Die 20. Bundestagswahl ist die neunte im vereinigten Deutschland. 47 Parteien nehmen daran teil. Neben der CDU, der CSU, der SPD, den Grünen, den Liberalen, der AfD und der Partei Die Linke haben – das wird oft übersehen – zwei weitere Parteien Chancen, in das Bundesparlament einzuziehen: die Freien Wähler deshalb, weil ihr Vorsitzender Hubert Aiwanger mit seiner demonstrativ bekundeten Impfskepsis für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt und auf diese Weise der eigenen Partei, deren Wahlprogramm unter dem Motto „Die Kraft der Mitte“ steht, vielleicht zu einem solchen Achtungserfolg verhilft. Zum ersten Mal seit 1961 tritt außerdem wieder der Südschleswigsche Wählerverband an. Als Partei einer nationalen Minderheit (der Dänen und der Friesen) ist er von der Fünfprozentklausel ausgenommen. Die Partei („Deine Stimme für Schleswig-Holstein“) könnte mit ihrer schleswig-holsteinischen Landesliste den Einzug in den Bundestag mit einem Mandat schaffen. Zuletzt und zum einzigen Mal gelang ihr das 1949.
Die Spitzenkandidaten werden dabei immer wichtiger. Das hat vor allem mit der nachlassenden Parteiidentifikation und damit der größeren Wechselbereitschaft der Wähler zu tun. Bei der Union will Armin Laschet die Nachfolge Angela Merkels antreten. Naturgemäß rückt die Union ihn in den Vordergrund, ohne aber den im parteiinternen Machtkampf knapp unterlegenen Markus Söder außer Acht zu lassen. Hingegen stellt die SPD ganz auf Finanzminister Olaf Scholz ab. Dieser überzeugt mehr durch Kompetenz als durch Charisma. Angesichts ihrer Unpopularität spielen die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans keine Rolle im Wahlkampf. Die Grünen dagegen präsentieren nicht nur ihre Spitzenkandidatin Annalena Baerbock öffentlichkeitswirksam, sondern auch ihren „ersten Mann“ Robert Habeck, den viele Außenstehende lieber auf dem Schild gesehen hätten. Bei der FDP ist Christian Lindner allein auf weiter Flur – und zwar schon seit 2013, als die Liberalen unter seinem Vorgänger Philipp Rösler erstmals die Fünfprozenthürde nicht überwinden konnten. Die Linke tritt ebenso wie die AfD mit zwei Spitzenkandidaten an, die die doppelte Parität – nach Herkunft und Geschlecht – erfüllen: auf der einen Seite der gemäßigte ostdeutsche Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch und die radikale westdeutsche Parteivorsitzende Janine Wissler, auf der anderen Seite der ostdeutsche Parteivorsitzende Tino Chrupalla und die westdeutsche Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Beide begreifen sich als Gegner des anderen – pragmatischen – Vorsitzenden Jörg Meuthen, der bei der AfD „Bundessprecher“ heißt. Auch bei der Partei Die Linke tobt ein Streit, und zwar zwischen „Soziallinken“, für die Sahra Wagenknecht steht, und „Kulturlinken“.
Unterschiede an einem Beispiel
Die Wahlprogramme der Parteien, deren Hauptslogans einigermaßen inhaltsleer sind, fallen umfassender denn je aus. Allerdings zeichnen sich Wahlprogramme, die aus vielen Gemeinplätzen bestehen, durch etwas mehr Konkretheit aus als Grundsatzprogramme. Sie bilden die Grundlage für spätere Koalitionsverhandlungen. An dieser Stelle wird an einem einzigen Beispiel – Extremismus – knapp die Programmatik erörtert, um so möglichst präzise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu veranschaulichen.
Im „Regierungsprogramm“ von CDU/CSU („Gemeinsam für ein modernes Deutschland“, 140 Seiten) heißt es, die Union trete jeder Form von Extremismus entschieden entgegen, unabhängig davon, „ob es sich um Rechts- oder Linksextremisten oder gewaltbereite Islamisten handelt“. Der Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung für die offene Gesellschaft.
