Die Mitläufer

Demos

Ihr habt ja wohl ’nen Knall!“, tönt es von der Bühne in Richtung einer aufgebrachten Menschenmenge. Kurz zuvor war Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nur knapp einem von zahlreichen Eiergeschossen ausgewichen. Es ist der 1. Mai 2022, die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds ist in vollem Gange. Einige Demonstrierende sind wütend – und haben Munition aus dem Kühlschrank mitgebracht. Der Eierwurf ist ein wahrer Klassiker im Einsatz gegen Politiker: Man denke nur an die Bilder vom „Wendekanzler“ Helmut Kohl (CDU), dem 1991 während einer Protest­aktion in Halle Dotter vom Sakko tropfte.

Dass auf solchen Veranstaltungen nicht eben zimperlich mit Vertretern der Politik umgegangen wird, ist nicht neu. Und doch hat sich die Welt der Proteste und Demonstrationen in den vergangenen Jahren verändert. Es sind andere, ungewohnte Konstellationen aus jeglichen politischen Richtungen, die gemeinsam auf die Straße gehen, um ihre Haltung kundzutun. Dazu gehören verstärkt auch junge Menschen, denen doch eigentlich oft gehässig nachgesagt wird, sie hielten sich nur noch in Social-Media-Welten auf. Doch die Heterogenität birgt Zündstoff: Denn es scheint gleichzeitig einen verstärkten Trend zu geben, Akteure auszugrenzen und auszuladen, die für Kontroversen sorgen könnten.

Aber von vorn. Viel Wirbel gab es im Frühjahr rund um Ronja Maltzahn, eine junge Sängerin, die Ende März 2022 eigentlich einen Aufritt bei einer Veranstaltung von Fridays for Future in Hannover gehabt hätte. Doch die Ortsgruppe lud sie wieder aus – wegen ihrer Dreadlocks, die in den Augen der Entscheider offenbar eine „kulturelle Aneignung“ darstellen. Maltzahn machte den Vorgang öffentlich. Die Aktion war für die Presse ein gefundenes Fressen, der Journalist Sascha Lobo umschrieb sie in seinem Podcast als „toxische Wokeness“. Gemeint ist damit die missionarische Absolutheit einer Gruppe, die keinen Spielraum für vielfältige Einstellungen ihrer Mitglieder lässt.

Es war nicht das erste Mal, dass die Klimaschutzbewegung einen geplanten Auftritt aus Furcht vor Kontroversen absagt. Der Berliner Linken-Politiker Ferat Koçak durfte auf einer Kundgebung von FFF nicht wie geplant sprechen, da er zuvor die Nato kritisiert hatte. Auch bei anderen Aktionen wird häufiger ausgeladen: Auf einer Berliner Friedensdemo kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine war ein ukrainischer Verein unerwünscht, da dieser sich für Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine aussprach. Und Enrico Brissa, Protokollchef im Deutschen Bundestag, wurde im Oktober 2018 auf der #unteilbar-Demo „für eine offene und freie Gesellschaft“ angefeindet, da er neben einer Europaflagge auch eine in den deutschen Nationalfarben mit sich trug, um diese nicht „den Rechten zu überlassen“. Schwarz-Rot-Gold war auf der Veranstaltung offenbar tabu – die Flagge wurde ihm entrissen.

Das Eis wird dünner

Es scheint, als hadere manche Aktivistengruppe damit, dass es auch innerhalb der Gruppierungen verschiedene Meinungen gibt. Eine neue Entwicklung? Nicht ganz, meint Philipp Gassert, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. „Diese Tendenzen zur Verengung sind durch soziale Medien heute sichtbarer als früher.“ Das heißt: Wer ausgeladen wird, empört sich darüber etwa auf Twitter, woraufhin sich eine Diskussionsspirale entspinnt – zum Beispiel über „Zensur“ oder eben „übertriebene Wokeness“. Andererseits ist da die Gefahr eines Shitstorms, den der Auftritt einer potenziell umstrittenen Person auslösen könnte. Die Organisatoren von Protestaktionen sind vorsichtig geworden, wen sie in ihren Reihen mitlaufen lassen wollen und wem sie ein Mikrofon in die Hand drücken.

