Sechs Verschleierungstechniken, mit denen Krimiautoren und politische Kommunikatoren arbeiten

Politik

Jeder kennt diesen Aha-Effekt beim Lesen eines klassischen Krimis: Man hat sich durch Hunderte Seiten gearbeitet, ist im Dunkeln getappt, hatte Momente der Erkenntnis und ist nun bei der Auflösungsszene angelangt: Der Detektiv versammelt alle Beteiligten im Kaminzimmer und rollt die ganze Geschichte auf. Er geht auf alle falschen Fährten ein, die der Autor geschickt gelegt hat, dann der große Moment: Der Detektiv benennt den Täter und erklärt, wie er den Fall gelöst hat. Wurde der Krimi handwerklich gut und sauber konstruiert, fragen wir uns: Warum sind wir nicht darauf gekommen? Alles deutete doch darauf hin! Wir fragen uns, warum wir so blind waren.

Dieser Aha-Effekt ist kein Zufall. Er hat seinen Grund (meistens) auch nicht darin, dass wir zu dumm sind oder unaufmerksam waren. Er ist das Ergebnis einer sorgfältigen Konstruktion und der tiefen Kenntnis des Autors von der Art und Weise, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten. Kurz: Die Kunst, einen guten Krimi zu schreiben besteht darin, die relevanten Informationen und Hinweise auf die Wahrheit zu liefern, aber gleichzeitig alles zu tun, damit der Leser sie nicht richtig deutet.

Ein klassischer Krimi besteht daher immer aus zwei Geschichten. Die erste Geschichte ist die Wahrheit. Da­rüber liegt ein Schleier des Nichtwissens und Nichtverstehens. Der Leser versucht, diesen im Verlauf der Geschichte zu lüften. Die zweite Geschichte ist der Schleier selbst, seine Teile und all die Theorien, die wir beim Lesen entwickeln. Alle Irrtümer und alle falschen Fährten, denen wir gedanklich folgen. Zusätzlich wird die Wahrheit verdeckt von Lügen.

Im Deutschen Kommunikationskodex des Deutschen Rats für Public Relations vom 29. November 2012 heißt es:
“(9) PR- und Kommunikationsfachleute sind der Wahrhaftigkeit verpflichtet, verbreiten wissentlich keine falschen oder irreführenden Informationen oder ungeprüfte Gerüchte.”
Unternehmen, politische und andere Akteure, die professionelle PR betreiben, müssen also darauf achten, dass sie nicht ausdrücklich “lügen”, sie haben aber manchmal ein Interesse daran, dass die Menschen nicht die ganze Geschichte erkennen können. Es gibt häufig ein starkes Interesse verschiedener Akteure, diese Wahrheit zu verdecken oder zu verzerren. Manchmal geht es auch darum, nur bestimmte Aspekte zu kommunizieren. Manchmal soll der Fokus auf bestimmte Dinge gelenkt werden. Die öffentliche Kommunikation ist nur selten frei von solchen Eigeninteressen der “Erzähler”.

Dieses Spannungsfeld deckt sich teilweise mit der Herausforderung des Autors eines klassischen “whodunnit”-Krimis (dt.: “Wer war der Täter?”). Hier wie dort verlangt der Leser oder Bürger, dass er über die Ereignisse informiert wird. Hier wie dort kann aber der Autor das Interesse haben, dass der Leser die Wahrheit über bestimmte Ereignisse nicht oder erst spät herausfindet. Dennoch muss der Autor fairerweise und um das “Miträtseln” zu ermöglichen, alle relevanten Informationen mitteilen. Er muss kommunizieren, in der Hoffnung, dass der Leser die “hidden story” nicht oder erst am Ende erkennt.

Methode 1: Jetzt sag schon!

Ein Mittel der Verschleierung und Spannungserzeugung sind sogenannte Unbestimmtheitsstellen. Das sind Auslassungen in der Geschichte, das Nicht-Erzählte. In einem klassischen Krimi sind das immer die Identität des Mörders und der Ablauf des Tathergangs.

