Er ist zwar leicht zu übersehen, aber er besteht – der Zusammenhang zwischen Marmelade und der Bundestagswahl. Das sogenannte Marmeladen-Paradoxon, in der Wirtschaftspsychologie auch als „Paradox of Choice“ von Sheena Iyengar und Mark Lepper bekannt, besagt: Wer eine sehr große Auswahl hat, muss sich über Entscheidungsschwierigkeiten nicht wundern. Auswahl zwischen den politischen Parteien und deren inhaltlichen und personellen Angeboten zu haben, ist das zentrale Charakteristikum jeder freiheitlichen Parteiendemokratie. Das gilt umso mehr, wenn es sich um ein parlamentarisches Regierungssystem mit einem Verhältniswahlsystem handelt, in dem mehrere Parteien die Chance haben, ins Parlament einzuziehen und sich womöglich als Koalitionspartner an der Regierung zu beteiligen.
Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland Schritt für Schritt verändert: Teile der Wählerschaft sind unzufrieden mit dem programmatischen Angebot der drei Parteien, die über mehr als zwei Jahrzehnte die Politik der Bundesrepublik bestimmt hatten. Dazu kommen der gesellschaftliche Wandel sowie die deutsche Wiedervereinigung. Diese Entwicklungen wandelten das faktische „Zweieinhalb-Parteiensystem“ mit Union und SPD als Kanzlerparteien und der FDP als Koalitionsmacherin zu einem „fluiden Mehrparteiensystem“ (Oskar Niedermayer).
Seit der letzten Bundestagswahl im September 2017 sind sechs Fraktionen im Deutschen Bundestag vertreten, die aus sieben Parteien bestehen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich diese Zahlen infolge der anstehenden Bundestagswahl erhöhen. Es ist aber davon auszugehen, dass der Stimmanteil der „Sonstigen“ in Höhe von fünf Prozent bei der Bundestagswahl 2017 ansteigen wird. Für diese Rubrik gibt es viele Anwärter: 53 Parteien hat der Bundeswahlleiter für die Bundestagswahl zugelassen. Davon sind nur neun entweder im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten. Dass so viele Parteigründungen am Wahlabend nicht namentlich aufgeführt werden, ist dem deutschen Wahlsystem geschuldet. Dessen Verhältniswahlrecht mit seiner Fünf-Prozent-Sperrklausel soll garantieren, dass das parlamentarische System funktioniert. „Gesichtspunkte einer ‚gerechten‘ Repräsentation“ (Dieter Nohlen) sind dagegen nachrangig.
Drei Faktoren des Wahlverhaltens
Das politische Marmeladen-Paradox erhöht nicht nur den Informationsaufwand der Bürgerinnen und Bürger, sondern wirkt sich auch auf die Angebotsseite aus. In dem Maße, in dem das wachsende Parteienangebot auf Nachfrage bei den Wählern stößt, wird es mühsamer, parlamentarische Mehrheiten zu schmieden. Wenn zwei Fraktionen nicht mehr zum Regieren ausreichen, sondern ein dritter Partner für eine stabile Regierungskoalition benötigt wird, verkleinert das nicht nur deren Anteil am Fell des Bären. Vielmehr sind weitergehende inhaltliche Kompromisse erforderlich, die die eigene Anhängerschaft verdrießen und damit die nächste Runde in der Entfremdungsspirale einläuten können.
Die Vielzahl politischer und gesellschaftlicher Veränderungen erschwert es zusätzlich, die Faktoren zu identifizieren, die das individuelle Wahlverhalten bestimmen. Dabei hilft der sogenannte „Kausalitätstrichter“, der auch die zeitliche Dynamik einer Wahlentscheidung veranschaulicht. Er differenziert zwischen erstens den grundlegenden strukturellen Hintergründen von Wahlentscheidungen; damit sind zum Beispiel die historisch angelegten Interessenlagen gemeint, die eine Gesellschaft und ihre wirtschaftliche Ordnung durchziehen. Davon zu unterscheiden sind zweitens mentale Orientierungen wie etwa die (ideologischen) Grundüberzeugungen der Wählerinnen und Wähler.
