Stolz auf die Demos

Israels Justizreform

Berlin im März. Eine Kommunikationsagentur hat den israelischen Botschafter Ron Prosor abends nach Mitte eingeladen. Er hält eine Rede zum Thema „Humor in der Diplomatie“. Ron Prosor ist ein humorvoller Mensch, aus seiner Karriere hat er genug Material für eine Powerpoint-Präsentation mitgebracht. Der Diplomat zeigt Videos, in denen er Witze erzählt, sich für eine Challenge mit Eiswasser übergießen lässt und den Gegnern Israels gewitzt die Leviten liest. Aber spätestens in der Fragerunde muss auch Prosor die unvermeidliche Frage beantworten: Was ist da los in Israel?

Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende gegen die Justizreform der rechten Regierung von Benjamin Netanjahu. Sie fürchten, dass der Premierminister damit nicht nur seine Macht zementieren, sondern auch seine Korruptionsprozesse abwenden will. Die Opposition spricht von einem „Putschversuch“ und wittert einen Angriff auf die Demokratie.

„Es gab sicherlich schon Situationen, in denen die israelische Gesellschaft gespalten war“, sagt Peter Lintl zu p&k. Er forscht in der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ zu Israel. „Es gab aber noch kein solches Vorhaben, die Grundlagen des Staates radikal umzubauen.“ Worum geht es? Die Regierung will das Parlament ermächtigen, Urteile des Obersten Gerichtshofs mit einfacher Mehrheit zu kippen. Außerdem will sie das Parlament über die Besetzung der Richterposten entscheiden lassen. Kritiker sehen das als Anschlag auf die Gewaltenteilung.

Aus der Geschichte heraus ist die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson. Ein wichtiges Argument, warum Israel ein Partner für Deutschland und die EU ist, ist jedoch gar nicht historisch: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Hier sitzt kein König auf dem Thron und kein ewiger Präsident, den man nicht abwählen kann. Wenn ausgerechnet dieser Status wackelt, könnte das sofort im Argumentenköcher der sogenannten „Israelkritiker“ landen, so die Befürchtung. Rechter und rassistischer Antisemitismus sind leicht zu erkennen. Beim israelbezogenen Antisemitismus ist das schon schwieriger. Er besteht in der Feindschaft gegen den Staat Israel.

Schwieriger Spagat

Das erschwert es Juden im Ausland, frei über die Krise zu sprechen oder gegen die Reform zu demonstrieren. „Meine Angst ist einfach zu groß, dass viele Deutsche den Protest gegen Netanjahus Reform als einen gegen das Land Israel missverstehen und die Legitimation des Staates insgesamt anzweifeln würden“, sagte die Journalistin Tal Rimon in einem Streitgespräch, zu dem die „Zeit“ drei in Deutschland lebende Juden eingeladen hatte. Meron Mendel sieht das anders. „Meine Hauptsorge ist, dass die israelische Demokratie ausgehöhlt wird“, sagt der Direktor der „Bildungsstätte Anne Frank“ zu p&k. „Antisemiten finden immer ihre Anlässe, um ihre Gedanken zu verbreiten.“

Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn schrieb im „Spiegel“, die „üblichen Kritiker“ sagten: „Nun zeige der jüdische Staat sein wahres Fratzengesicht.“ Ein weit verbreitetes Phänomen scheint das aber noch nicht zu sein. „Aus unseren bisherigen Beobachtungen ergibt sich der Eindruck, dass israelische innenpolitische Debatten keine gesonderte Rolle bei antiisraelischem Antisemitismus in Deutschland spielen“, sagt Marco Siegmund, Pressesprecher von Rias, einer Meldestelle für antisemitische Vorfälle, zu p&k. „Das 75. Jubiläum der Staatsgründung Israels und die jüngsten Demo-Verbote in Berlin spielen derzeit eine größere Rolle.“

Die jüngsten antisemitischen Vorfälle in Berlin scheinen das zu bestätigen. Auf einer Demonstration einer Gruppierung mit Verbindungen zu Terrororganisationen im Nahen Osten im April wurden Parolen wie „Tod den Juden, Tod Israel“ gerufen. Eine solch plumpe Propaganda braucht keine feine Klinge. Die Gruppierung nahm auch an der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ teil und durfte unwidersprochen die antisemitische Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ skandieren. Auf Plakaten stand auch die Behauptung, Israel sei ein Apartheidstaat.

Der Vorwurf ist älter. Die NGO Amnesty International hat ihn allerdings legitimiert. In einem kontroversen Bericht hat die Menschenrechtsorganisation vor einem Jahr Israel vorgeworfen, ein Apartheidsystem gegen die Palästinenser zu betreiben. Die heftige Kritik ließ nicht auf sich warten: Der Bericht sei einseitig, ignoriere Kontext. Entscheidend war: Er berücksichtigte nicht, dass Israel eine Demokratie mit arabischen Abgeordneten und Richtern ist. Michael Roth (SPD), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, fand dafür entsprechend harte Worte. „Wer die einzige freiheitliche Demokratie im Nahen Osten als ‚Apartheidstaat‘ bezeichnet, weiß offenkundig nicht, was Apartheid ist“, sagte Roth der „Welt am Sonntag“.

