Zehn Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Politik

Gelähmte Anteilnahme

Seit fast einem Monat schauen wir gebannt auf die Bilder, die aus der Ukraine auf unsere TV-Bildschirme und Social-Media-Accounts strömen. Bilder von Bombenkratern, zu Ruinen zerschossenen Wohnblöcken und toten Soldaten und Zivilisten – die „New York Times“ hob eines dieser grausigen Zeugnisse auf ihre Titelseite –, Videos von explodierenden Granaten und verstörten Familien auf der Flucht. Millionen Menschen sind auf der Flucht. 1.200 starben in den ersten zwei Wochen wohl allein in Mariupol. Uns lassen diese Bilder hilflos zurück. Die Trauer, aber auch die Empörung und die Wut, die sie auslösen, können wir kaum in Taten ummünzen. Gegen die Panzer und Artillerie einer Atommacht kann eine Privatperson aus Deutschland nichts ausrichten. Gleichzeitig spricht kaum noch jemand davon, dass die höchsten Corona-Inzidenzen seit dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland herrschen. Es scheint, als wäre in unserer Aufmerksamkeit nicht genug Platz für mehr als ein bedeutsames, großes Thema – und gleichzeitig stellt sich schnell eine Ermüdung ein. Wie gehen wir psychisch mit Ohnmacht um? Was tun wir, wenn der Krieg länger wütet, als erwartet? Neben kurzfristigen Aufwallungen müssen wir auch vorbereitet sein für eine längere Krise. Die Fragen ähneln jenen, vor die uns die Pandemie gestellt hat.

Kein „Weiter so“ in der Außenpolitik

In den zwischenstaatlichen Beziehungen markiert der Ukrainekrieg eine tiefgreifende Zäsur. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zielt die deutsche Außenpolitik vor allem darauf ab, Frieden und Sicherheit zu befördern. Als Rahmen dazu wählte sie internationale Institutionen wie die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die G20. Die russische Invasion hat den multilateralen Ansatz in eine Krise gestürzt. Noch vor kurzem sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne): „Wer redet, schießt nicht.“ Was aber, wenn jemand redet, obwohl es für ihn nichts mehr zu besprechen gibt? In den Wochen vor dem Krieg, so viel ist nun klar, hieß es: „Wer redet, schindet Zeit und führt etwas im Schilde.“ Die Anzeichen waren alle da.

Für die deutsche Außenpolitik und ihren Umgang mit Diktaturen hat das einschneidende Konsequenzen. Dialog bleibt weiter der beste Weg. Aber Reden, um des Redens willen, ist als Politik gescheitert. Wenn ein Regime erkennbar kein Interesse daran hat, Konflikte über Dialogformen auszuräumen, müssen die Partnerstaaten der Europäischen Union das akzeptieren und dürfen sich nicht hinhalten lassen: Sie müssen neben den Dialogformaten auch wirtschaftliche und finanzielle Arten der Kooperation einstellen. Das Konzept „Wandel durch Handel“ hat nicht funktioniert. Hilfe darf es nicht weiter für Lippenbekenntnisse geben. Vor allem von autoritären Regimes müssen wir fordern, dass sie sich merklich hin zur Rechtsstaatlichkeit bewegen. Will eine wertegeleitete Außenpolitik erfolgreich sein, muss sie Konsequenzen aus ihren Werten ziehen und auf deren Einhaltung pochen.

Ein sicherer Hafen

Derzeit fliehen Millionen Menschen aus der Ukraine vor den russischen Bomben. Viele bleiben in den ukrainischen Nachbarstaaten. Sie hoffen darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Andere ziehen weiter nach Deutschland. Die Europäische Union hat bereits sichergestellt, dass diese Kriegsflüchtlinge mit einer unkomplizierten Aufnahme rechnen können. Das ist richtig.

Gleichzeitig muss Deutschland an die Russen denken, die von ihrem eigenen Regime verfolgt werden, das es unter Strafe gestellt hat, den Krieg als das zu benennen, was er ist. Sie sind politisch Verfolgte, und politisch Verfolgte stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Für sie ist das Asylrecht in Deutschland eingeführt worden. Wer Diktaturen die Luft herauslassen will, darf nicht bei Wirtschaftssanktionen aufhören.