Diese beiden Faktoren sind der jeweiligen Wahlentscheidung zeitlich weit vorgelagert und bilden damit das äußere Ende des Trichters. Eher kurzfristig dagegen prägen die drittens zu nennenden situativen Faktoren weiter innen im Trichter das Wahlverhalten. Was denkt die Wählerschaft bei einer spezifischen Wahl zu konkreten Fragen: Gefällt mir das Programm einer Partei? Vertraue ich ihren Kandidaten? Sind beide in der Lage, grundsätzliche oder auch akute Probleme zu lösen? Diese Gedanken beeinflussen umso stärker die Wahlentscheidung, je schwächer die Parteibindungen werden.
Mehr Bildung, mehr Interesse
Es fühlen sich immer weniger Menschen Parteien verbunden. Auch gegenüber Gewerkschaften und Kirchen hält diese Entwicklung seit dem Ende der Bonner Republik an. Das hat viel mit den verschiedenen Emanzipationsprozessen und dem damit verbundenen Wandel der Gesellschaft zu tun: Zum Beispiel ist nicht nur der Anteil der Industriearbeiter rückläufig, die zur klassischen Anhängerschaft der SPD gehörten. Es sinkt auch der Anteil katholischer Kirchgänger, auf deren Votum sich die Unionsparteien fast sicher verlassen konnten.
Die Abschwächung der Parteiidentifikationen ist aber auch auf die Erfolge der Bildungspolitik zurückzuführen. Das höhere formale Bildungsniveau und das größere Interesse breiter Teile der Bevölkerung an Politik fördern die „kognitive Mobilisierung“ (Sabine Pokorny): Individuen sind über die sachlichen Veränderungen in den verschiedenen Politikfeldern (Wirtschaft, Umwelt, Technologie, Bildungswesen etc.) informiert; sie reagieren auf diese und verhalten sich auch mit Blick auf ihre parteipolitischen Präferenzen flexibler (Kai Arzheimer). Trotz dieser spürbaren Veränderungen beeinflussen aber weiterhin auch sozio-ökonomische Faktoren wie Einkommen oder Wohnort die Wahlentscheidung.
Auch demografische Aspekte spielen eine Rolle, wobei das Geschlecht der Wahlberechtigten weniger Unterschiede beim Wahlverhalten erklärt als das Alter. Die Wahlbeteiligung von Frauen liegt inzwischen etwas höher als die von Männern. Zudem stellen Frauen einen höheren Anteil an der Wählerschaft einzelner Parteien (Union, Grüne) als anderer (FDP, Linke, AfD); die Unterschiede sind aber insgesamt eher klein. Mit Blick auf das Alter ihrer Anhängerinnen und Anhänger weiß man, dass sowohl die Unionsparteien als auch die SPD bei jungen Erwachsenen zwar signifikant schlechter abschneiden als bei älteren Teilen der Bevölkerung. Dessen ungeachtet lagen CDU/CSU und SPD in der Bundestagswahl 2017 auch bei den Jungen deutlich vor den Grünen.
Strategisches Wählen
Trotz der genannten Veränderungen verschwindet also weder das „sozialstrukturell fundierte Wählen“ (Marc Debus) noch wird der Großteil der Wählerschaft orientierungslos. Ungefähr die Hälfte der Wählerschaft fühlt sich nach wie vor parteipolitisch „beheimatet“ – in den „neuen“ Ländern jedoch weniger als in den „alten“ (Thorsten Faas unter @Wahlforschung). Gleichwohl: Es war schon deutlich einfacher, ein zutreffendes Bild von der Anhänger- oder Wählerschaft der unterschiedlichen Parteien und vor allem den Motiven für deren Wahlentscheidung zu zeichnen.
