Wir brauchen handlungsfähige Gemeinschaftsinstitutionen, nicht nur zur Bewältigung der Verschuldungskrise in der EU, sondern auch im Hinblick auf die Zukunft. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der SPD sprechen wir uns u. a. für mehr Kompetenzen und für eine durchsetzungsfähige Europäische Kommission aus. Dies darf aber nicht mit einer Schwächung des Europäischen Parlamentes (EP) einhergehen. Darauf würde es aber bei Abschaffung einer Sperrklausel bei der Europawahl hinauslaufen. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von November 2011 haben sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert. Das gilt z. B. für die Mitentscheidung bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Aufstellung von Spitzenkandidaten; das EP kann heute viel selbstbewusster agieren und hängt nicht mehr am Gängelband von Rat und Kommission. Dies zeigte sich bei den erbittert geführten Verhandlungen um die mittelfristige Finanzplanung wie auch an der Drohung, wegen der Abhöraffäre das SWIFT-Abkommen auszusetzen oder etwa das Freihandelsabkommen mit den USA zu suspendieren. Aus meiner Sicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das EP als gleichberechtigter Partner wirklich auf Augenhöhe mit der Kommission entscheidet. Dieser Prozess sollte nicht dadurch erschwert werden, dass weitere Splitterparteien und Gruppierungen eine fraktionsübergreifende Konsensbildung im EP belasten oder gar verhindern. Darum brauchen wir eine Sperrklausel. 16 nationale Parlamente haben solche Hürden für die Europawahl vorgesehen. Wir sehen uns damit konfrontiert, dass populistische Kräfte europaweit im Aufwind sind. Eine Sperrklausel kann dazu beitragen, die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Wir müssen eine weitere Zersplitterung des EP abwehren. Dabei sind drei Prozent eine vergleichsweise moderate Hürde, die auch weiterhin kleinere Parteien zum Zuge kommen lässt. Ich halte das Karlsruher Urteil von November 2011 nach wie vor für eine falsche Entscheidung und vertraue darauf, dass die nunmehr gefundene Regelung Bestand hat.
Wir Freien Wähler sehen in der eingeführten Drei-Prozent-Hürde einen weiteren Versuch der Bundestagsparteien, neue Mitbewerber von der politischen Gestaltung fernzuhalten. Es kann durchaus sinnvoll sein, einer Zersplitterung des Parteiensystems durch maßvolle Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien vorzubeugen. Doch dies ist gerade für das Europaparlament nicht notwendig. Hier ist keine feste Regierungsmehrheit erforderlich, auf die sich eine Europäische Kommission stützen müsste. Stattdessen bilden sich stets sachbezogen und in eingespielter Weise neue Mehrheiten. So sah es das Bundesverfassungsgericht, vor dem wir jetzt klagen, bereits 2011, als es die Fünf-Prozent-Hürde kippte. Auch ohne Sperrklausel in Deutschland bleibt das Europaparlament in jeder Hinsicht handlungsfähig. Denn bei künftig lediglich 96 von insgesamt 751 in Deutschland zu wählenden Abgeordneten sind ohnehin die Stimmen aus vielen weiteren Mitgliedstaaten für die Mehrheitsbildung erforderlich. Ferner zeigt sich, dass die Europaabgeordneten eines Mitgliedstaates bei etlichen Entscheidungen geschlossen nationale statt parteipolitische Interessen verfolgen. Dass Einschränkungen durch Sperrklauseln nicht erforderlich sind, demonstrieren zudem die Beispiele ähnlich großer EU-Mitgliedstaaten wie Großbritannien und Spanien: Beiden sind Sperrklauseln bei Europawahlen fremd. Unsere Rechtsordnung wird heute zu 85 Prozent durch Brüssel geprägt, viele politische Weichen werden dort gestellt. Zudem wählt das Europaparlament jene EU-Kommissare, die beispielsweise gegen den Willen unserer Bürger versuchen, die Privatisierung der Trinkwasserversorgung voranzutreiben. Zwingend erforderlich ist unseres Erachtens angesichts solch großer politischer Verantwortung der Europaparlamentarier eine möglichst genaue Repräsentation des deutschen Volks ohne die einschränkende Drei-Prozent-Hürde. So erhalten Beschlüsse des um Bürgernähe ringenden Europaparlaments höhere Legitimation und damit größeren Rückhalt in der Bevölkerung.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Team America – Die neuen Transatlantiker. Das Heft können Sie hier bestellen.