In der Vergangenheit fanden solche Diskussionen meist hinter verschlossenen Türen statt. „Im Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung in den achtziger Jahren gab es riesige Debatten darüber, ob Menschen, die der DKP nahestehen, auf Demos willkommen sind“, sagt Gassert, der zur Geschichte von Protestbewegungen forscht. Die sozialistischen Hymnen eines Liedermachers wie Hannes Wader erschienen vielen buchstäblich als ein rotes Tuch. Doch die Metadebatte darüber war weniger groß, weil Meinungen und Haltungen damals nicht in Echtzeit über Social Media kommuniziert werden konnten. Auch deshalb wird heute stärker darüber reflektiert, an wessen Seite man demonstriert. Handykameras fangen heute jedes Bild ein. „Da muss man als Organisator aufpassen, dass sich Leute nicht mit den ‚falschen‘ Logos und Flaggen zeigen“, sagt Gassert. So wurden beispielsweise auf Anti-Impfpflicht-Demos in Süddeutschland anthroposophisch angehauchte Gruppen in Mithaftung dafür genommen, gemeinsam mit Rechtsradikalen zu marschieren. Am anderen Ende des Spektrums schädigt derweil der linksradikale „schwarze Block“ das Anliegen von gemäßigten Aktivisten.

Auch für die Politik ist das Eis dünner geworden. Ein Eierwurf wirkt da vergleichsweise harmlos. „Im Vergleich zu Veranstaltungen während des Bundestagswahlkampfs 2021 nehmen wir zurzeit bei zentralen Kundgebungen tatsächlich eine Zunahme von Störungen, Gegendemonstrationen und lautstarken Protesten wahr“, heißt es von einer SPD-Sprecherin. Kundgebungen und Demonstrationen sind seit jeher fester Bestandteil der politischen Arbeit der Sozialdemokraten. „Sie bieten eine gute Gelegenheit, mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort in Kontakt zu treten. Als Volkspartei ist uns das ausgesprochen wichtig, auch um als Partei im Land präsent zu sein“, so die Sprecherin weiter.

Bei Grünen und Linken ist die Protestkultur ebenfalls verankert. Anders ist die Lage bei der Union. Für die „Schulschwänzer“ von Fridays for Future hatten Parteiobere 2019 hauptsächlich Kopfschütteln übrig. Auch Angela Merkels Lob der „tollen Initiative“ der Klimajugend konnte mancher nicht nachvollziehen. Verwunderlich ist das nicht, Demonstrationen richten sich schließlich meistens gegen den Status quo, der bei konservativen Parteien – vor allem solchen in langjähriger Regierungsverantwortung – häufig mitgestaltet und somit zu verantworten ist. Protest als Kommunikationsmittel zu nutzen, um Nahbarkeit zu schaffen? Das war für die Union lange Zeit keine Option. Doch der Wind hat sich auch hier gedreht – vor allem in den vergangenen Monaten.

Mehr Nahbarkeit als im Social Web

CDU-Parteimitglied Johannes Müller wünscht den Unionsparteien mehr Mut, sich auf solchen Veranstaltungen zu zeigen. Der 24-Jährige ist Geschäftsstellenleiter der im vergangenen Jahr gegründeten „KlimaUnion“, einem Verein, in dem sich Mitglieder der Unionsparteien für eine Politik einsetzen, die die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen soll. „Demonstrationen sind eine wichtige Plattform, um sich zivilgesellschaftlich zu verknüpfen“, sagt Müller. Wenn Umweltverbände, Gewerkschaften und Kirchen dazu aufrufen, sollten Parteien seiner Ansicht nach den vorpolitischen Raum nutzen – um nah dran zu sein und die Stimmung der Menschen aufzunehmen. Bei gigantischen Herausforderungen wie dem Klimaschutz müssen alle anpacken, findet Müller: „‚No show‘ ist für eine Volkspartei keine Option bei Bewegungen in dieser Breite.“

Dass gerade die jungen „Digital Natives“ aus den verschiedenen Parteien verstärkt auf die Straße gehen, ist ein Phänomen, das auch Experte Gassert beobachtet. Ihn interessiert vor allem der Aspekt, über die direkte Konfrontation mehr Nähe zu generieren. „Eigentlich sollte doch über die sozialen Netzwerke die Schwelle besonders niedrig sein, miteinander ins Gespräch zu kommen“, sagt Gassert. „Aber durch die Filterblasen, in denen wir uns dort bewegen, hat sich das ironischerweise verschoben: Es ist einfacher, sich auf Demos mit Andersdenkenden konstruktiv auszutauschen als auf Twitter und Co.“

Wird die CDU zur Protestpartei?

