Warum die Politik weniger auf Umfragen und mehr auf Vorstellungen achten sollte

Kopfsache

Eigentlich müsste sich die FDP im Höhenflug befinden. Ob Schuldenbremse, Verbrennungsmotor oder Energiepolitik, die meisten Bürger unterstützen ihre Positionen in diesen Bereichen. Stattdessen bewegt sich die Partei nahe an der 5-Prozent-Hürde. Christian Lindner, das Gesicht der Liberalen, rangiert weit unten in den Beliebtheitsrankings. Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht den Grund dafür in einem zu „verkopften“ Kommunikationsstil. Vielleicht steckt das Problem aber woanders. Es könnte darin bestehen, Umfrage­daten mit politischer Unterstützung zu verwechseln.

Ähnlich wie der FDP ergeht es auch anderen Akteuren. Sie orientieren sich am vorherrschenden Meinungsbild und verlieren dennoch an Ansehen und Zuspruch. Offenbar beschreiben Meinungs- und Einstellungsdaten die Wirklichkeit unzureichend. Das zeigt sich besonders beim Thema Klima. Obwohl eine relative Mehrheit den Klimawandel in Umfragen als wichtigstes Problem bezeichnet, konnten selbst im linken Berlin nur gut 18 Prozent der Stimmberechtigten mobilisiert werden, um sich für eine zeitigere Klimaneutralität einzusetzen. Laut Umfragen sehen ganze 82 Prozent einen großen oder sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz. Zugleich vermeldet die Reisebranche einen Boom bei Fernreisen. (Abb. 1)

Was ist die Erklärung dafür? Warum spiegeln Umfragedaten das konkrete Handeln und die politische Beteiligung nicht wider? Die Antwort ist einfach: Meinungen, Einstellungen und Wertungen sind notwendig für das Handeln, aber nicht ausreichend.

Für einen Kuchen braucht man ein Rezept

Handeln ist nicht nur eine Frage des Wollens und Wertens. Es hängt auch von weiteren Faktoren ab. Wissen, Vorstellungen und Aufmerksamkeit spielen dabei eine zentrale Rolle. Ein Kollege aus der Politikwissenschaft, Gerhard Vowe, hat es so formuliert: „Man kann sich einen Kuchen oder eine befriedete Welt noch so heftig wünschen, es bedarf beim besten Willen des Rezepts, des prozeduralen Wissens, um sich dem Ziel zu nähern.“

Für die Politik heißt das: Nur mit dem passenden kognitiven Rüstzeug kann man sich politisch engagieren. Um einer Partei beizutreten, braucht man eine klare Idee, wie die Partei arbeitet und was eine Mitgliedschaft mit sich bringt. Wohlgemerkt, diese Vorstellungen müssen nicht zwingend der Realität entsprechen. Oft tun sie das nicht, was Parteimitglieder regel­mäßig ­derart frustriert, dass sie sich zurückziehen. Man muss nicht die Fakten kennen, um bei Themen wie Klima­wandel oder Einwanderung aktiv zu werden. Für das ­Szenario einer infolge des Klimawandels bereits in wenigen Jahrzehnten unbewohnbaren Erde gibt es keine plausiblen Begründungen. Für die Mitglieder der sogenannten ­Letzten Generation bildet diese Vorstellung aber ­dennoch eine zentrale Grundlage ihres Handelns.

Wissen, Vorstellungen und Aufmerksamkeit bilden die kognitive Seite des Handelns, die nicht unbedingt mit der evaluativen Seite übereinstimmen muss. Obwohl viele den Klimawandel als ernstes Problem sehen, setzen sich nur wenige wirklich damit auseinander. Daten von ­Google Trends zeigen: Von 2017 bis 2021 stand der Klimawandel im Schatten der Comicfigur Spongebob, selbst während die Klimabewegung Fahrt aufnahm. (Abb. 2)

Wer wissen möchte, worauf sich die Aufmerksamkeit des Publikums tatsächlich richtet, sollte die Suchhäufigkeit von Begriffen wie „Bundesliga“ oder „iPhone 14“ recherchieren. Zwischen den Suchanfragen für diese Begriffe und den Verkaufszahlen von Stadiontickets bzw. Apple-Smartphones dürfte ein recht enger Zusammenhang bestehen.

Im Marketing hat man die Bedeutung kognitiver Faktoren längst erkannt. Supermärkte platzieren bestimmte Produkte am Kopf einer Regalreihe. Dort sind sie leichter wahrnehmbar als die Produkte in den Regalen. Das steigert ihren Umsatz erwiesenermaßen um ein Mehrfaches. Facebook erfasst die Verteilung der Aufmerksamkeit präzise. Wenn der Blick länger auf einer Anzeige oder auf einem Post verharrt, dann werden daraus Rückschlüsse über das zu erwartende Verhalten gezogen. In Menlo Park versteht man, dass nicht in erster Linie die in der Persönlichkeitsstruktur wurzelnden Einstellungsmuster das Verhalten bestimmen. Es sind vielmehr die Inhalte, die den kognitiven Raum einer Person füllen.