Das „Zukunftsprogramm“ der SPD („Aus Respekt vor Deiner Zukunft“, 66 Seiten) will nachdrücklich „Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit, Antifeminismus, Sexismus und LSBTIQ*-Feindlichkeit“ bekämpfen. Wiewohl die Partei davon spricht, Extremisten bedrohten die freie Gesellschaft, ist die Stoßrichtung doch klar.
Die Schwerpunkte des Programms der Grünen („Deutschland. Alles ist drin“, 272 Seiten) zielen ebenso gegen Rechtsextremismus. Auch gewaltbereite „Islamist*innen“ gefährdeten die öffentliche Sicherheit. Die Partei befürwortet ein Demokratiefördergesetz und will den Verfassungsschutz umgestalten. Jede Form politischer Gewalt unterminiere den Rechtsstaat.
Für die FDP („Nie gab es mehr zu tun“, 91 Seiten) ist die Demokratie durch Extremismus, Populismus und Gleichgültigkeit bedroht. Bekämpfenswert seien Rechts- und Linksextremismus ebenso wie religiöser und nationalistischer Extremismus. Rechtsextreme Vereinigungen will die Partei verbieten, und gegen islamistische Radikalisierung müsse es eine Präventionsstrategie von Bund und Ländern geben.
Links oder rechts?
Das Wahlprogramm der AfD („Deutschland. Aber normal“, 103 Seiten) plädiert für verstärkte Anstrengungen im Kampf gegen den Linksextremismus, so für ein Verbot der Internet-Plattform „Indymedia“. Islamistische Vereine, die sich gegen das Grundgesetz wenden, müssten verboten, Koranschulen geschlossen werden. Die Partei drängt auf eine grundlegende Reform des Verfassungsschutzes.
Das Wahlprogramm der Partei Die Linke („Zeit zu handeln. Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“, 155 Seiten) will rechten Terror stoppen. „Widerstand gegen rechts“ sei notwendig. Die Partei will den Verfassungsschutz abschaffen und ihn durch eine unabhängige „Beobachtungsstelle Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ersetzen.
Wer einen Vergleich zieht, erkennt auffallende Unterschiede. Die Linke steht ebenso am Rand wie die AfD. Während Die Linke nur den Kampf gegen Rechtsextremismus auf ihr Panier geschrieben hat, fokussiert sich die AfD auf Linksextremismus wie Islamismus, blendet den Rechtsextremismus aus. Die SPD und die Grünen fallen in eine Kategorie. Der klare Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Linksextremismus taucht nicht eigens auf. Im Unterschied zur SPD betont Bündnis 90/Die Grünen zudem die Gefahr durch Islamismus. Die Programmatik der Union und der FDP deckt sich weithin, was Extremismus betrifft. Zwar wird auch bei diesen Parteien besonders die Gefahr durch den Rechtsextremismus betont, doch kommt ebenso die durch den Islamismus zur Sprache, und der Linksextremismus bleibt keineswegs unerwähnt. Insgesamt gewichtet die Union die Relevanz des Themas wohl stärker als die FDP.
Handwerkliche Fehler
Wie bereits der Vorwahlkampf erkennen ließ – plakatiert werden darf ab der siebten Woche vor der Wahl –, lief bei den drei Parteien, die sich Hoffnung um die Kanzlerschaft machen, wahrlich nicht alles zum Besten. Wohl niemand kann sonderlich zufrieden mit sich sein. Der Trost: Der Konkurrenz geht es nicht besser. Armin Laschet gab während der Unwetterkatastrophe, die das Leben von etwa 200 Menschen gefordert hatte, keine gute Figur ab, und die Union insgesamt vermisst Führungskraft. Sie weiß nicht recht, wie es in der Nach-Merkel-Ära weitergehen soll. Annalena Baerbock ließ mannigfach ihre Überforderung erkennen – Übernahme aus anderen Texten hier, Korrekturen am eigenen Lebenslauf dort. Obwohl das Thema Klima, das in aller Munde ist, der Partei in die Karten zu spielen scheint, beschädigt sie das vom Bundeswahlausschuss bestätigte Votum des Landeswahlausschusses. Danach ist die Liste der Partei im Saarland bei der Wahl wegen des Verstoßes gegen demokratische Grundsätze nicht zugelassen. Der Traum vom ersten Platz und damit von der Kanzlerschaft dürfte wie eine Seifenblase zerplatzt sein. Die SPD löst in der „Sonntagsfrage“ zunehmend die Popularität ein, die Spitzenkandidat Olaf Scholz bei Umfragen gegenüber seinen Konkurrenten Annalena Baerbock und Armin Laschet genießt. Der Trend zeigt nach oben. Das Momentum scheint mittlerweile bei der noch vor Kurzem totgesagten Partei zu liegen.
