Politischer Ikonoklasmus geht um. In den USA werden im Zuge der Proteste gegen Rassismus ebenso Denkmäler gestürzt wie in europäischen Staaten mit Kolonialvergangenheit. Nach dem gewaltsamen Erstickungstod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd im Mai 2020 in Minneapolis bei der Festnahme durch einen weißen Polizisten nahm die 2013 ins Leben gerufene „Black Lives Matter“-Bewegung nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Staaten erneut Fahrt auf. Das lockere und dezentrale „People of Color“-Netzwerk begehrt auf gegen die Diskriminierung Schwarzer. Bei den Demonstrationen kam es auch zu Ausschreitungen, vereinzelt gar zum Sturz von Denkmälern. Kritiker der Bewegung wandten ein, der Spruch „All Lives Matter“ trage dem Anliegen besser Rechnung, weil so der Wert aller Menschen zur Geltung komme. Im Bestreben, allseitige Diskriminierung zu bekämpfen, könne der moralisch aufgeladene Kampf gegen „alte weiße Männer“ selbst Sympathisanten abschrecken.
Die aufgeheizte Atmosphäre ist nur vor dem Hintergrund der in den USA entstandenen Identitätspolitik zu verstehen. Sie stellt bei Personen das Geschlecht, die Herkunft oder das Alter in den Vordergrund. Und sie will Positionen, die als anrüchig gelten, aus dem öffentlichen Raum verbannen. Soziale Diversität muss sich nicht mit politischer Diversität decken. So besteht die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung. Mehr als 150 bekannte Intellektuelle aus den unterschiedlichsten politischen Richtungen protestierten in den USA gegen eine solche „Cancel Culture“ und prangerten eine politische Korrektheit an, die einschüchtere und nicht der Toleranz diene.
Wenngleich die Diskussion um das Schleifen von Denkmälern und die Umbenennung von Straßennamen in Deutschland nie dasselbe Ausmaß wie in den USA erreicht hat, ist sie durch die dortigen Vorkommnisse auch hier wieder entfacht worden. Deutschland mit seinen vier Systemwechseln im 20. Jahrhundert hat reichlich Erfahrung mit einer milderen Form der „Bilderstürmerei“: den Namenswechseln von Straßen, Plätzen, Stadien und öffentlichen Gebäuden. Zwei Beispiele mögen die hiesige Aktualität der Thematik vor Augen führen. Das eine liegt zeitlich vor den amerikanischen Ereignissen, das andere danach.
Umbenennung eines Hafens
Die frühere Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte 2018 den Traditionserlass der Bundeswehr aus dem Jahr 1982 neu gefasst: „Tradition und Identität der Bundeswehr nehmen (…) die gesamte deutsche (Militär-)Geschichte in den Blick. Sie schließen aber jene Teile aus, die unvereinbar mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind.“ Als Konsequenz dieses Erlasses will die Marine nun historisch belastete Namen verbannen. So soll, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken hervorgeht, der Tirpitzhafen in Kiel noch im Jahr 2020 in Oskar Kusch Hafen umbenannt werden. Der deutsche Großadmiral Alfred von Tirpitz zeichnete verantwortlich für den Ausbau der deutschen Hochseeflotte vor dem Ersten Weltkrieg. Oskar Kusch war ein 1944 wegen „fortgesetzter Zersetzung der Wehrkraft“ hingerichteter Marineoffizier.
Die Berliner Verkehrsbetriebe möchten die U-Bahn-Haltestelle „Mohrenstraße“ gerne umbenennen. Aktivisten liefern die Begründung per Graffiti: Das Berliner Stadtbild soll „entkolonisiert“ werden. (c) dpa/Fabian Sommer
Gewiss, Tirpitz, später Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei und der Deutschnationalen Volkspartei, war kein Demokrat. Dagegen kämpfte Kusch, ein durch und durch mutiger Mann, gegen die Diktatur. Aber was ist mit dieser Umbenennung gewonnen? Warum soll Tirpitz’ Name getilgt werden? Läuft das nicht auf eine Entsorgung der Vergangenheit hinaus? Wenn für die Bundeswehr die freiheitliche demokratische Grundordnung als Maßstab gilt, kann von den zu bewahrenden Traditionen wenig übrig bleiben. Mit dieser wenig rühmlichen Tradition muss die Bundeswehr leben. Ein handfester Skandal hingegen entstünde, heute eine Kaserne nach Tirpitz zu benennen. Die Parallelen zu den vielen hiesigen „Schilderstürmern“ liegen auf der Hand.
