Zu wievielt dürfen wir Weihnachten feiern? Um das zu erfahren, müssen wir auf die Bund-Länder-Konferenz warten. Für seine Ausgabe am 21. November hat der „Spiegel“ mit einem Titelbild auf die Schippe genommen, wie weit sich die Regierungschefs mittlerweile von vielen Bürgern entfernt haben. Es zeigte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als Knecht Ruprecht mit einer Rute, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit einer Weihnachtsmütze und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) mit Rentiergeweih. Die Karikatur legte nahe, dass die Politiker sauer sind auf ihre ungehorsamen Bürger – und bereit, sie zu züchtigen, um das Weihnachtsfest zu retten.
Die „Weihnachtsbotschaft“ der Politik, es sei in einer Pandemie ihre vornehmste Aufgabe, das Fest zu retten, befremdet. Sollen wir einen Absturz der Wirtschaft mit all seinen Folgen und seinen Anstieg der Infektionen um Neujahr wirklich dagegen abwägen, dass Familien einträchtig „Stille Nacht“ singen können? Diese Erzählung ist Stoff für eine notorische Weihnachtskomödie am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags. Im realen Leben stürzt sie viele Bürger (nicht zuletzt diejenigen anderer Konfession) in Zweifel, ob die Politik das rechte Ziel vor Augen hat: Leben zu retten, die Infektionszahlen zurückzudrängen und dabei nicht zu viel verbrannte Erde zu hinterlassen.
Ohne die Bürger geht es nicht
Wenn man die schwache Wirkung der derzeitigen Maßnahmen betrachtet, drängt sich ein Verdacht auf: Wenn die Bevölkerung nicht mitzieht, greifen Geschäftsschließungen und ähnliche Maßnahmen ins Leere. Unmittelbar vor dem ersten Shutdown standen die Deutschen unter dem Eindruck der schockierenden Bilder aus Bergamo. Die Militärlastwagen, die für den Abtransport von Särgen geordert worden waren, brannten sich ins Gedächtnis. Die Deutschen schränkten ihre Kontakte ein, ohne dazu gezwungen worden zu sein. Offenbar ist das derzeit nicht der Fall.
Nichtstun gegen Corona: Über eine Million Menschen haben sich auf Youtube den ersten Spot der Regierungskampagne #besonderehelden angeschaut.
Woran liegt das? Es wäre möglich, dass der Stolz der Politik auf die Wirkung ihrer Maßnahmen im Frühjahr verfrüht, wenn nicht verfehlt ist. Vordergründig führten die Verweise der Politiker auf diesen Erfolg zu mehr Vertrauen in der Bevölkerung. Umfragen spiegelten das wider. Es gibt aber eine Kehrseite. Wer darauf vertraut, dass die Politik alles regelt, wird selbst nachlässig. Im Sommer haben wir das gesehen. Demonstrationen, Grillfeste und Massenhochzeiten zeigten, dass die Menschen ihren Beitrag, das Virus einzudämmen, nicht ernst genug nahmen. Wir wissen heute, dass Kontakte an der frischen Luft relativ ungefährlich sind. Damals waren wir nicht so sicher. Fatal war, dass viele nicht wussten, wie unverträglich ihr Handeln mit verantwortungsvollem Alltagsverhalten in einer Pandemie war. Aber wenn alle Stricke rissen, gab es ja immer noch die Politik.
Tatsächlich sind die Regierungsspitzen an solchen Interpretationen nicht ganz unschuldig. Am Ende jeder Bund-Länder-Runde inszenierten sie ihre Pressekonferenz, als verkündeten sie die weisen Ratschlüsse eines erlauchten Kreises. Das machte die Ohnmacht der Bürger sinnbildlich. Die Bilder sollten Vertrauen einflößen: „Hier stecken die Spitzen des Staates ihre Köpfe zusammen.“ Merkel sagte ein paar Worte, sorgte sich und mahnte. Dann gab Bayerns Ministerpräsident Markus Söder noch seinen unvermeidlichen Senf dazu – und dann durfte zunächst Hamburgs Peter Tschentscher (SPD) und jetzt Berlins Michael Müller (SPD) ein bisschen nachdenklich sein.
Maßnahmen müssen nachvollziehbar sein
Die regelmäßigen Neuauflagen der Runde wären unnötig gewesen, wenn die Politik sich bereits im Frühjahr auf einen übersichtlichen Regelkanon des privaten Lebens verständigt hätte, der mit einem verbindlichen Ampelsystem für Maßnahmen gemeinsam in Kraft getreten wäre. Alle hatten Verständnis dafür, dass die Politik im Frühjahr Entscheidungen treffen musste, die auf unvollständigem Wissen beruhten. Die Datenlage war unklar, alle waren sich dessen bewusst – mit Abstrichen gilt das auch heute noch.