Christian Lindner beansprucht das Finanzministerium für sich, obwohl gar nicht sicher ist, ob die Liberalen überhaupt in die Regierung gelangen. Die FDP hofft, dass es am Wahlabend nicht für eine Zweierkoalition reicht, etwa für Rot-Schwarz.
Die beiden Randparteien – die AfD und Die Linke – stehen nach den Umfragen deutlich schlechter als 2017 vor der letzten Bundestagswahl. Sie können von den etablierten Parteien enttäuschte Wähler kaum mobilisieren, sei es wegen interner Zwistigkeiten, sei es wegen der Corona-Pandemie, die Themen dieser politischen Kräfte überlagert.
Und was der Vorwahlkampf ebenso erhellt: Diesmal scheint das aus den USA bekannte Negative Campaigning eine größere Rolle zu spielen. Ein Beispiel: In einem Video der SPD hieß es unter anderem über Laschet – wer ihn wähle, votiere für Vertraute, „für die Sex vor der Ehe ein Tabu ist“. Die Aussage spielte auf Nathanael Liminski an, den Leiter der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen. Dieser hatte 2007 als 22-Jähriger bekannt, aus religiösen Gründen komme für ihn Sex vor der Ehe nicht in Frage. Ob das verfängt oder auf den Urheber zurückschlägt? Allerdings: Mittlerweile hat die SPD das Video wieder aus dem Verkehr gezogen.
Alles anders
2021 ist – fast – alles anders. Zum ersten Mal tritt die Person, die bisher das Kanzleramt wahrnahm und damit gemäß Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmte, nicht mehr an. Der Kanzlerbonus fehlt also. Und zum ersten Mal findet die Wahl während einer Pandemie statt. Der Wahlkampf fällt damit anders aus. Die Zahl der Veranstaltungen vor Publikum reduziert sich, die jener im Netz schnellt in die Höhe. Und die Zahl der Briefwähler bei einer Bundestagswahl (1957: 4,9 Prozent; 2017: 28,6 Prozent) wird noch nie so groß sein wie diesmal. Was niemand beantworten kann: Wie beeinflusst die Pandemie die Wahl? Wer profitiert von ihr? Eher die Regierungsparteien, eher die Oppositionsparteien? Oder kommt der Pandemie gar keine ausschlaggebende Rolle bei der Stimmabgabe zu?
Die Öffentlichkeit blickt mit größtem Interesse auf die „Sonntagsfrage“ der demoskopischen Institute, die Trends anzeigen. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere: Erst nach der Wahl wird über die Koalition entschieden. Nach den Umfragen ist ein rot-schwarz-grüns („Kenia“), ein rot-schwarz-gelbes („Deutschland“), ein rot-grün-gelbes („Ampel“) und ein schwarz-grün-gelbes („Jamaika“) Bündnis möglich. Parteien sprechen darüber nicht gerne, weil sie Angst davor haben, ihre Anhänger zu vergrätzen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen schaffen es nicht einmal, die rot-grün-rote Koalition auszuschließen. Es kann also am Wahlabend die neue Bundesregierung noch gar nicht feststehen. Das ist misslich. Denn eine Wahl soll eine Entscheidung darüber bringen, wer regiert und wer opponiert.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 136 – Thema: Die drei Fragezeichen – Wer wird die neue Merkel?. Das Heft können Sie hier bestellen.