Die bald nicht mehr Mohrenstraße
Seit Jahren schon tobt ein Streit um das „M-Wort“, den Begriff „Mohr“. Der „Mohrenkopf“ ist vielfach längst zum „Schokokuss“ mutiert. „Mohrenapotheken“ sollen schleunigst ihre Namen ablegen. Und die Werbefigur des Schokoladen-„Sarotti-Mohrs“ ist seit 2004 dem (nun nicht mehr schwarzen, sondern gelben) „Sarotti-Magier“ gewichen.
Im Juli dieses Jahres erklärten die Berliner Verkehrsbetriebe, der Name der U-Bahn-Station „Mohrenstraße“ müsse geändert werden. Sie hieß früher „Kaiserhof“ (1908), dann „Thälmannplatz“ (1950), schließlich „Otto-Grotewohl-Straße“ (1986) und heißt seit 1991, wie erwähnt, „Mohrenstraße“. Die Berliner Verkehrsbetriebe fassten „Glinkastraße“ als neuen Namen für ihre angrenzende U-Bahn-Station ins Auge, doch gab es daraufhin Proteste. Der russische Komponist Michail Iwanowitsch Glinka soll ein Antisemit gewesen sein. Die Befürworter des neuen Namens hatten an dessen Tonkunst gedacht, nicht an dessen Antisemitismus. Der Berliner Senat stoppte daraufhin die Initiative. Hingegen beschloss die Bezirksversammlung im Berliner Bezirk Mitte Ende August 2020 auf Betreiben der SPD, der Grünen und der Partei Die Linke, das Bezirksamt möge „unverzüglich den Vorgang zur Umbenennung“ der Mohrenstraße starten (nicht der U-Bahn-Station). Der alte Name schade dem „nationalen und internationalen Ansehen Berlins“. Der neue Name – Anton-Wilhelm-Amo-Straße – soll an den ersten bekannten Philosophen afrikanischer Herkunft in Deutschland aus dem 18. Jahrhundert erinnern.
Der „Coburger Mohr“ schmückt einen Kanaldeckel in der Innenstadt. Das Bild stellt den Heiligen Mauritius dar, der seit 1354 Symbol der fränkischen Stadt ist. Zwei Petitionen fordern die Änderung des Stadtwappens. (c) picture alliance/imageBROKER
Wer eine Namensänderung befürwortet, sieht in dem Namen „Mohr“, dessen Etymologie nicht ganz klar ist (der Terminus geht wohl auf die in Nordafrika lebenden dunkelhäutigen Mauren zurück), eine beleidigende Diskriminierung. Die Fremdbezeichnung habe eine rassistische Konnotation. Ihre Verwendung lasse mangelnde Sensibilität gegenüber Nicht-Weißen erkennen. Kritiker entgegnen, dem Terminus „Mohr“ wohne keinerlei abwertender Sinn inne. Im Gegenteil, er stehe für Weltoffenheit. Warum sonst wohl wäre eine Straße danach benannt worden! Jede Seite wirft der anderen Geschichtsvergessenheit vor.
Der Heilige Mauritius, stets als Schwarzer abgebildet, findet sich im Wappen von Familien und Städten. Coburg hat ihn seit längerem zum Schutzpatron der Stadt erkoren. Er soll im 3. Jahrhundert n. Chr. als Anführer einer römischen Legion gegen seinen Kaiser, der Christen verfolgen wollte, gemeutert und sein Leben aufs Spiel gesetzt haben. Initiativen wollen den „Coburger Mohr“ wegen seiner stereotypen Darstellung (krauses Haar, wulstige Lippen, Kreolenringe) aus dem Stadtwappen entfernen. Was die Nationalsozialisten 1934 durchsetzten, dürfte heute indes nicht gelingen.
Selektive Wahrnehmung
Geschichte für Zwecke der Gegenwart zu instrumentalisieren, verbietet sich. Der Kampf um Deutungshoheiten tritt beim Streit um Namen markant hervor. Wer die alten belässt, meidet polemische Geschichtspolitik. So war es richtig, am eingebürgerten Namen „Reichstag“ festzuhalten. Der Bundestag tagt seit Ende der 1990er Jahre im Reichstag(sgebäude). Einstige Denkmäler können auch zu Mahnmalen mutieren. Allerdings bedarf es einer Intervention bei Namen, die für das diktatorische System schlechthin stehen, wobei die Abgrenzung nicht immer leichtfällt. Eine Adolf-Hitler-Straße wäre eine durch nichts zu rechtfertigende Unerträglichkeit.
