Sonntag, 26. September 2021 – Wahlabend. Ssaman Mardi sitzt mit seinen Kollegen und seiner Chefin Margarete Bause in der grünen Parteizentrale und verfolgt die Zahlen. Fürs Team geht es um alles oder nichts. Bause ist nicht zur Direktwahl in einem Wahlkreis angetreten. Stattdessen steht sie auf Platz 22 der grünen Wahlliste in Bayern. Bause und ihr Team haben längst die Eventualitäten ausgerechnet. Sie glauben, es wird reichen. Aber es wird knapp.
Am Wahlsonntag sitzen über 32 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher, um die Wahlergebnisse live zu verfolgen. Die Spitzenkandidaten der Parteien sitzen in den Elefantenrunden. Ihre Wahl ist bereits vor dem Abend sicher – wenn nicht über ein Direktmandat, dann über die Liste. Anders verhält es sich bei den Abgeordneten, die aus ihrer Parteizentrale mit den Kollegen auf der Leinwand die Ergebnisse verfolgen. Sie fragen sich: Werde ich direkt wiedergewählt? Reicht der Listenplatz für einen erneuten Einzug in den Bundestag aus? Sie bangen um ihr Mandat. Am Ende werden insgesamt 736 Abgeordnete in den Bundestag einziehen.
Doch es geht um mehr als „nur“ 736 Ämter. Neben, hinter und mit den Abgeordneten verfolgen in den Parteizentralen auch die die Wahlberichterstattung, die nicht darin vorkommen: die Mitarbeitenden der Abgeordneten. Sie sind die Rädchen der Demokratie, ein Abgeordneter kann seine Arbeit im Bundestag niemals allein stemmen. Bis zu 100 Bürger-Mails täglich, die Vorbereitung auf die Ausschüsse, die Betreuung des eigenen Wahlkreises, die Vorbereitung von Reden im Bundestag – es gibt viel zu tun. Ein Parlamentarier braucht ein Team.
Kleinunternehmen MdB-Büro
Dafür stehen jedem Abgeordneten ein Büro sowie 22.795 Euro monatlich für die Bezahlung von Gehältern zur Verfügung. Die Auszahlung der Gehälter läuft direkt über die Bundestagsverwaltung und die Mitarbeitenden. Schöpft der Abgeordnete den Gehaltsrahmen nicht aus, behält die Verwaltung die Differenz ein. Wie viele Mitarbeiter ein Abgeordneter einstellt, bleibt ihm selbst überlassen. Rechtlich gesehen ist jeder Abgeordnete als Kleinunternehmer der Chef seiner Mitarbeitenden. In der aktuellen Legislaturperiode kommen im Schnitt etwa sieben Mitarbeitende auf einen Abgeordneten.
Mehr als 4.500 Menschen verfolgen am Wahlabend, wie es für sie weitergehen wird. Denn: Wird der Chef nicht wiedergewählt, war es das auch mit dem eigenen Job. Der Arbeitsvertrag erlischt, sobald der Abgeordnete sein Mandat verliert oder niederlegt. Zur neuen Legislatur ziehen 27 Abgeordnete mehr ins Parlament ein als in der letzten Wahlperiode, darunter zahlreiche neue Gesichter: 279 Abgeordnete sind neu im Bundestag. Um sie herum entstehen etwa 1.800 neue Jobs. 252 Abgeordnete müssen nach dem Wahltag ihr Büro räumen und mit ihnen ihre etwa 1.600 Mitarbeitenden. Ein gewaltiges Personalkarussell.
Die Bundestagsverwaltung stellt einige Anforderungen an die Mitarbeitenden im Bundestag. „Das Gehalt des Mitarbeiters muss seiner Vorbildung, Berufserfahrung und ausgeübten Tätigkeit entsprechen“, schreibt die Bundestagsverwaltung auf eine Anfrage von p&k. Insgesamt gibt es vier Gehaltsstufen. Ein Büroleiter verdient wesentlich mehr als ein Sachbearbeiter. Für die Einstufung als wissenschaftlicher Mitarbeitender ist grundsätzlich ein (Fach-)Hochschulabschluss notwendig. Je nach Position verdient man im Bundestagsbüro unterschiedlich viel. Von mindestens 1.952 Euro brutto monatlich bis hin zum Maximalbetrag von 8.733 Euro. Zum 1. April 2022 werden die Gehaltsrahmen entsprechend dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst um weitere 1,8 Prozent erhöht.
