Spitzenpolitiker sind umgeben von vermeintlich klugen Köpfen, Ratgebern, Beiräten und Analysten. Wer regiert, kann sich eines breiten Instrumentariums bedienen, durch das er sich bei der Entscheidungsfindung beraten lässt. Doch manchmal gibt es Situationen, in denen all das nicht weiterhilft – wenn nur ein kurzes Zeitfenster für eine Entscheidung offensteht oder ein Kurswechsel mit unabsehbaren Folgen notwendig ist. Wenn in den Nebelschwaden zahlenbasierte Rationalität nicht möglich ist und Intuition den besseren Kompass darstellt.
Als Angela Merkel im vergangenen September erklärte, Deutschland werde alle in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge aufnehmen, spielte ihr Bauchgefühl ebenso eine Rolle wie das ihres Vorgängers Gerhard Schröder, als sich dieser im Jahr 2005 dazu entschied, eine vorgezogene Bundestagswahl anzustreben. Hätte sich Konrad Adenauer ohne sein ausgeprägtes Bauchgefühl dazu entschlossen, die umstrittene Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik voranzutreiben, wäre Willy Brandt als Bundeskanzler in Warschau spontan auf die Knie gefallen oder hätte sein Nachfolger Helmut Schmidt instinktgeleitete Entscheidungen im sogenannten „Deutschen Herbst“ 1977 getroffen? Kaum. Dabei ist es unerheblich, ob dies bildhaft einem feinen Riecher, dem tiefsitzenden Instinkt oder eben jener Bauchregion zugeschrieben wird. Dennoch taucht insbesondere der Bereich zwischen Brustkorb und Becken in der Politik immer wieder symbolisch auf: „I have a gut feeling“, wird der frühere US-Präsident Ronald Reagan zitiert, der dafür bekannt war, Stimmungen im Land früh zu wittern und aufnehmen zu können. Doch oft wird das Bauchgefühl zu pauschal betrachtet und gelegentlich auch als oberflächlich belächelt, obwohl das Gegenteil der Fall ist. So wird etwa Vizekanzler Sigmar Gabriel immer wieder Bauchgefühl in Verbindung mit Impulsivität attestiert – dabei sind diese beiden Begriffe eher ein Widerspruch. Bauchgefühl ist eher nüchtern und leise als laut, vor allem aber nicht per se mehrheitsorientiert – vielmehr gleicht es einem Sonargerät, mit dem sich Schiffe bei trüber Sicht fortbewegen und Hindernisse umgehen.
Bauchgefühl und Analyse
Bei der Frage, wie sich der Erfolg intuitiven Handelns wissenschaftlich belegen lässt, kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass Bauchgefühl-basierte Entscheidungen erfolgreicher sind als nur auf rein analytischer Grundlage getroffene. Bei langfristigen Entscheidungsprozessen ist die eingehende Befassung mit Analyseergebnissen wie etwa empirischer Forschung natürlich unabdingbar. In bestimmten, vor allem kurzfristigen Entscheidungssituationen lassen sich jedoch nicht alle relevanten Aspekte berücksichtigen. Hier kommt das Bauchgefühl ins Spiel: Inmitten einer (politischen) Schlacht können nicht langwierige Statistiken interpretiert werden, sondern es geht darum, Risiken schnell zu bewerten: Drohe ich mit Rücktritt, bewege ich mich bei der Tarifverhandlung in eine unerwartete Richtung, stelle ich einen spontanen Antrag beim Bundesparteitag? In solchen Momenten hilft Intuition – sowie der Blick auf grundsätzliche Faustregeln der Macht. Das Bauchgefühl paart Instinkt mit kurzfristig abrufbaren Erfahrungen, was umso wichtiger wird, je größer die Zahl der Unbekannten in einer Rechnung ist. Ausgeklammert wird dabei der Wust unwichtiger Informationen, der in der konkreten Situation eher vom Ziel ablenkt.
Zu viele Informationen – ein Problem nicht nur der Spitzenpolitiker. Doch wer an der Spitze der Machtpyramide steht, ist besonders gefährdet, einem Informations-Overkill zu erliegen. Man mag sich kaum vorstellen, wie viele Botschaften täglich etwa auf Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen einwirken: von Kabelberichten der Bundeswehr-Auslandseinsätze über Interna des Militärischen Abschirmdiensts bis hin zu Gossip aus dem Berliner Medienumfeld. In diesem Sammelsurium der Buchstaben und Zahlen wäre ein Spitzenakteur verloren oder müsste sich von Zuarbeitern abhängig machen, besäße er keinen eigenen Sensor – und der sitzt tiefer als der Kopf. Wer Verantwortung trägt, dem helfen Senior Advisors und Unternehmensberater nur bis zur Schwelle der Entscheidung – danach folgt die Einsamkeit der Macht.
Beim Thema Bauchgefühl sind Politiker nicht allein: Demoskopen bestätigen, dass auch die Wähler in der Wahlkabine einen „Moment der Wahrheit“ durchleben – ansonsten politisch Desinteressierte besitzen intuitiv ein feines Gespür, welcher Kandidat auf dem Wahlzettel vertrauenswürdig und wer nur ein Blender ist. Daher sollte dem Bauchgefühl ein besseres Standing zukommen. Denn Bauchentscheidungen sind bei Weitem nicht kopflos, vor allem aber besser als vieles zu Verkopfte.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.