Schon immer haben westliche Länder versucht, eine Demokratiebewegung innerhalb von autoritär regierten Ländern zu stützen. Dazu muss die Möglichkeit treten, nach Deutschland auszuweichen, wenn das eigene Land die Menschen dabei unter unerträglichen Druck setzt. Schon der Eiserne Vorhang hat bewiesen, dass man diktatorische Regimes am stärksten unter Druck setzt, wenn man die Menschen mit den Füßen abstimmen lässt.

Der Tiktok-Krieg

Seit dem Buchdruck gehört zur Kriegsgeschichte immer auch dazu, wie Kriege dem Publikum vermittelt wurden. In der jüngeren Geschichte galt der Vietnamkrieg als erster TV-Krieg, der Golfkrieg 1991 als erster Krieg im Privatfernsehen, der Irak-Krieg ab 2003 fand auch auf Youtube statt und lieferte unmittelbare Eindrücke aus der Perspektive der Kämpfenden. Ähnlich fand der Bürgerkrieg in Syrien seine Bühne in Livestreams auf Facebook und Liveleak.

Ob und wie viel ein Nutzer etwas vom Krieg mitbekommt, entscheidet er selbst – je nachdem, wie er auf die Inhalte reagiert. Der Algorithmus bestimmt dann, ob er mehr davon serviert oder nicht. Forscher mussten den Algorithmus gezielt darauf trainieren, ihnen Videos aus dem ukrainischen Kriegsgebiet in die Timeline zu spielen. Nutzer, die gar nicht auf solche Beiträge anspringen, können auch durch die Tiktok-Welten surfen, ohne mit dem Krieg in Berührung zu kommen. Zumindest aber wird jeder auf dem sozialen Netzwerk mitbekommen haben, dass etwas Großes in der Ukraine passiert – weil er darauf reagieren musste.

Das bedeutet im Positiven, dass Staaten größere Aktionen nicht vor der Weltöffentlichkeit verstecken können. In den sozialen Medien geisterten schon Wochen vor dem russischen Einmarsch Videoaufnahmen und Fotos herum, die dokumentierten, wie die russische Armee Kriegsgerät an der Grenze zur Ukraine zusammenzog.

Schweigen ist Silber

Es ist sehr schwierig, sich in einer verworrenen Lage mit Botschaften durchzusetzen. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, schafft es dennoch. Bis zum Beginn des Krieges war das Ansehen des 2019 gewählten Schauspielers eher zwiespältig. Seit dem russischen Überfall trifft Selenskyj aber die richtigen Töne. Mit atemberaubender Geschwindigkeit sendet er Videobotschaften in die Welt – aber auch gezielt an Ukrainer und Russen, die er mit seinem Handy im Herzen Kiews aufnimmt.Sein Motto: Reden ist Gold. Seine Botschaft: Ich renne nicht weg, ich bleibe bei euch. Dabei hat er seinen Anzug gegen ein militärgrün gefärbtes T-Shirt getauscht. Er zum Kriegspräsidenten und als solcher zu einer Ikone geworden. Weltweit fliegen dem jungen, charismatischen Politiker die Sympathien zu. Die größten Zeitungen und Fernsehsender räumen ihm Platz ein, Selenskyj taucht in beinahe jeder Timeline auf den sozialen Medien auf. Als erster ausländischer Staatschef durfte er im britischen Unterhaus sprechen. Dieses Privileg genießt nicht einmal die Queen.

Die Worte, die er wählt, sind indes gar nicht so neu. Sie handeln von der Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen Werte, dem Ruhm der Ukraine – und rütteln die Menschen auf. Der Athener Staatsmann Perikles hat im alten Griechenland vor 2500 Jahren eigentlich kaum anders geklungen. Im britischen Unterhaus zitierte Selenskyj die berühmte Kriegsrede Winston Churchills, der die Briten 1940 darauf einschwor, die Nazis notfalls an den eigenen Stränden, Landestellen, Feldern und Straßen zu bekämpfen.