Neu im Bundestag
Emilia Fester (Bündnis 90/Die Grünen) ist zur neuen Legislatur erstmals in den Bundestag eingezogen. Mit 22 Jahren ist sie die jüngste Abgeordnete im Bundestag. Bereits im Wahlkampf hat sie schon begonnen, sich Menschen zur Seite zu stellen. „Durch die vielen neuen Eindrücke und Prozesse brauche ich Unterstützung in meiner Arbeit“, sagt sie zu p&k. „Vor der Wahl hatte ich bereits ein Personaltableau mit fünf Leuten aus dem persönlichen Umfeld, der Grünen Jugend und der eigenen Partei.“ Heute hat sie als Bundestagsabgeordnete sieben Mitarbeitende. Der Bundestag ist jedoch für jeden in Festers Team Neuland, die Älteste ist 36.
Erfahrung ist trotzdem vorhanden: „Zwei waren schon in Landesgeschäftsstellen tätig und eine Referentin kommt aus einer Behörde“, sagt Fester. Einige Initiativbewerbungen bekam sie auch während des Wahlkampfs schon. Die blieben „aber nicht so krass in Erinnerung oder passten nicht ins Profil“, sagt Fester. „Bei vielen war unklar, warum sie sich gerade bei den Grünen bewerben. Ihre Bewerbungen hätten genauso auch an andere Parteien gehen können.“ Eine Parteimitgliedschaft sei aber keine Voraussetzung. „Bei mir im Team sind nicht alle Mitglieder, das Stammteam hat jedoch ähnliche Interessen und eine gewisse Grünennähe ist unabdingbar.“ Generell sieht sie bei Parteifreunden das Bemühen, sich auch nach dem Mandatsende um Mitarbeitende zu kümmern. „Man hat schon geschaut, dass Mitarbeitende unterkommen, wenn der MdB nicht wiedergewählt worden ist.“
Mitgefangen, Mitgegangen
Manuel Höferlin (FDP) beschäftigt derzeit sechs Personen und sucht eine siebte. Die Stelle hat er auf dem sozialen Netzwerk Linkedin eingestellt. „Der Klassiker ist aber, zunächst im Umfeld herumzufragen,“ sagt Höferlin. Auch liberale Hochschulgruppen beobachte er hier genauer. Zur Unterstützung hat die FDP-Fraktion im Intranet einen kleinen Stellenmarkt. Höferlin sucht aber lieber eigenständig. Kurz nach der Wahl sei die Personalsuche stets einfacher, sagt Höferlin. „Da sind generell mehr Leute frei als jetzt. Grundsätzlich findet man aber immer Mitarbeiter.“ Umgekehrt findet ein guter Bundestagsbüro-Mitarbeitender schnell wieder eine neue Stelle, sollte es beim eigenen MdB mit der Wiederwahl nicht klappen. „Gefragt sind vor allem Qualifikation und einschlägige Erfahrung. Generell gilt, je unpolitischer ein Mitarbeiter gearbeitet hat, desto eher kann er auch parteiübergreifend wechseln“, sagt Höferlin.
Er selbst hat hautnah erlebt, wie seine Partei 2013 aus dem Bundestag flog. Die FDP scheiterte damals an der Fünfprozenthürde. Höferlin musste gemeinsam mit 92 seiner Parteikollegen ausziehen – und mit ihnen ihre etwa 600 Mitarbeitenden. „Damals haben viele Kollegen aus anderen Fraktionen unsere Mitarbeiter übernommen“, erinnert sich Höferlin. Heute sind es die Liberalen, bei denen frei gewordene Mitarbeitende unterkommen. Die FDP hat die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl 2021 mit 11,5 Prozent locker genommen. Die Union fuhr dagegen mit 24,1 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis aller Zeiten ein. „Viele Unions-Mitarbeiter zieht es aktuell zur FDP“, beobachtet Höferlin.
