Was kommt nach den Volksparteien?

Politik

Die Volksparteien sind älter und homogener als der Rest der Deutschen, die nicht Mitglied einer der im Bundestag vertretenen Parteien sind. Dass diesmal vor allem CDU/CSU und Grüne unter ihren Erwartungen geblieben sind, hat hierin eine wesentliche Ursache: Sie wollen Volksparteien bleiben (CDU/CSU) – oder werden (Grüne). Doch mit der alten Strategie “Allen wohl, niemandem weh” lassen sich keine Wahlergebnisse mehr jenseits der 30 Prozent erreichen. Die Bundestagswahl 2021 bedeutet nicht nur das Ende der Ära Merkel, sondern auch das Ende der Volksparteien.

Umfragen zufolge traut eine deutliche Mehrheit von 60 Prozent keiner der gewählten Parteien zu, die Probleme im Land zu lösen. Den Volksparteien ist das Volk abhandengekommen. Die SPD hatte in den letzten zehn Jahren mehr als zehn Millionen, die CDU allein bei der Bundestagswahl 2017 mehr als vier Millionen Wähler verloren. Am stärksten war der Einbruch bei der CSU, die bei der Bundestagswahl 2017 mehr als zehn Prozent verlor. Auf kommunaler Ebene schlägt der Großtrend sich bereits auf die Machtverhältnisse nieder. In vielen Kommunen spielen die (ehemaligen) Volksparteien keine Rolle mehr. Das vielleicht drastischste Beispiel kommt aus Monheim am Rhein. Hier wurde die seit Jahrzehnten dominierende SPD bei der letzten Kommunalwahl im letzten Jahr nur noch von 5 von 100 Wahlberechtigten gewählt. Der CDU erging es mit 13 Prozent kaum besser. Nur noch jeder Fünfte entschied sich für eine der beiden “Volksparteien”.

International setzt die große Mehrheit der Demokratien längst auf eine neue Parteiformation: die Kampagnen-, Bewegungs- und Mitmachpartei. Damit reagiert sie auch auf den populistisch-autoritären Trend der Empörungs-, Erregungs- und Stimmungsdemokratie. Angetrieben wird der Wandel vor allem durch drei politische Trends, die sich seit vielen Jahren bereits latent entwickeln: das Ende der Lager, der Sog zur (neuen) Mitte und das neue Bedürfnis nach Good Governance.

Trend 1: Das Ende der Lager. Traditionelle Politik bezieht ihre Dynamik aus dem Streit der Lager und ihrer Milieus. “Linke” und “rechte” Konzepte treten gegeneinander an und differenzieren sich im politischen Wettbewerb. Dabei werden – auch in diesem Bundestagswahlkampf – weitgehend duale ideologische Konzepte aus dem vergangenen Jahrhundert abgearbeitet: Markt gegen Staat. Ökologie gegen Ökonomie. Links gegen rechts. Corona und der Klimawandel bilden gleichzeitig den Höhepunkt wie einen Tipping Point des alten, in heillose Deutungskämpfe verstrickten Parteiensystems, das für die Wähler immer weniger erklärt.

Trend 2: Der Drang zur neuen Mitte. In den Wohlstandgesellschaften haben sich inzwischen neue Mittelschichten herausgebildet, die den traditionellen Milieus entwachsen sind und längst eine strukturelle Mehrheit bilden. Diese Schichten sind kulturell liberal, mental grün, ökonomisch marktorientiert und sozialdemokratisch im Sinne des fairen Ausgleichs. Die “Klasseninteressen” dieser Milieus konzentrieren sich nicht mehr nur auf ein Konzept des Politischen, sondern changieren stark nach der eigenen Position in der Gesellschaft. Die eigenen politischen Interessen werden in der modernen Individual­gesellschaft virtuos: Die politische Melodie wird immer neu gespielt – und deshalb wird auch die politische Gesellschaft volatiler.