Unbestimmtheitsstellen in Krimis, aber auch im wahren Leben, lösen in den meisten Menschen kriminalistische Ambitionen aus und den Wunsch, das Rätsel zu lösen. Denn wenn etwas geheim gehalten wird, gehen Menschen davon aus, dass es interessant ist. Der Wert einer geheimen Information steigt, ebenso unsere Neugierde und unser Ehrgeiz.

In der öffentlichen Kommunikation gibt es viele tatsächliche und vermeintliche Unbestimmtheitsstellen. Jede offensichtliche “Lücke” in der Erzählung, sei es in Bezug auf Motive, Täter, Begehungsformen, Hintergründe, Zusammenhänge, löst diese Rätselspannung aus.

Nichts macht Menschen so neugierig wie ein Geheimnis. Hier lauert in der öffentlichen Kommunikation eine Gefahr für den Fall, dass eine Information nicht gegeben werden darf oder kann. Die Journalisten und die Menschen werden notgedrungen spekulieren und den “Fall” lösen wollen.

Menschen lieben spannende Geschichten und sehen dadurch manchmal Intrigen, Rätsel und Zusammenhänge, wo es keine gibt. Das führt im Extremfall zu Verschwörungstheorien und einem überzogenen Misstrauen gegenüber Politikern, anderen Personen des öffentlichen Lebens und Journalisten. Wenn Fake-News oder vereinfachte, verzerrende oder schlicht falsche Geschichten mancher Politiker oder Agitatoren die spannenderen und dramaturgisch besseren Erzählungen liefern, hat die langweilige und unübersichtliche Wirklichkeit ausgedient.

Viele Menschen rezipieren die Informationen aus Medien immer mehr, als wären sie Leser eines Krimis. Sie sind immer auf der Hut, nicht in die Irre geführt zu werden (Stichwort: “Lügenpresse”). Sie suchen in Artikeln und der Kommunikation von Politikern oder Parteien sowie Informationen von Unternehmen nach Lügen, Inkonsistenzen, Verzerrungen und Irreführungen, fragen nach dem “cui bono” (wem nützt es?), suchen nach Fehlern und Hinweisen auf die “hidden story”.

In vielen Fällen ist das eine überzogene Skepsis. Es gibt aber auch viele Situationen, in denen Menschen einen guten Instinkt beweisen und tatsächliche Auslassungen in der Geschichte richtig erkennen. Die Öffentlichkeit riecht gewissermaßen, dass etwas nicht stimmt. Die Motive sind unplausibel, die Reihenfolge der Ereignisse ist falsch et cetera. In diesen Fällen ist es gut, dass Bürger und Journalisten keine Ruhe geben, bis bestimmte Zusammenhänge aufgeklärt sind.

Es wäre naiv, anzunehmen, dass der Öffentlichkeit immer die komplette Wahrheit gesagt wird. Genauso ist es überzogen und paranoid, davon auszugehen, die Öffentlichkeit würde grundsätzlich und durchgängig von Regierung, Unternehmen und der “Lügenpresse” angelogen.

Methode 2: Ich sehe was, was du nicht siehst

Eine Technik der Detektivliteratur besteht darin, dem Leser eine lösungsrelevante Information zwar zu vermitteln, sie aber so zu verbergen, dass er deren Relevanz nicht erkennt. In Agatha Christies Roman “The Sittaford Mystery” werden in einer langen Liste Gegenstände aufgeführt, die in der Hütte des Ermordeten im Schrank gefunden wurden, unter anderem zwei Paar Ski. Das zweite Paar benutzte der Mörder, um zur Hütte zu gelangen und dort den Mord zu begehen. Da er so früher im Haus sein konnte, als der Ermittler errechnet hatte, verschaffte er sich ein perfektes Alibi. Die Relevanz der Ski, insbesondere die Tatsache, dass es zwei Paar gibt, erkennt der Leser aber nicht, da viele weitere Sportgegenstände aufgezählt werden. Die Ski gehen im Kopf des Lesers in der Menge des Sportzubehörs unter. Er sieht in ihnen nur ein Sportgerät, kein Fortbewegungsmittel.

Ähnliches geschieht oft in der PR und in der politischen Kommunikation. Informationen können in “plain sight” versteckt werden, indem sie in komplizierten Informationen, Fachbegriffen und komplexen Zusammenhängen untergehen. Das geschieht häufig unfreiwillig, manchmal aber auch vorsätzlich.