Umso wichtiger ist es in solchen Lagen aber, dass Entscheidungen wenigstens intuitiv nachvollziehbar sind. Sie müssen einleuchten. Bei zu vielen Maßnahmen war das nicht der Fall. Wenn selbst Leute bestraft werden sollten, die an der frischen Luft auf einer Parkbank ein Buch lasen, war das nicht nur zu viel des Guten. Ähnlich schädlich waren jetzt die Schließungen vieler Geschäfte, die viel Geld und Mühe in aufwendige Hygienekonzepte gesteckt hatten, ohne dass sich ihre Rolle im Infektionsgeschehen mit Zahlen erhärten ließ.
Vor allem Beherbergungsverbote und eine Maskenpflicht im Freien haben der Glaubwürdigkeit einer planvollen Pandemiebekämpfung einen schweren Schlag versetzt. Kaum jemandem leuchtete es ein, welchen Beitrag diese Maßnahmen leisten sollten, um die Infektionsraten zu senken. Wenn es das Ziel war, allgemein die Mobilität der Menschen zu senken, wurde das nicht klar genug kommuniziert. Das Unverständnis über solche Maßnahmen legte die Axt an das Vertrauen in die anderen Maßnahmen. Was, wenn die ähnlich dünn begründet waren?
Verstellter Blick
Anstatt ein verbindliches, nachhaltiges Regelwerk aufzustellen, traten die Regierungschefs der Länder und die Kanzlerin immer wieder zusammen. Damit nahmen sie den Bürgern die Verantwortung ab, wie es weitergehen sollte – nicht ohne sie zu beschwören, dass es ohne ihre Mitarbeit nicht ginge. Die Regierungsspitzen signalisierten: „Wir kümmern uns. Wir sind da dran.“ Umgekehrt verstanden viele Bürger: „Die Politik hat das Thema angepackt, ich muss nicht mehr mitmachen.“ Das war ausdrücklich nicht, was auf diesen Pressekonferenzen gesagt wurde. Es war aber das, was bei vielen Menschen ankam.
Und so wanderte die Aufmerksamkeit hin zu diesen Runden, von denen die Verfassung nichts weiß. Dort sitzt eine Kanzlerin, die für Pandemiemaßnahmen streng genommen nicht zuständig ist. Dort ringen die Regierungschefs der Länder um Maßnahmen, Botschaften und Parteivorsitze. Begleitend tourten Lautsprecher wie Markus Söder und Armin Laschet durch die Talkshows erklärten den Menschen die Pandemie, die derweil in ihren Ländern außer Kontrolle geriet. Das war unterhaltsam, vielleicht zu unterhaltsam. Denn die Dauerkommunikation verhinderte, dass sich klare Botschaften setzten, die den Menschen einen Fixpunkt für verantwortungsvolles Handeln geben konnten. Zudem wäre die Aufmerksamkeit der Bürger besser dort aufgehoben gewesen, wo der Kampf gegen die Pandemie tagtäglich entschieden wird: bei ihnen selbst.
Militär-LKWs transportieren Särge mit Covid-19-Toten im Frühjahr von Bergamo nach Ferrara. Bilder wie diese beeindruckten die Deutschen tief. (c) picture alliance/Associated Press/Massimo Paolone
Strengere Regeln im Sommer wären keine brauchbare Alternative gewesen. Das hätte sich in Zeiten mit niedriger Inzidenz politisch wohl nicht durchsetzen lassen. Die bessere Lösung wäre es gewesen, auf die Eigenverantwortung der Menschen für sich und die ihnen nahe Stehenden hinzuweisen. Immer wieder. Verantwortungsvolles und gewissenhaftes Handeln entsteht nicht mit dem Blick ins Gesetzbuch. Es entsteht, indem es eingeübt wird. Viele Gesetze werden erst erlassen, wenn die meisten Bürger ihnen ohnehin zustimmen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich verstehe, wenn viele Menschen glauben, ohne strenge Regeln gehe es nicht. Alltäglich beobachten wir Situationen, die das nahelegen. Deshalb befürworte ich hier nicht, den Menschen die Pandemiebekämpfung anzuvertrauen oder aufzubürden. Beides wäre unangemessen. Wenn zu viele Menschen das Vertrauen enttäuschen, scheitert die gesamte Strategie. Ebenso wäre es eine Bankrotterklärung des Staates, die Pandemiebekämpfung zu delegieren.
Verantwortung
Verantwortung ist der Schlüsselbegriff. Die Menschen müssen Verantwortung tragen – aber nicht für die Gesellschaft. Solidarität ist ein abstrakter Gedanke, mit dem viele Menschen nichts anfangen können. Verantwortung und Solidarität fangen im Kleinen an, wo sie greifbar sind. In unserem Heim, vor unserer Haustür. Für unsere Familie, für unsere Nachbarn. Dieser Verantwortung sich zu entziehen, ist schon schwieriger. Wer seinen Müll nicht trennt, wird die Folgen in der Regel nicht bemerken. Wer seinen Müll aus dem Fenster wirft, läuft tage-, wenn nicht wochenlang daran vorbei.