Trotz der Unbeständigkeit – oder gerade deswegen – ist die Mitarbeit in einem Bundestagsbüro eine spezielle Tätigkeit. „Man erhält einen starken Einblick in Entscheidungswege und Verläufe, den man sonst nicht bekommt“, sagt Höferlin. „Gerade in der Regierungsarbeit hat man intensiv mit vertraulichen Inhalten zu tun. Auf der anderen Seite ist der Job sehr stressintensiv – Termine schieben ist kaum möglich, Überstunden oder merkwürdige Arbeitszeiten sind nötig. All das gibt es natürlich auch in Unternehmen, aber die Kombination macht es einzigartig. Vielen macht es Spaß.“
Der alte Hase
Zurück zu Ssaman Mardi. Er hat im Bundestag sowohl die guten als auch die schlechten Seiten des Jobs erlebt. 2012 fing er an, für Margarete Bause zu arbeiten. Damals war Bause Fraktionsvorsitzende der bayerischen Grünen. 2017 zog sie in den Bundestag ein, wurde Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe bei den Grünen. Mardi ging mit nach Berlin. Er stieg auf zum Büroleiter. Die Zeit vor der Bundestagswahl 2021 war schwierig für Margarete Bause und ihr Team. Zunächst verlor Bause die Kampfabstimmung um die Direktkandidatur im Wahlkreis 218 München-Ost. „Es war sehr überraschend und knapp, sie ist mit einer Stimme Unterschied nicht aufgestellt worden“, erinnert sich Mardi.
Auf der Liste in Bayern stand sie auf Platz 22. Laut damaligen Umfragewerten standen die Chancen für einen Einzug in den Bundestag nicht schlecht. Bause und ihr Büro hofften am Wahlabend, über die Liste einzuziehen. „Ich bin fest davon ausgegangen, dass es reicht“, sagt Mardi. In der Nacht war klar: Es reicht nicht. „Es war schlimm, auf viele Arten und Weisen. Vermutlich hätte ein Prozentpunkt mehr genügt“, sagt Mardi. Als sich das Aus abzeichnet, fragten sich alle: Wie machen wir weiter? Mardi sagt nüchtern: „Alle wussten grob was passieren muss: Wissen sichern, Projekte übergeben und natürlich eine Anschlussbeschäftigung finden.“
Ein Drittel seines Lebens hat Mardi für Bause gearbeitet, Verantwortung getragen und Druck ausgehalten. Lange hat er überlegt, wie er selbst weitermachen möchte. „Im Bundestag zu arbeiten ist ein großes Privileg – ich habe das sehr genossen, bin aber mehrfach auch über meine Belastungsgrenze hinaus gegangen“, sagt Mardi. „Da ist die Möglichkeit, mal Pause zu machen, und den Akku aufzuladen erstrebenswert.“ Doch aus einem Sabbatical wurde vorerst nichts. Bereits während des Wahlkampfes hat er Grüne-Jugend-Mitgliedern mit aussichtsreichen Listenplätzen in Fortbildungsangeboten auf die Aufgaben vorbereitet, die sie im Bundestag erwarten. Mit 118 Abgeordneten ist die grüne Bundestagsfraktion stärker als jemals zuvor. Viele scheinen sich seinen Namen gemerkt zu haben. „Einige haben mir angeboten, ihr Büro zu leiten“, sagt Mardi. Obwohl er eigentlich pausieren wollte, konnte ihn ein Neuabgeordneter davon überzeugen, bis Ende Januar sein Büro mit aufzubauen. Jetzt ist Mardi aber zunächst einmal in der Pause, die er sich vorgenommen hatte.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 138 – Thema: Rising Stars. Das Heft können Sie hier bestellen.