Trend 3: Das Bedürfnis nach Good Governance. Die Corona-Krise hat die Notwendigkeit effektiven staatlichen Handelns in einer existenziellen Weise gezeigt. Äußere und innere Krisen lassen sich weder mit überbürokratisierten und schwach geführten Institutionen bewältigen noch mit einer Rhetorik ideologischer Freiheit und Eigenverantwortung. Gutes Regieren braucht eine effektive Exekutive, eine vermittelnde Judikative und eine vorausschauende und ausgleichende Legislative. Staatliche Systeme müssen transparent und erreichbar sein. Und sie müssen früher als bislang Fachwissen von außen einholen. Politikberatung fristet in Deutschland ein Schattendasein. Gleiches gilt für die Beteiligung der Bürgergesellschaft. Die Bürger empfinden sich immer weniger als Verwaltungsobjekte, sondern zunehmend als Prosumenten: als Produzenten öffentlichen Gemeinwohls und zugleich als Konsumenten staatlicher Leistungen.

Aus dem Ende der Lager, dem Drang zur neuen Mitte und der Renaissance von gutem Regieren ergeben sich drei Konsequenzen für die Zukunft. Ein anderer Politikstil, ein neuer Politikertyp und der Wandel von der Volks- und Mitgliederpartei zur Bewegungs- und Mitmachpartei, zur Zukunftspartei.

Erste Konsequenz: Ein neuer Politikstil. Das Bedürfnis nach einem neuen Politikstil hat sich nicht zuletzt bei den Landtagswahlen in diesem Jahr gezeigt. Der Durchbruch einer “Politik des Zuhörens” führt zu einem neuen Aushandeln von Interessenskonflikten und Bürgerprotesten. Der Unterschied und die große Stärke der Demokratie im Unterschied zur Despotie ist, dass sich liberale Demokratien als “Überraschungsgesellschaften” verstehen. Ihr aufgeklärter kooperativer Individualismus kann in Krisenzeiten zur großen Stärke mutieren, wenn Politik die Einzelnen nicht als Problemverursacher, sondern als Ideengeber betrachtet. Es geht um eine Kommunikation des Zuhörens, die die Handlungsfähigkeit und Kompromissfähigkeit der Bürgergesellschaft schult und nutzt.

Der rapide Wandel verlangt einerseits schnelle und radikale Veränderungen in Staat und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Radikale müssen aber nachhaltig sein und brauchen die Akzeptanz der Menschen. Es geht daher – andererseits – um eine neue Balance aus Be- und Entschleunigung. Gefragt ist eine “moderierte Entschleunigung” als Antwort auf die permanente Beschleunigungsrhetorik der Ökonomie. Gefragt sind Moderatoren des politischen Wandels, die gemeinsam mit den Menschen Lösungen finden und so Hoffnung für eine bessere Zukunft bieten.

In der kommenden Politik-Ära werden weibliche Führungsstile von herausragender Bedeutung sein. Viele kleine europäische Länder sind heute bereits politisch “feminisiert” – allen voran die skandinavischen Länder. Global rücken Frauen weiter an die Spitze: Christine Lagarde, die erste Präsidentin der europäischen Zentralbank, Ursula von der Leyen, die erste Präsidentin der Europäischen Kommission und Kamala Harris, die erste Vizepräsidentin der USA. Die Zeit des politischen Macho-­Heroismus, der in den vergangenen Jahren noch einmal eine Blüte erlebte, ist vorbei, weil sich das paritätische Prinzip auch in der Politik durchsetzen wird.

Politik wird hier als Vermittler gefordert, um Konsens herzustellen. Statt den Bürgern von oben herab zu sagen, was sie zu tun haben, geht es darum, sie zum Mitmachen einzuladen. In einer koproduktiven Demokratie haben Bürger die Freiheit, Neues auszuprobieren und ihre Ideen mit der gesamten Gesellschaft zu teilen. Die Erfahrungen mit kommunalen Bürgerforen und -räten machen Mut. Sie sollten auch auf nationaler und europäischer Ebene als verpflichtendes konsultatives Element etabliert werden. Bürgerdialoge bis hin zu Abstimmungen können bei nationalen oder europäischen Grundsatzfragen wie der Einführung einer CO2-Steuer und europäischen Armee für die nötige Be- oder Entschleunigung sorgen. Intelligente Formen der politischen Willensbildung zerstören das Repräsentationsprinzip nicht, sondern stärken es.