Bevor wir handeln, sei es im Konsum oder in der Politik, denken wir immer zuerst darüber nach. Wir beschäftigen uns mental mit dem Ziel und wie wir es erreichen können. Das lässt sich hübsch ablesen an Suchanfragen bei Google, im Medienkonsum und in der Sprache. Gegenstände, die mental präsent sind, finden ihren ­Niederschlag in Texten, anhand derer man ihre Bedeutung erfassen und im Zeitverlauf nachvollziehen kann. Auf diese Weise lässt sich ein klareres Bild des kognitiven Raums gewinnen, in dem sich die politische Öffentlichkeit bewegt.

Wie sich kognitive Hebel nutzen lassen

Schaut man auf den zeitlichen Verlauf dieses kognitiven Raums, wird deutlich: Das Interesse an den Hauptakteuren und Institutionen der Politik ist deutlich gesunken. Google Ngram ist ein Analyseinstrument. Es misst, wie oft bestimmte Wörter in Google Books erscheinen. Bei den Nennungen der zentralen Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident zeigt es einen stetigen und deutlichen Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre. (Abb. 3)

Diese Daten zeigen: Die Verankerung politischer Inhalte im kollektiven Bewusstsein löst sich. Das Ergebnis: unberechenbarere Wähler und mehr Wechselwähler. Wer mit Parteien nur oberflächliche Assoziationen verbindet, lässt sich bei der Wahl von kurzfristigen Einflüssen leiten. Er neigt eher zur Wechselwahl. Dieses Muster entspricht dem klassischen Michigan-Modell – mit dem Unterschied, dass es Parteibindungen und politische Orientierungen als kognitive Größe versteht. Die bündelt Aufmerksamkeit, Wissen und Vorstellungen, die sich mit politischen Inhalten verbinden. Nimmt diese Größe ab, führen Einstellungsdaten und Meinungsbilder in die Irre: Sie haben keine ideelle Basis – und sind deshalb nicht handlungsrelevant.

Ein aktuelles Beispiel dafür bieten die Beschlüsse der Koalition zur Kindergrundsicherung. Viele sind dafür, aber nur wenige verstehen sie. Wer mit diesem Thema politisch punkten will, dürfte enttäuscht werden.
Für die politische Kommunikation ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, aber auch Chancen. Herausfordernd ist, dass alte Strategien nicht mehr funktionieren. Es genügt nicht mehr, einige bekannte Knöpfe zu drücken, um die anvisierten Gruppen zu mobilisieren. Zudem ist es sehr viel schwieriger geworden, das Publikum überhaupt zu erreichen. Ohne einen sehr großen Lautsprecher dringt niemand mehr zu den Adressaten durch.

Allerdings eröffnen sich auch neue Chancen. Die politische Öffentlichkeit ist in Bewegung. Vorhandenes Wissen und Aufmerksamkeit können beachtliche Verstärkungseffekte erzeugen. Wie funktioniert dieser Hebel? Ein zunehmend größerer Teil der Wählerschaft verfügt über keine fest verankerten Überzeugungen und Parteibindungen. Die Menschen schließen sich oft der vermeintlichen Mehrheitsmeinung an und übernehmen naheliegende Deutungen. Wer das eigene Lager mobilisiert, kann dieses Herdenverhalten stärker beeinflussen, als es die Größenverhältnisse erwarten lassen. Innerhalb einer insgesamt schrumpfenden politischen Öffentlichkeit können selbst relativ kleine Gruppen sichtbar auftreten und auf die Wahrnehmung des Publikums einwirken.

Idealisten bewegen

Große Bedeutung kommt Gruppen zu, die politisch interessiert, aber nicht nennenswert aktiv sind. Es geht ihnen um grundsätzliche Ideen wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Ordnung, Fürsorge, Schutz und Ähnliches mehr. Allerdings fehlt ihnen die ideelle Basis, um eigenständig zu handeln. Diese Gruppen kann man mobilisieren, indem man vorhandene Ideen begrifflich verdichtet und mit konkreten Ereignissen verbindet. Aktuelle Beispiele dafür sind die Black-Lives-Matter- und die Klimaschutzbewegung. Hier ist es einer zunächst kleineren Avantgarde gelungen, die öffentliche Wahrnehmung zu prägen.

Einige Akteure konnten Ideen in so prägnante Begriffe fassen, dass diese Eingang in den deutschen Wortschatz gefunden haben. Dem Ex-SPD-Chef Franz Müntefering gelang das mit der „Heuschrecke“ für Finanzinvestoren ebenso wie Campact mit dem „Chlorhuhn“ im Kampf gegen das Handelsabkommen TTIP. Für manche Akteure kann es also effektiver sein, sozusagen über Bande zu spielen und den Fokus ihrer Kommunikation auf die eigene Kernanhängerschaft zu richten, anstatt sich an einer diffusen Mehrheitsmeinung zu orientieren.

Kognitive Faktoren nicht unter den Tisch fallen zu lassen, erzeugt nicht nur eine dynamischere Vorstellung von politischer Öffentlichkeit. Es ergeben sich auch neue Strategien für die politische Kommunikation. Besonders Populisten nutzen das heute geschickt aus, indem sie vor allem auf Aufmerksamkeit setzen. Die etablierten Akteure lehnen dieses Spiel ab und setzen lieber auf wohlmeinende Appelle. „Wir wollen unsere Demokratie von innen heraus stärken“, erklärte Innenministerin Faeser zum neuen Demokratiefördergesetz. Bei der schwindenden Aufmerksamkeit der Bürger ist aber zweifelhaft, ob das überhaupt jemand mitbekommt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.