Für viele der Gründerinnen und Seniorchefs war es die erste Demo ihres Lebens. Doch die Mitglieder des Wirtschaftsverbands „Die Familienunternehmer“ hatten sich auf ihre Protestaktion auf dem Bonner Parteitag der Grünen Mitte Oktober gut vorbereitet. Auf Bannern und Plakaten trugen sie Sprüche vor sich her, bei denen Klimaschützer wohl mindestens die Stirn runzeln dürften: „Stoppt das Artensterben im Mittelstand“ etwa, und „Es gibt keine Wirtschaft B“. Die Grünen müssten endlich aufwachen, so das erklärte Ziel der Unternehmeroffensive. Sie müssten doch einsehen, dass der geplante Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft in Zeiten der Krise „anachronistische Blütenträumerei“ sei, wie sich Verbands-Hauptgeschäftsführer Albrecht von der Hagen bei „RP Online“ zitieren ließ.
Er ist bei Weitem nicht der einzige Wirtschaftslobbyist, der sich derzeit nicht gehört fühlt. Energiekrise und Gasumlage, Corona-Schließungen und Homeoffice – für viele Interessenvertreter von Industrie- und Arbeitgeberseite sind das längst Reizthemen. Der Vorwurf an die Ampel-Regierung lautet: Ihr hört uns nicht ausreichend zu, berücksichtigt vornehmlich Interessen von Arbeitnehmer-, Verbraucher-, und Umweltorganisationen. Vor allem das Verhältnis der Wirtschaftslobby zum Bundeswirtschaftsministerium (BMWK), geführt von Robert Habeck (Grüne), gilt als angeknackst. „Die Honeymoon-Phase zwischen Wirtschaft und Wirtschaftsminister ist vorbei“, schrieb die „Welt“ Ende September. Nachdem Unternehmer den Minister anfangs für dessen Pragmatismus und Hemdsärmeligkeit gelobt hatten, führte der Energie-Konflikt zum Zerwürfnis. Und das legte auch Unmut bei anderen Themen offen, etwa der China-Politik, die manche Manager als „missionarisch“ empfinden, wie es im Beitrag heißt.
„Die Kritik an der Entscheidungsfindung beispielsweise bei der Ausgestaltung der Gasumlage teilen wir“, sagt Andreas Jahn, Leiter der Abteilung Politik beim Bundesverband Der Mittelstand (BVMW) auf p&k-Anfrage. Nicht zuletzt auch aufgrund der politischen Entscheidungen zur Gasumlage sehe sich der Mittelstand in seiner Sorge nicht ernst genommen „und auch in seiner Existenz bedroht“. Zwar begrüße man, dass das BMWK in Dialogprozessen den Austausch suche, um die aktuelle Energie- und Preiskrise zu bewältigen und die langfristige Transformation gemeinsam zu gestalten. „Vonseiten der Bundesregierung würden wir uns jedoch wünschen, noch frühzeitiger über die wirtschaftspolitischen Planungen informiert zu werden“, bekräftigt Jahn.
„Intensivierte Zusammenarbeit“ mit NGOs
Der Vorwurf, Wirtschaftsverbände zu wenig einzubeziehen, trifft auch andere Ministerien, etwa das Landwirtschaftsressort (BMEL). Hier hatte es schon zum Start der Ampel die Vermutung gegeben, der ebenfalls grüne Minister Cem Özdemir werde vor allem ein offenes Ohr für NGOs haben. Eine Pressemitteilung des Ministeriums im Januar nährte den Verdacht. Dort hieß es: „Neben den Landwirtschaftsverbänden soll die Zusammenarbeit mit den Umweltverbänden intensiviert werden.“ Hat sich hier etwas verschoben in der Gewichtung der Lobbyarbeit, seit Ex-Ministerin Julia Klöckner (CDU) im Zuge des Regierungswechsels das Feld räumen musste? Sie hatte mit ihrer Nähe zur Wirtschaft – inklusive Schlagzeilen über ominöse Hinterzimmertreffen mit Firmenchefs – immer wieder Diskussionsstoff geliefert.