Der Wandel zur Bürgerdemokratie führt in zweiter Konsequenz zu einem neuen Politikertyp. Die Antwort auf das Bedürfnis nach neuer Politik ist nicht nur ein neuer Politikstil, sondern auch ein neuer Politikertyp. Die erfolgreichsten Politiker der letzten Jahre wie Emmanuel Macron in Frankreich, Sebastian Kurz in Österreich und Justin Trudeau in Kanada bedienen nicht nur bereits existierende Stimmungen, sondern erzeugen neue, indem sie eine andere Politik anbieten. Repräsentation bedeutet für sie nicht mehr die Wiedergabe von etwas, das bereits existiert, sondern das Erschaffen von etwas Neuem.

Statt auf alte Ideologien und Karrierewege setzen Jacinda Ardern in Neuseeland, Justin Trudeau in Kanada und Emmanuel Macron in Frankreich auf eine Sprache der emotionalen Zuversicht und dynamische Kooperationen mit der Zivilgesellschaft. Der neue Politikertyp ist auch deshalb so erfolgreich, weil er unabhängig von seiner Parteiorganisation nach allen Richtungen offen ist. So ging Kurz in Österreich, als die Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ scheiterte, eine mit den Grünen ein – ein in Deutschland heute unvorstellbarer Vorgang. Umgekehrt entschied sich Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg gegen den anfänglichen Mehrheitswillen seiner Partei für die Fortführung der Koalition mit der CDU. Die Person wird in der neuen Politiker-Demokratie zum Programm.

Je unübersichtlicher die Welt, desto stärker ist die Sehnsucht nach starken Personen. Die Beispiele der letzten Jahre, angefangen von Karl-Theodor zu Guttenberg über Martin Schulz und Friedrich Merz bis hin zu Markus Söder haben eines gemein: Politische und personelle Entscheidungen können in Zukunft nicht allein in den traditionell zuständigen Gremien unabhängig von Basis und Meinungsumfragen gefällt werden. Ein Weg besteht in der Aufwertung der personalisierten Wahl beispielsweise durch “offene Vorwahlen”, bei der nicht nur Mitglieder einer Partei über die Spitzenkandidaten entscheiden. Es geht dabei um kluge Kombi-Modelle von direkten und repräsentativen Verfahren.

Daraus ergibt sich die dritte Konsequenz: Die Suche nach einem neuen Parteimodell. Die meisten neuen Politiktypen wissen Bewegungen hinter sich, die sich nur formal Partei nennen, in Wirklichkeit aber Unterstützungs-Allianzen darstellen. Die Organisationsform der Zukunft sehen sie in der Bewegungspartei. Ihre Mitglieder sind all jene, die etwas bewegen wollen. Bewegung ist etwas anderes als nur Protest. Es geht um die Integration des Gesellschaftlichen in eine Idee konstruktiver Veränderung und um Allianzen der Unterschiedlichen und nicht der Blasen. Zukunftspolitik ist eine dynamische, variable Vision und kein zorniges Dogma. Zukunftsparteien verstehen sich als Plattformen der Gemeinsamkeit über die trennenden Elemente hinweg. Sie sind offen für aktive Mitglieder und Mitmacher und sehen in Letzteren keine unliebsamen Störer.

Dass in der deutschen Demokratie das Charisma eines Politikers und einer Politikerin die Programmatik einer Partei schlug, ist nicht neu. Helmut Schmidt und Gerhard Schröder regierten trotz SPD, Angela Merkel wird trotz CDU/CSU als am längsten regierende Bundeskanzlerin in die Geschichte eingehen. Neu ist aber: Person, Programm und Partei sind keine stabile Einheit mehr. Sie verändern sich fortlaufend, weil sich auch die Umwelt ständig verändert. Längst in Bewegung und weiter als die Parteien und ihre Politiker sind die Bürger. Diese zwanzigste Bundestagswahl ist der Beweis.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 136 – Thema: Die drei Fragezeichen – Wer wird die neue Merkel?. Das Heft können Sie hier bestellen.