Von der Stunde Null zum Aufbruch 4.0

Politik

Als die deutsche Bundeskanzlerin im vergangenen Herbst Estland besuchte, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. „E-Estonia“ gilt als globaler Trendsetter im Bereich der Digitalisierung und als europäischer Vorreiter im Bereich E-Government. Die Esten erledigen heute fast alle Bürgerdienste online. Über nur einen Klick gelangt man auf dem zen­tralen Internetportal eesti.ee mit geschütztem Zugang zu Hunderten digitaler Bürgerdienste und Online-Dienstleistungen. Als einziges Land weltweit gewährt Estland eine digitale Staatsbürgerschaft, die sogenannte „E-Residency“, mit der auch Ausländer die Angebote des digitalen Landes nutzen können. Unternehmen müssen sich erst gar nicht nach Estland aufmachen, Estland kommt auf digitalem Weg direkt zu ihnen.   

Die Stunde 4.0 lässt auf sich warten

In Deutschland darf sich dagegen bereits glücklich schätzen, wer einen analogen Vor-Ort-Termin beim Bürgeramt bekommt. Nicht einmal jeder zweite deutsche Onliner nutzt E-Government-Angebote (in Österreich sind es dagegen laut E-Government Monitor 2016 74 Prozent). Beim Thema E-Government ist Deutschland „slow motion country“. In den einschlägigen Rankings ist der „zögerliche Hegemon“ („The Economist“) zuletzt zurückgefallen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Nutzerorientierung. „Wozu E-Govern­ment?“ fragen sich die Bürger zu Recht. ­Digitalisierung soll das Leben der Bürger, Verwaltungsmitarbeiter und Unternehmen erleichtern, zu mehr Wettbewerb und zu schnelleren Abläufen und Prozessen führen.

Einen „alarmierenden Rückstand“ beim Thema E-Government stellte jüngst der Nationale Normenkontrollrat der Bundesregierung in seinem Jahresgutachten fest. Wie groß der Handlungsbedarf bei der IT-Infrastruktur ist, ist spätestens seit der Flüchtlingskrise jedem Bürger bekannt, als offensichtlich wurde, dass selbst Behörden intern nicht zusammenarbeiten und ihre Daten austauschen. Dabei würde eine konsequente Digitalisierung von Verwaltungsleistungen die Zufriedenheit der Bürger und Unternehmen erhöhen.

Die „Stunde 4.0“ lässt hierzulande weiterhin auf sich warten. Dafür gibt es vor allem drei Gründe: Der real existierende Föderalismus, fehlender Wettbewerb und mangelnder politischer Wille.

1. Jenseits des Föderalismus: Der digitale Plattformstaat

In Deutschland sind vier Bundesministerien und das Kanzleramt für Digitalisierung und IT zuständig. Digitalpolitik gilt als schick und modern, deshalb machen alle gerne Werbung in eigener Sache, sobald es etwas im Zusammenhang mit Digitalisierung zu melden gibt. Die gute Nachricht: E-Government ist auch in Deutschland mit den verfassungsmäßigen Prinzipien des Föderalismus, der kommunalen Selbstverwaltung und der ministeriellen Ressorthoheit vereinbar. Die Verfassung muss für eine bessere Nutzung digitaler Services nicht verändert werden. Die schlechte Nachricht: die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Deutschland ist ein digitaler Flickenteppich. Vielen Kommunen fehlt es an der kritischen Masse, um Bürgern ein digitales Leistungsportfolio anzubieten, das wirtschaftlich und auf dem neuesten Stand der digitalen Möglichkeiten ist. Eine Konsolidierung und Homogenisierung der IT fehlt weitgehend. Auch fehlt ein einheitlicher Ansprechpartner beziehungsweise eine einheitliche Anlaufstelle, wie ihn die EU-Kommission fordert.

Das übergeordnete Ziel: eine koordinierte, kompatible und flächendeckende Digitalisierung der Verwaltungsangebote, welche die Nutzerperspektive in den Mittelpunkt stellt. Entscheidend ist die Partizipation von Bürgern, Unternehmern und Verwaltungsmitarbeitern.

Ein zentrales Bürger- und Open-Data-Portal

Bund, Länder und Kommunen müssen eine Entscheidung treffen, wie sie mit der digitalen Plattform­ökonomie in Zukunft umgehen wollen: ignorieren oder kooperieren? Unternehmen wie Google, Apple und Amazon bieten ihren Nutzern als Plattformen viele Möglichkeiten, die über das eigene Angebot an Leistungen hinausgehen. In Bereichen wie Smart City, Smart Home oder Smart Health spielen öffentliche Dienstleistungen aber nur eine geringe Rolle. Eine reine „eigene öffentliche IT“ ergibt hier keinen Sinn. Entscheidend sind mehr Koordination, Zusammenarbeit und eine zentrale Plattform, über welche die Leistungen aller Kommunen, Länder und des Bundes sowie von privaten Dritten erreichbar sind. Für die zentrale Plattform bräuchte es nur einen Betreiber. Auf mittlere Sicht würde sich die Plattform von selbst finanzieren, auf längere Sicht sollte ein homogenes Portal für sämtliche Bürgerservices und ein einheitliches Open-Data-Portal das Ziel sein. Der öffentliche Sektor kann nicht jedes Problem selbst lösen. Er kann aber eine Plattform bieten, auf der Dritte innovative Anwendungen entwickeln und auch neue Dinge testen können.  