Das BMEL selbst antwortet bemüht diplomatisch auf die Frage, welches Verhältnis es zu den verschiedenen Lobby-Gruppen pflegt. Der Minister und die Staatssekretärinnen tauschten sich regelmäßig mit Verbänden und Organisationen aus den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Ernährung und Handel sowie Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz aus, heißt es von einer Sprecherin. Der inhaltliche Fokus dieser Gespräche leite sich auch aus den aktuellen Vorhaben des Ministeriums ab. „So hat Minister Özdemir sich im Rahmen der Erarbeitung des Gesetzes zur verbindlichen Tierhaltungskennzeichnung regelmäßig beispielsweise mit Landwirtinnen und Landwirten, Handelsvertretern und Tierschutzorganisationen getroffen, um die Anliegen der jeweiligen Interessengruppen zu hören und in die Gestaltung der Gesetzesvorlage einzubeziehen.“ Die Zukunftskommission Landwirtschaft böte zudem ein institutionalisiertes Forum des Interessenausgleichs, in dem – aufgrund des breiten Spektrums der Mitglieder – sehr unterschiedliche Standpunkte vertreten würden.
Eindeutigere Antworten kommen von einigen der Umwelt-NGOs selbst. Greenpeace-Sprecher Volker Gaßner beobachtet durchaus ein Aufmerksamkeitsplus seit Beginn der Ampel-Ära: „Anders als in den Jahren zuvor haben wir den Eindruck, dass NGOs als Stakeholder der Politik von der jetzigen Regierung ernster genommen werden und der Austausch aktiv gesucht wird“, sagt Gaßner. Das gelte auch für Ministerien, die in der Vorgängerregierung für einen Austausch mit NGOs bislang nicht zugänglich gewesen seien, wie Gaßner mit einem Seitenhieb auf das Bundesverkehrsministerium unter der Ägide von Andreas Scheuer (CSU) ergänzt. Besserer Austausch führe aber nicht automatisch zu einer besseren Umweltpolitik, schiebt der Greenpeace-Sprecher hinterher. „Hier schauen wir weiterhin sehr kritisch auf die Arbeit der Ministerien.“ Der BUND stellt ebenfalls einen besseren Austausch fest, insbesondere mit den grünen Ministerien. „Aber trotzdem werden Umweltbelange auch in dieser Regierung nicht ausreichend gehört“, bemängelt Lia Polotzek, Leiterin der politischen Planung bei der Umweltorganisation.
Es bleibt der Wirtschaftsbias
Das Bild ist also gemischt. Dabei ist das Narrativ so schön eingängig: In der Regierung machen die Grünen den Umweltorganisationen die Tür auf – und der Wirtschaftslobby zu. Die Realität gebe diesen einfachen Schluss aber nicht her, mahnt Maximilian Schiffers. Der Politikwissenschaftler forscht an der Universität Duisburg-Essen mit Schwerpunkt auf Lobbying, NGOs und Politikwandel. Er sagt: „Die These, dass die NGOs jetzt plötzlich ganz stark am Drücker sind, lässt sich nicht halten.“ Verschiebungen festzustellen ist derweil von außen nicht leicht. Denn das Lobbyregister ist statisch und gibt keinen Aufschluss über Qualität und Quantität von Treffen und Kontakten zwischen Politik und Interessenvertretern. Doch den Vorwurf, die Ampel-Regierung würde unterteilen in gute und schlechte Lobby-Gruppierungen, räumt Schiffers ab. „Das Verhältnis zu NGOs und Verbraucherschutzorganisationen ist augenscheinlich intensiviert worden“, sagt der Experte. „Aber wenn man auf die absoluten Zahlen schaut, fällt die Asymmetrie der Interessen weiterhin deutlich zugunsten klassischer Wirtschaftsverbände aus – schließlich sind zwei Drittel aller Organisationen in Deutschland dem Wirtschaftsbereich zuzuordnen.“
Daran ändert auch ein neuer Trend in der politischen Personalfindung nicht allzu viel: die Besetzung von Staatssekretärsämtern mit vormaligen Aktivistinnen und Verbraucherlobbyisten. „Greenpeace im Außenministerium“, titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, nachdem die ehemalige Chefin der NGO, Jennifer Morgan, von Annalena Baerbock (Grüne) geholt worden war. Auch die Personalien Patrick Graichen, Mitgründer der Agora Energiewende, und Attac-Mitbegründer Sven Giegold (beide Staatssekretäre im BMWK) wurden kritisch beäugt. „Infolge solcher Besetzungen haben viele Beobachter auffällige Umbrüche in der Politik erwartet, aber die sind bislang nicht eingetreten“, sagt Lobby-Experte Schiffers. „Es entsteht eher der Eindruck, dass diese prominenten Personen eine besondere Härte gegenüber ihren ‚Darlings‘ aufbringen, um nicht den Eindruck privilegierter Kontakte entstehen zu lassen.“ Tatsächlich ist es seit dem Aufschrei nach ihrer Ernennung eher still um Morgan geworden. Und auch in den Gesetzgebungsprozessen herrscht in den Ministerien eher Kontinuität als abrupter Wandel. So erweist sich Landwirtschaftsminister Özdemir, der in der Opposition ein scharfer Kritiker des Bauernverbands war, heute als Pragmatiker – was ihm Organisationen wie „Animal Rebellion“ zuletzt als Einknicken vor der Agrarlobby vorwerfen.