Was stört, ist Doppelbödigkeit, das Messen mit zweierlei Maß. Einmal heißt es, etwas „gehört vergessen“, anderes dagegen „gehört zur Geschichte“. Allerdings können sich die Intentionen in ihr Gegenteil verkehren. An das, was „vergessen gehört“, kann auch nicht mehr mahnend erinnert werden. Und was „zur Geschichte gehört“, bleibt nicht immer in positiver Erinnerung.
Viele derer, die unnachsichtig den Namenswechsel von Schulen und Straßen fordern, weil sie – direkt oder indirekt – an Deutschlands dunkelste Epoche erinnern, sind bei Personen aus dem extrem linken Milieu flugs dabei, deren historisches Wirken offensiv zu rechtfertigen oder aus der Zeit heraus zu relativieren. Diese Vorgehensweise ist inkonsequent. „Wernher von Braun“-Schulen gibt es seit 2014 nicht mehr. Weiterhin sind aber einige Straßen nach dem Raketeningenieur, einem NSDAP- und SS-Mitglied, benannt. Deutschland, mit noch immer 613 Ernst-Thälmann-Straßen oder -Plätzen, kann die Erinnerung an den moskauhörigen Vorsitzenden der KPD in der Weimarer Republik aushalten. Vielleicht ist es sogar gut, sie wachzuhalten. Schließlich weisen Namen nicht zwangsläufig auf die Vorbildhaftigkeit des Tuns ihrer Träger hin. So manche Lichtgestalt hat ihre dunklen Seiten.
Der „Umbennungsfuror“ (Alan Posener) – die Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität etwa heißt seit 2018 nicht mehr so, weil Kritiker dem „Franzosenhasser“ Nationalismus vorwarfen – wirft kein gutes Licht auf den hiesigen Umgang mit Geschichte. Bewohner der heutigen Magdeburger Allee in der thüringischen Landeshauptstadt mussten zwischen 1910 und 1990 siebenmal ihre Anschrift wechseln. Andere Staaten Europas sind gelassener und stärker mit ihrer Geschichte im Reinen.
Absolutisten gegen Relativisten
Wer für Umbenennungen votiert, argumentiert zeitlos-absolutistisch. Er ist davon überzeugt, demokratische Positionen müssten der Maßstab für alle Zeiten sein, nicht nur für die Gegenwart. Die Formel „aus heutiger Sicht“ rechtfertige offenkundiges Unheil in der Vergangenheit, so der Vorwurf. Wer gegenüber Umbenennungen eher Vorsicht walten lässt, vertritt eine zeitbezogen-relativistische Position. Er versucht Akteure aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und weiß um den Wandel von Wertvorstellungen. Menschen sind nach dieser Maxime „Kinder ihrer Zeit“.
Sprachpolitik, die in Sprachregelung mündet, führt in einer offenen Gesellschaft nicht weiter. Denn was ist mit dem Duktus vom „N-Wort“ gewonnen? Wird Alltagsrassismus durch Symbolpolitik tatsächlich bekämpft? Das Gutgemeinte muss nicht gut sein. Die Ablehnung jeder Form von Rassismus ist ein Gebot. Aber läuft dies automatisch auf ein Verbot für bestimmte Straßennamen hinaus?
Die (nicht nur) im Römischen Reich praktizierte Damnatio memoriae will die Erinnerung an Personen auslöschen. Wer Namen aus der Geschichte verschwinden lassen will, kann das Geschehene, wie schlimm es immer gewesen sein mag, dadurch nicht ungeschehen machen. Aber er kann davor warnen, es zu wiederholen. Unter den Reformatoren Johannes Calvin und Huldrych Zwingli zerstörten Bilderstürmer Gemälde, um mit dem Heiligenkult abzurechnen. Josef Stalin ließ beseitigte Widersacher aus Fotografien herausretuschieren. Dies mag George Orwell zu seinem dystopischen Roman „Neunzehnhundertvierundachtzig“ bewogen haben. In ihm wird beständig die Vergangenheit nach den Bedürfnissen der Gegenwart umgeschrieben.
Der empörungsgeneigte politische Ikonoklasmus ist bei allem Verständnis für die Motive der Urheber kein Zeichen von Liberalität. Er passt schwerlich zu einer offenen Gesellschaft. Diese darf nicht die Augen vor den Verbrechen der Vergangenheit verschließen. Sie muss aber wissen, dass eine rigorose Abrechnung mit ihr die Verbrechen nicht tilgt und vor Selbstgerechtigkeit strotzt. Gelassenheit ist überzeugender als aufgeregter Aktivismus. Was spricht dagegen, beim Straßenschild eine kurze Einordnung anzubringen?
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 132 – Thema: Warten auf grünes Licht. Das Heft können Sie hier bestellen.