Das hat damit zu tun, dass viele Wählerinnen und Wähler nicht mehr nur eine Lieblingspartei haben, sondern auch eine Zweit- oder Drittpräferenz. Die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat sich jüngst an die „Vermessung der Wählerschaft“ vor der Bundestagswahl gemacht und festgestellt, dass nur eine Minderheit der Befragten mit Wahlabsicht die eigene Parteipräferenz für „alternativlos“ hält (etwa 20 Prozent). Die meisten Wählerinnen und Wähler (eine Ausnahme sind die selten in Alternativen denkenden Anhänger der AfD) halten es dagegen für möglich, auch eine andere Partei zu wählen.
Viele berücksichtigen dabei auch die möglichen Koalitionsoptionen ihrer bevorzugten Partei. Aber auch hier wird es seit einiger Zeit komplizierter. Die Fraktionen in Parlamenten schotten sich immer weniger voneinander ab – die sogenannte Segmentierung sinkt also. Angesichts der Zergliederung der Parlamente zeigen immer mehr Parlamentarier die notwendige Bereitschaft, „buntere“ Koalitionen einzugehen. Die neue Vielfalt an Koalitionsoptionen erhöht zwar das Wissen über Flaggenfarben, verlangt den Wählern aber noch mehr Kalkül ab.
Inhalt und Angebot überprüfen!
Wann mündet das Nachdenken über eine mögliche Alternative zur grundsätzlich bevorzugten Partei tatsächlich darin, sie nicht zu wählen? Das hat nicht zuletzt mit dem Versuch von Menschen zu tun, ihre innere Überzeugung nicht in Widerspruch zu neu erworbenem Wissen und Einstellungen geraten zu lassen, also „kognitive Dissonanzen“ zu vermeiden. Ändert man seine Meinung darüber, wie dringlich ein Problem ist und ob Partei und Kandidat(in) es lösen können, kann die Wahlentscheidung am sich verengenden Abschnitt des „Kausalitätstrichters“ und damit kurz vor der Wahl auch kurzfristig umschwenken. Meistens geben Medienberichte Wankelmütigen den letzten Schubser. Schließlich ergeben sich gerade in einem Wahlkampf unter Corona-Bedingungen noch weniger Gelegenheiten als ohnehin, sich ein persönliches Bild vom (Spitzen-)Personal zu machen.
Die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten, die nicht nur die „Totalausleuchtung“ der Politik (Bernhard Pörksen) erlauben, sondern den sekundenschnellen Austausch sowohl von Wohlmeinenden als auch von Hasserfüllten im privaten und beruflichen Umfeld begünstigen, setzen Parteizentralen und Kampagnenagenturen massiv unter Druck. Wenn die digitale Wirkmacht der aufgeregten „vernetzten Vielen“ (Bernhard Pörksen) den Wahlausgang sehr kurzfristig beeinflussen kann, reicht es nicht aus, die politischen Kontrahenten sowie die Debatten in den klassischen Medien zu beobachten.
Die Herausforderungen für Parteien und ihr Spitzenpersonal sind offensichtlich: Ziehen die leicht beeinfluss- und manipulierbaren situativen Determinanten eine Partei und/oder ihr Personal im Ansehen der Öffentlichkeit nach unten, müssen sie diesem Trend mehr entgegensetzen als eine Imagekampagne. Wirksamer wäre es, alle Komponenten des Entscheidungstrichters in den Blick zu nehmen und auf diese Weise das inhaltliche und personelle Angebot der Partei verstärkt auf die strukturellen und psychologischen Faktoren der Wahlentscheidung zu beziehen: So kann es gelingen, den vermeintlichen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten beim Spitzenpersonal die medial und digital zusätzlich aufgeladene Bedeutung zu nehmen. Und wem es gelingt, eine Dissonanz aufzulösen und damit Unbehagen zu beseitigen, kann womöglich sogar noch gewinnen: am Marmeladenregal und bei der Wahl.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 136 – Thema: Die drei Fragezeichen – Wer wird die neue Merkel?. Das Heft können Sie hier bestellen.