Gezielte Botschaften statt Gießkanne
Schiffers zufolge liegt der relativ betrachtet leicht gestiegene Einfluss der NGOs nicht unbedingt darin begründet, dass die Ampel empfänglicher für deren Anliegen ist als die Vorgängerregierung. Entscheidend sei, dass sie inzwischen besser lobbyieren. „Was wir sehen, ist eine größere Professionalisierung – sowohl in der Interessenvermittlung als auch in der Politik“, sagt er. Einzelne Lobby-Gruppen senden ihre Botschaften heute sehr viel gezielter an einzelne Bundestagsabgeordnete oder Ministerien, für die ihre Themen tatsächlich relevant sind. Im Vergleich zur früheren breiten Kontaktpflege gibt es dadurch weniger Streuverluste. Unter dem Hashtag #Lobbypost hatten nach der Bundestagswahl 2021 noch viele neue Abgeordnete darüber geklagt, dass sie mit Schreiben zu unterschiedlichsten Anliegen geflutet wurden. Inzwischen haben Interessenvertreter eingesehen, dass das Gießkannenprinzip nicht effizient ist.
Zur fortschreitenden Professionalisierung gehört auch, dass sich die Wirtschaftsverbände schon lange eingestellt hatten auf eine mögliche grüne Regierungsbeteiligung. „Wenn man sich ‚Klimapfade 2.0‘, die BDI-Schlüsselpublikation zur Transformation aus dem vergangenen Jahr anschaut, bemerkt man, dass sie so formuliert ist, dass auch Grüne ihre Inhalte unterschreiben könnten“, sagt Schiffers. Das Klischee, die Grünen hörten nur noch auf NGOs, mache es manchem Wirtschaftsverband indessen ein wenig leichter, vor seinen Mitgliedern verargumentieren zu können, mit gewissen Anliegen nicht durchgedrungen zu sein. Schließlich richtet sich das Poltern von Interessenverbänden – egal welcher Couleur – nicht nur an die Politik, sondern ebenso an Medien und die eigene Peergroup. „Trommeln gehört für Interessenvertreter nun mal zum Geschäft“, sagt Schiffers. Laut Forschung seien die großen Industrie- und Arbeitgeberverbände aber diejenigen, deren Wünsche am ehesten berücksichtigt werden, wenn es etwa um Anpassungen in der Ausschussarbeit geht, betont der Experte. „Das lässt sich nicht kleinmeckern.“ Er verweist dabei unter anderem auf eine Studie aus dem Jahr 2021, die eine starke parlamentarische Voreingenommenheit zugunsten von Wirtschaftsinteressen belegt.
Klar ist aber auch: In unseren aktuellen Multikrisen mit Transformation und Zeitenwende gibt es mehr Stimmen, die beteiligt werden wollen und sollen. Und je mehr Interessenvertreter mit am Tisch sitzen, beispielsweise in den Corona-Krisenrunden, an denen Experten aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaft konsultiert worden waren, desto runder werden die Kompromisse, die sie machen müssen. So entsteht mitunter in der Wahrnehmung ein Bruch zwischen der eigenen regen Beteiligung am Tisch – und dem ernüchternden realpolitischen Gesamtergebnis. Hier gilt dann wohl das Bonmot von Aristide Briand: „Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 141 – Thema: Interview mit Norbert Lammert. Das Heft können Sie hier bestellen.