Russlands Machthaber Wladimir Putin hüllt sich demgegenüber in Schweigen. Seine apathisch vorgetragenen haltlosen Vorwürfe gegen die Ukraine haben kaum jemanden bewegt, die tägliche Kärrnerarbeit besorgen seine Propagandisten in den Staatsmedien, die lange auch ein westliches Publikum erreichten, bis die EU sie verbannte. Pressevertreter haben das durchaus auch kritisiert. Sind staatsnahe Medien Kampfmittel – oder hält eine Demokratie das aus? Dem Wort ist zuletzt viel Macht eingeräumt worden. Auf Worte folgten Taten, hieß es. So wortmächtig Selenskyj auch erscheint – letztlich versucht er, seine Adressaten mit seinen Worten zur Tat zu bewegen, weil er ohnmächtig ist angesichts der militärischen Überlegenheit der russischen Armee. Die steckt dagegen auf den wenigen Autobahnen derzeit im teuersten Stau der Welt.

Das L-Wort

Es ist egal, ob man es Desinformation nennt oder alternative Fakten. Diese Begriffe fallen immer wieder, wenn man sich mit Politikern und Parteien beschäftigt, die es bei ihrer Sicht auf die Dinge mit Fakten nicht so genau nehmen. Aber sie sind falsch. Sie sollen aufhübschen, was wirklich passiert. Es geht nicht um epistemologische Fachsimpeleien. Es geht um handfeste Lügen. Als Scholz in Moskau war, versicherte ihm Wladimir Putin, keine Invasion vorzubereiten. Wie wir heute wissen, waren das weder alternative Fakten noch Desinformation. Es war eine Lüge. Wladimir Putin ist ein Lügner.

Auch sein Außenminister Sergej Lawrow ist ein Lügner. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte in einem ZDF-Interview, er habe sie über Russlands Pläne „eiskalt angelogen“. Nachdem Gespräche über eine Waffenruhe im türkischen Antalya ohne Ergebnis endeten, sagte Lawrow Reportern allen Ernstes, Russland plane nicht, andere Länder anzugreifen – und habe auch die Ukraine nicht angegriffen. Als Lawrow den UN-Menschenrechtsausschuss als Bühne für seine Propaganda nutzen wollte, verließen viele Diplomaten den Saal. Das ist verständlich. Niemand hat die Pflicht, sich ins Gesicht lügen zu lassen.

Wir müssen ehrlicher sein als die Vertreter der Systeme, die Demokratie und Rechtsstaat bekämpfen. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings, dass eine neue Ehrlichkeit in die Politik des Westens einziehen muss. Kein „Wording“ mehr, keine „Antworten, die die Zivilbevölkerung verunsichern könnten“, keine „Wir alle“-Ausweichmanöver auf Fragen, die an einen persönlich gerichtet sind (looking at you, Olaf Scholz). Es gibt kaum ein anderes Mittel, dem „Auf allen Seiten wird gelogen“-Argument die Luft zu entziehen. Es geht nicht darum, einen einzig richtigen Wahrheitsbegriff zu erfinden – das führte immer ins Verderben. Es genügt vollkommen, sich nicht selbst durch Taten und Worte Lügen zu strafen. Politiker müssen – und können – erkennbar machen, dass es ihnen ernst mit etwas ist.

Echte Unabhängigkeit

In den deutschen Reaktionen auf Putins Einmarsch schimmerte in der Diskussion möglicher Sanktionen durch, dass Strafmaßnahmen gerade auch Deutschland hart treffen würden. Das mag in einer verflochtenen Welt normal sein. Nicht normal ist es, wenn das die Menschen im Alltag empfindlich trifft. Für Deutsche geht es eben nicht darum, keinen Krimsekt und russischen Kaviar mehr zu bekommen, sondern in einer kalten Wohnung zu sitzen. Der Hinweis, dass die Energiewende nicht nur das Klima schützt, sondern auch unabhängiger von den Regimes in Russland und Saudi-Arabien macht, wurde jahrelang überhört. Nur leider richteten wir es uns nicht nur in den Armen Putins ein, sondern verschärften die Umklammerung mit dem Atomausstieg. Das wäre die bessere Übergangstechnologie gewesen. Denn die hatten wir ja schon.

