder kann folgen. Christian Sievers müsste sich umdrehen und den Ball aus dem Tor nehmen. Und was machte der Bahnchef? Er hub an zu einem Deep Dive in den technischen Maschinenraum eines Bahnchefs. Er erklärte umständlich, was definitiv nicht die Ursachen des Chaos seien, obwohl niemand danach gefragt hatte. Warum sollte ihm das helfen? Er versprach dann irgendwann Investitionen in Infrastruktur und Hochleistungsnetze. Ist das jetzt doch der Mann von der Telekom?
Sievers konnte diese flauschig geschossenen Bälle einhändig abwehren und die Zuschauer waren schon lange woanders. Denn der Mann, der die Menschen durchs Land kutschiert, sprach nicht so wie die Menschen, die er durchs Land kutschiert, sondern wie ein technokratischer Bahnverwalter.

Und sonst noch? Robert Habeck macht auf Karl Lauterbach, muss heute kassieren, was er gestern angekündigt hat. Der Lauterbach selbst macht auf Robert Habeck und erklärt, warum der Winter mal wieder extrem gefährlich wird. Olaf Scholz macht auf Olaf Scholz und erklärt nix. Und wenn die umjubelte Außenministerin mal keine vorgeschriebene Rede vorzulesen hat, sagt sie den Russen immer wieder, dass sie nicht mit ihnen reden wolle. Das veranlasst den ollen Kissinger wiederum dazu, mal ein Buch zu schreiben über die Freunde aus alten Tagen, zu denen das Wort Staatskunst wirklich passt. Die konnten alle auch irgendwie reden. Lange her. Alle tot. Politiker aus Zeiten, in denen die Rhetorik noch Gegner hatte.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.