Einige junge CDU-Politiker engagierten sich schon früh bei Fridays for Future. Doch die Klimaunion hat in der eher linksgerichteten Bewegung einen schweren Stand. An den Grundsatz, keine Parteilogos auf FFF-Demos zur Schau zu stellen, hält man sich, genau wie die Mitglieder des sozialdemokratischen Pendants, der Bewegung „SPD.Klima.Gerecht“.
Wegen eines Plakats mit dem Konterfei Konrad Adenauers wurde die Klimaunion im Herbst allerdings in die hinteren Reihen des Protestzugs verbannt. „Auf das Plakat haben uns aber viele angesprochen“, sagt Müller. „Mit manchen Mitdemonstrierenden haben sich konstruktive Gespräche ergeben.“ Im Gepäck hat der Verein auf solchen Veranstaltungen Flyer – auch wenn, wie Müller zugibt, „Stand heute nicht allzu viele Unionswähler unterwegs sind.“ Das wolle man ändern, auch Streitgesprächen stelle man sich gern. Seit der Bundestagswahl hat sich das Verhältnis zu „den Fridays“, wie Müller sagt, entspannt. „Die Dämonisierung der CDU hat nachgelassen.“ Dabei hat wohl auch die Tatsache geholfen, im Bundestag in die Opposition gerückt zu sein. Man habe sich mit führenden Köpfen der Bewegung auf einen Kaffee getroffen und sei nun in gutem Austausch. „Mehr Offenheit täte aber auch den Fridays gut“, findet Müller. Zur Posse um Dreadlocks-Trägerin Maltzahn winkt er ab: „Das ist einfach nur übertriebene Identitätspolitik.”

Anfang Mai hat die Junge Union Hamburg gemeinsam mit anderen Jugendverbänden offiziell zur Friedensdemo aufgerufen – ein Novum. An der Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine, die am 27. Februar in Berlin Hunderttausende auf die Straße lockte, wollte sich die Union aber nicht beteiligen. Stattdessen gab es eine eigene Kundgebung vor der russischen Botschaft am Vorabend, weite Teile der Parteispitze waren zugegen. „Manche haben hier gemerkt, wie gut es tun kann, gemeinsam Haltung zu zeigen auf einer solchen Veranstaltung“, glaubt Müller. „Auch als Selbstvergewisserung in einer Krise, der man als Individuum vermeintlich ohnmächtig gegenübersteht.“ Solange nicht der Veranstalter selbst oder bestimmende Strömungen innerhalb einer Bewegung demokratiefeindliche Ansichten vertreten und ein breites gesellschaftliches Bündnis das Anliegen unterstützt, hält der junge Unionspolitiker aber auch die Teilnahme an großen und heterogenen Demonstrationen für legitim.

Aber die gibt es natürlich auch: radikalisierende Kräfte, die Demonstrationen kapern und von denen es sich abzugrenzen gilt. Protestbewegungen werden nicht ausschließlich von Menschen getragen, die demokratisch für liberale Werte einstehen. „Es gibt eine wachsende Zahl von Trittbrettfahrern, die solche Veranstaltungen für sich als Plattform nutzen“, warnt Experte Gassert. Zum Beispiel rechtsradikale Organisationen wie „Der Dritte Weg“, die gezielt etwa Coronademos besuchen und als Bühne für ihre Selbstdarstellung nutzen. Man denke nur an den Sturm auf den Reichstag im vergangenen Jahr: Der zeigte zwar nur einen kleinen Ausschnitt der Menge, die auf die Straße gegangen war, er allein aber beherrschte die großen Schlagzeilen.
Für ein konkretes politisches Anliegen sind und bleiben solche Veranstaltungen aber ein wichtiger Verstärker. Petitionen im Internet können nicht dieselbe Dringlichkeit vermitteln und öffentliche Wahrnehmung erreichen wie versammelte Massen, die sich für ein Thema in Präsenz mobilisieren. „Der Straßenprotest wird nicht aussterben“, sagt Gassert. Parteien sind also gut beraten, sich damit auseinanderzusetzen. Auch wenn sie damit riskieren, zuweilen ins Visier von Eierwerfern zu geraten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.