Ergänzt werden könnte die Plattform durch ein „E-Govlab“ – ein offenes Netzwerk, an dem sich Start-ups und Akteure des privaten Sektors beteiligen und das öffentlich finanziert wird. Der Fokus liegt auf Teilhabe: Digitalisierung soll das Leben und Arbeiten der Menschen unterstützen. In Schweden gibt es ein solches Lab bereits. Dessen Projekte reichen von Geoinformationssystemen über Smart Communities bis hin zu Unterstützungssystemen zur Entscheidungsfindung.

Open Data Schweiz

In der Schweiz können Kantone, Gemeinden und weitere Organisationen ihre frei verfügbaren Daten unter gemeinsamen und einheitlichen Nutzungsbedingungen einstellen. Das Schweizer Portal für Open Government (OGD) ist ein Bundesarchiv und stellt die zentrale Infrastruktur zur Verfügung. Im Fokus stehen dabei Informationen von und über Schweizer Behörden wie Bevölkerungs-, Verkehrs- und Umweltdaten. Eine Schnittstellen­anbindung ermöglicht es Entwicklern, die Daten automatisiert abzurufen und sie als Grundlage für eigene Produkte und Apps zu nutzen.

2. Digitale Stagnation statt Wettbewerb

Als der Europäische Gerichtshof im Oktober den grenzüberschreitenden Online-Versandhandel mit Medikamenten erlaubte, dauerte es keine Woche, bis der deutsche Gesundheitsminister ein nationales Verbot ankündigte. Ein positives Verhältnis zum Wettbewerb ist kein deutscher Standortvorteil. Geraten die Prinzipien des Sozialen (Besitzstandsdenken) und der Marktwirtschaft in einen vermeintlichen Widerspruch, entscheidet sich die Politik oft gegen den Wettbewerb des Markts und für die Lobby der Besitzstandswahrer und Verteidiger des Status quo. So verwundert es nicht, dass die Internetkosten hierzulande höher sind als in den digital erfolgreichen Nachbarländern, Deutschland im Schnitt nur bei 14 Megabit pro Sekunde liegt (Spitzenreiter Südkorea kommt auf 27) und Großprojekte wie die elektronische Gesundheitskarte erst Milliarden Euro Steuergeld kosten und dann scheitern. Wäre der Autoverkehr so organisiert wie die Internetversorgung in Deutschland, würde ein und dasselbe Unternehmen Straßen bauen, dafür Maut kassieren, Autos herstellen und den TÜV abnehmen. Ein funktionierender Wettbewerb würde auch in Deutschland zu geringeren Kosten, mehr Nutzerfreundlichkeit und schnelleren Abläufen führen. Konkret hieße das eine Trennung der Infrastruktur, des Netzbetriebs und der Aufbau einer digitalen Plattform.

3. Vorrang des Digitalen

Eine schnelle und effektive digitale Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist möglich, wenn der Druck groß genug ist. Das hat im vergangenen Jahr die Flüchtlingskrise gezeigt. Plötzlich war der politische Wille zu Veränderung und Zusammenarbeit vorhanden. Ein eigenes Internet- oder Digitalisierungsministerium braucht es nicht. Es würde reichen, wenn die Zuständigkeit für E-Government im Bundeskanzleramt angesiedelt wäre und eine nationale Koordinierungsstelle eingerichtet würde.

Der Nationale Normenkon­trollrat fordert in seinem Jahresbericht einen „E-Government-Pakt Deutschland“ und einen neuen IT-Staatsvertrag, der einen verbindlichen digitalen Servicestandard festlegt, ein gemeinsames Digitalisierungsbudget von Bund und Ländern und ein Digitalisierungsbüro im Kanzleramt.

Die „Stunde 4.0“ wird auch in Deutschland schlagen, wenn zwei Prinzipien gelten: 1. Vorrang des Digitalen in der Verwaltung (digital by default). 2. Eine einmalige Freigabe von Daten muss reichen (once only), diese müssen nicht ein zweites Mal vom Bürger geliefert werden. Die Politik muss beides wollen und durchsetzen. Es braucht eine klare Ansage und ein ehrgeiziges Ziel, zum Beispiel: Bis 2030 digitalisieren wir alle Dienstleistungen und Services. Bürger, Unternehmen und Behörden hätten ausreichend Zeit, sich vorzubereiten und könnten die Herausforderung nicht mehr länger ignorieren.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 117 – Thema: Rising Stars/Digitalisierung. Das Heft können Sie hier bestellen.