Bundes-wer?

Die Bundeswehr hat im Ansehen der Bürger keinen leichten Stand. Soldaten wurden geduldet, wenn sie bei Hochwasser Sandsäcke schleppten oder Flüchtlinge in Kasernen unterbrachten. Auch bei der Bekämpfung der Pandemie riefen rund 85 Prozent der Landkreise gern Soldaten zu Hilfe. Zuletzt hatte die Politik mit kostenlosen Bahntickets versucht, die Öffentlichkeit an Menschen in Uniform wenigstens zu gewöhnen. Jetzt erinnern wir uns wieder daran, was im Grundgesetz in Artikel 87a steht: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“

Die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ärgerte sich kürzlich auf Twitter darüber, dass in den vergangenen Jahren nichts unternommen worden war, um Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Wir haben die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, dass Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann“, schrieb sie. Jetzt hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufzurüsten. Damit möchte die Bundesregierung künftig das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllen, was Scholz’ SPD in den vergangenen Jahren hartnäckig verhindert hat.

Ross und Reiter

Es ist unbedingt wichtig, dass wir präzise in unserer Sprache sind. Die Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, haben nicht die Russen getroffen, sondern allein der Mann im Kreml (beziehungsweise im Bunker im Uralgebirge, so die Berichte denn zutreffen): Wladimir Putin. Gegen ihn richten sich alle unsere Sanktionen, unser Unverständnis, unsere Wut – und das müssen wir auch so sagen. Es ist deshalb falsch, die Russen und die russische Kultur in Russland – aber auch hierzulande – in Mithaftung zu nehmen.

Restaurants, die russische Staatsbürger nicht mehr einlassen wollen, die Verbannung russischer Schriftsteller aus den Lehrplänen einer Mailänder Universität oder die Umbenennung von russischem Zupfkuchen sind bestenfalls hilflos und gut gemeint – stoßen schlimmstenfalls aber Menschen weg, die Verbündete gegen die Diktatur und den Krieg sein müssen. Vor allem die Menschen, die in Russland dagegen auf die Straße gehen, wo das Regime jeden Widerstand brutal erstickt, verdienen unsere Anerkennung ebenso wie die Ukrainer, die ihr Land dagegen verteidigen.

Die Nato lebt noch

Das nordatlantische Militärbündnis hatte zuletzt keinen einfachen Stand in Deutschland. Neben der starken hiesigen Friedensbewegung hängt das auch damit zusammen, dass die Nato nach den Worten ihres ersten Generalsekretärs Lord Ismay dazu diente, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Der Ex-US-Präsident Donald Trump bezeichnete die Nato 2017 als „obsolet“, der französische Präsident Emmanuel Macron diagnostizierte 2019 sogar den „Hirntod“. Damals waren die USA ohne Absprache mit den Bündnispartnern aus Syrien abgezogen. Die Türkei, ein anderes Nato-Mitglied, marschierte in Kurdengebiete in Nordsyrien ein. Kritik der Nato-Partner perlte an Erdogans Regierung ab.

Jetzt steht die Nato geschlossen da wie lange nicht. Wir erinnern uns daran, dass sie nicht nur eine Kraft der Stabilität und des Friedens ist. Für kleinere Staaten geht es um die Existenz. Die skandinavischen Staaten Schweden und Finnland waren immer stolz darauf, „blockfrei“ in der Mitte zwischen den USA und Russland zu stehen. In beiden Ländern spricht sich ausweislich neuester Umfragen nun eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Nato-Beitritt aus. Putin eint die Länder, die ihre Freiheit und ihre Demokratie bedroht sehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 138 – Thema: Rising Stars. Das Heft können Sie hier bestellen.