Mitleidenschaft

Dass das Ringen um den israelischen Rechtsstaat instru–mentalisiert werden könnte, um Israels Existenzberechtigung infrage zu stellen, ist derzeit also vor allem noch eine Sorge derer, die sich im Ausland für den jüdischen Staat einsetzen. Die Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft kommen allerdings schon hier an. Etwa beim Netzwerk Elnet, das sich um deutsch-israelische Beziehungspflege bemüht. In derselben Märzwoche, in der Prosor über Humor spricht, organisiert Elnet eine Konferenz über Antisemitismus. „Actions Matter“ heißt sie. Ausnahmsweise soll es einmal nicht um Diagnose gehen, sondern um konkrete Handlungsempfehlungen. Dazu hat die Organisation auch international renommierte Antisemitismusexperten eingeladen, politik&kommunikation ist Medienpartner. Diaspora-Minister Amichai Chikli (Likud) soll bei einem Besuch des Holocaustmahnmals am Vortag zur Konferenz ein Grußwort halten.

Einer der Referenten will deshalb nicht mehr kommen und wählt für seine Absage die große Bühne des Internets. Die Teilnahme des israelischen Regierungsmitglieds würde der Veranstaltung „jegliche Glaubwürdigkeit entziehen“, schreibt der Journalist Ofer Waldman in einem offenen Brief an Elnet. Chikli sei Teil einer Koalition, „die gerade dabei ist, die israelische Demokratie zu untergraben“ und sei zudem selbst „durch rassistische und homophobe Äußerungen aufgefallen.“ Er fordert andere Teilnehmer zum Boykott der Veranstaltung auf. Am Ende erscheint Chikli gar nicht auf der Konferenz, die Situation in Israel zwinge ihn zur Rückreise. Waldman kommt trotzdem nicht. Carsten Ovens, Geschäftsführer von Elnet-Deutschland, will den Vorfall nicht überbewerten. „Gerade in schwierigen Zeiten ist unsere Arbeit als Brückenbauer noch wichtiger“, sagt er.
Auch Ovens fürchtet, die schwelende Verfassungskrise könne Antisemiten in die Karten spielen. „Sogenannte Israelkritik ist mittlerweile eine wirkungsmächtige Form des Antisemitismus“, sagt er. „Wir haben vor Kurzem unsere jährliche Umfrage unter Abgeordneten aus 17 europäischen Parlamenten durchgeführt. Dort zeichnet sich ab: 54 Prozent von ihnen sehen in israelbezogenem Antisemitismus ein großes Problem.“

Diplomatisch verzwickt

Israels Repräsentanten im Ausland stecken wegen der geplanten Justizreform in einer Zwickmühle. Können sie ihre eigene Regierung kritisieren und gleichzeitig die Interessen ihres Landes vertreten? „Ich beneide israelische Diplomaten nicht“, sagt Meron Mendel. „Ich hätte es bei dieser ultranationalistischen Regierung keine Minute auf einem Botschafterposten ausgehalten.“ Die israelische Botschafterin in Paris hielt diese Gegensätze ebenfalls nicht aus. Jael German legte im Dezember ihr Amt aus Protest nieder und bekleidet es seither nur noch kommissarisch.

Ron Prosor hat in Berlin eine andere Herangehensweise. Beim Abendtermin im März betont der Botschafter angesichts der regierungskritischen Massendemonstrationen vor allem, stolz auf die lebendige Demokratie in Israel zu sein. Seine eigene Familie sei auf den Demos gewesen, auch sein Sohn und seine 91-jährige Mutter. Sein Bruder habe sie mitgenommen. Selbst sein zweieinhalbjähriger Enkel schreie Parolen, scherzt Prosor. Viele Botschafter sehen sich offenbar in erster Linie als Vertreter ihres Landes und dann erst der Regierung. In Interviews wiederholt der Diplomat seine Botschaften. „Sie in Deutschland und in Europa hätten besorgt sein müssen, wenn es keine Demonstrationen in Israel gegeben hätte“, sagt er fast wortgleich der „Tagesschau“ und der „Berliner Zeitung“.

Auch die Partner Israels stehen vor einem Dilemma. Denn eines verbitten sich die meisten Israelis, die sich zum Thema äußern. „Israel braucht keinen erhobenen Zeigefinger“, sagt Prosor immer wieder. Meron Mendel widerspricht. Weil beide Staaten Demokratien seien, könne Kritik aus Deutschland auch ein „Akt der Solidarität mit Israel“ sein. Experte Lintl erklärt: „Wenn das deutsch-israelische Verhältnis nicht nur auf Geschichte, sondern auch auf gemeinsamen Werten beruhen soll, muss Deutschland sagen, wo es Differenzen sieht“. Bundeskanzler Olaf Scholz tat das. Beim Staatsbesuch seines Amtskollegen Benjamin Netanjahu Mitte März sagte der SPD-Politiker, „als demokratischer Wertepartner“ und „enger Freund Israels“ verfolge Deutschland die Entwicklung in Israel mit „großer Sorge“. US-Präsident Biden hat sogar verkündet, er werde Netanjahu „nicht in der nächsten Zeit“ ins Weiße Haus nach Washington einladen und hoffe, der israelische Präsident werde von der Verfassungsreform abrücken.

Danach sieht es allerdings nicht aus. Zwar hat Netanjahu die Reform im März auf Eis gelegt. Gespräche zwischen Regierung und Opposition unter Vermittlung von Präsident Izchak Herzog stocken aber. Jetzt muss Netanjahu noch einen Koalitionsstreit über den Haushalt beilegen, um Neuwahlen abzuwenden. Die Regierungskritiker bleiben trotzdem aufmerksam. Noch immer gehen Hunderttausende auf die Straße. Und die Vertreter und Freunde Israels im Ausland tanzen weiter den Eiertanz.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 143 – Thema: 15 Young Thinkers. Das Heft können Sie hier bestellen.