Als die Leopoldina gemeinsam mit dem Helmholtz-Institut, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Fraunhofer-Institut, der Leibniz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft Ende Oktober ein Papier veröffentlichte, schrieben Zeitungen: Forscher fordern einen Lockdown. Zu diesem Schluss kamen die Journalisten, weil das Papier betonte, die Menschen müssten Kontakte minimieren. Verschiedene Graphen zeigten, mit wie viel Prozent verminderten Kontakten jeweils welche Abflachung der Infektionskurve erreicht wurde. Wer allerdings genau im Papier las, bemerkte, dass die Forscher nicht unterschiedslos von Kontakten schrieben. Vielmehr ging es um Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen. Sie forderten nicht, pauschal Kontakte zu minimieren. Insbesondere sollten Risikokontakte vermieden werden. Das ist ein großer Unterschied. Risikobehaftete Kontakte sind Situationen, in denen sich viele Menschen in geschlossenen Räumen aufhalten oder sich nahe gegenüberstehen, wenn sie miteinander sprechen.
Der pandemische Imperativ
Kurzfristig gesehen ist es das richtige Rezept für einen Lockdown, Kontakte zu reduzieren. Um eine Gesellschaft einigermaßen intakt durch eine Pandemie zu lotsen, taugt das nur bedingt. Für eine längerfristige, alltagstaugliche Strategie, mit dem Virus zu leben – das viel zitierte New Normal – brauchen wir einen Plan: Hygienekonzepte, wie sie Gastronomen, Veranstalter, Hoteliers und auch Schulen erarbeitet und umgesetzt haben. Dazu gehören etwa die Maskenpflicht in Innenräumen, Belüftungslösungen, kleinere Gruppen und physische Barrieren. Sie ermöglichen es, aus Risikokontakten einigermaßen sichere Kontakte zu machen. Solche Maßnahmen verhindern nicht alle Infektionen. Wohl aber sinkt die Wahrscheinlichkeit rapide, dass eine Person auf einen Schlag massenhaft andere ansteckt. Diese Super-Spreading-Events sind die eigentlichen Treiber der Pandemie.
Weißer Rauch alle paar Wochen: Eine Pressekonferenz nach einer Bund-Länder-Konferenz. (c) picture alliance/dpa/AFP/Pool/Odd Andersen
Wenn man akzeptiert, dass Verantwortung der wichtigste Wert in dieser Situation ist, darf man nicht mehr vor allem und zuerst auf den Staat schauen. Das liberale Credo, das Grundrechte vor allem Abwehrrechte gegen den Staat sind, wackelt in einer Pandemie. Es wäre zu wünschen, dass jeder seine Grundrechte jetzt als individuelle Privilegien begreift, die er gegen sein eigenes Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit abwägen muss – und das Recht derer, die ihm nahe sind. Wenn also Friedrich Merz darauf besteht, es geht den Staat nichts an, wie er Weihnachten feiert, hat er Recht. Er hat aber Unrecht, wenn er meint, dass das hier relevant ist.
Richtiger wäre es, den pandemischen Imperativ anzusetzen, wie ihn der Virologe Christian Drosten verschiedentlich ausgeführt hat: Verhalte dich so, als wärest du positiv auf das Coronavirus getestet worden und dein Gegenüber gehörte einer Risikogruppe an. Nach diesem Imperativ geht es den Staat tatsächlich nichts an, wie ich Weihnachten feiere. Aber es geht meine Familie, ihre Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen etwas an. Deshalb ist es nicht hilfreich, wenn die Politik jetzt die Zahl von zehn Personen nennt, mit denen Weihnachtsfeiern zulässig sind. Damit öffnet sie einen politischen Korridor der Unvernunft, den viele Menschen durchschreiten werden. Stattdessen hätte die Politik sich zurückhalten sollen, um die Menschen auf sich selbst zurückzuwerfen. Nur so stellen diese sich die entscheidenden Fragen: Werden wir uns vorher in Quarantäne begeben? Werden wir uns vorher testen lassen? Werden Risikopersonen kommen? Werden wir die ersten Tage nur in unseren Schlafzimmern die Maske abnehmen? Nur, wenn diese Fragen für alle befriedigend geklärt sind, werden wir beruhigt gemeinsam feiern können. Und beruhigt kann dann auch der Staat sein, und die Gesellschaft.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 133 – Thema: Seuchenjahr – Sprache, Bilder, Inszenierung hinter der Maske. Das Heft können Sie hier bestellen.