In der Kommunikation der Regierung wird diese Verschleierungstaktik häufig bei Gesetzgebungsverfahren verwendet, indem beispielsweise Gesetzes- und Maßnahmenbündel geschnürt und ineinander verschachtelt werden wie russische Matroschka-Puppen, bis die einzelnen Bestandteile sowie Zielrichtung und Strategie nicht mehr erkennbar sind. Gute Beispiele hierfür sind die Freihandelsverträge TTIP, CETA, TISA, in denen Abkommen über die Senkung von Zöllen mit Investitionsschutzvorschriften, privatisierungsfördernden Regelungen, der Einrichtung von Schiedsgerichtsbarkeitsverfahren und anderen Elementen verzahnt wurden.

Methode 3: Wie war das noch?

Eine weitere Taktik von Krimiautoren ist das weiträumige Verstreuen von Fakten. Wichtige Dinge, die zur Lösung des Falls beitragen könnten, werden mit großem Abstand zueinander kommuniziert. Wenn der Leser den zweiten Teil der Information erhält, hat er den ersten Teil schon wieder vergessen.

In Agatha Christies Roman “The Clocks” erfährt der Leser über eine Mrs. Bland, in deren Nachbarhaus ein Mord geschehen ist, dass sie das einzige noch lebende Mitglied ihrer Familie ist. Später behauptet sie gegenüber Inspektor Hardcastle, dass ihre Schwester im gleichen Ort wohne. Der Abstand von vierzig Seiten zwischen beiden Aussagen macht es für den Leser schwer, den Widerspruch zu erkennen. Tatsächlich ist “Mrs. Bland” eine Hochstaplerin, die den Mord begangen hat, weil ihre falsche Identität aufzufliegen drohte.

Methode 4: Peng!

“It is, you see, the simple theory of the conjuring trick. The attention cannot be in two places at once. To do my conjuring trick, I need the attention focused elsewhere (…).” (Agatha Christie, “Three Act Tragedy”)
Das ist einer der “easiest and oldest tricks in the bag”: Die Aufmerksamkeit eines Menschen kann nur auf wenige Dinge gleichzeitig gerichtet sein. Um sie von einem Thema abzulenken, verwenden Krimiautoren oft einen Knall­effekt. Ein Ereignis, das starke Emotionen hervorruft, wird dazu genutzt, die Aufmerksamkeit von einer anderen Situation oder Information abzuwenden.

In der politischen Kommunikation wird diese Eigenschaft von Menschen ebenfalls beispielsweise bei der Umsetzung unpopulärer Gesetzesinitiativen genutzt. Diese werden in den Sommerferien oder während der Fußballweltmeisterschaft verabschiedet, um auszunutzen, dass es weniger Zeugen gibt oder ein anderes Großereignis die Aufmerksamkeit der Journalisten und der Öffentlichkeit bindet.

Methode 5: Aber das ist doch viel spannender!

Es gibt noch eine andere Form der Aufmerksamkeitsablenkung, die subtiler ist: das Legen falscher Fährten. In diesem Fall wird die Aufmerksamkeit der Leser nicht durch ein Ereignis absorbiert, sondern durch eine andere Frage, ein Rätsel, eine falsche Fährte, um die analytischen Fähigkeiten zu binden und von den lösungsrelevanten Hauptfragen abzulenken.

Ein gutes Beispiel hierfür waren die Reaktionen der NSA, der US-Regierung, der US-amerikanischen und auch der deutschen Berichterstattung auf die neuesten Leaks zu den Abhörtechniken der NSA mithilfe technischer Geräte wie Fernseher und I-Phone-Apps (die sogenannten “Vault 7”-Leaks durch Wikileaks). Damit die Menschen sich nicht mit der Hauptfrage – dem Bruch von Grundrechten, Strafrecht und Völkerrecht durch die Abhörmaßnahmen – beschäftigten, wurde die Aufmerksamkeit auf Rätselfragen gelenkt: Was sind die technischen Hintergründe, die diese Abhörtechniken erlauben? Wie kann ich meine Geräte davor schützen? Wie ist diese Information nach außen gelangt? Wer hatte Zugang dazu und hat sie weitergegeben? War es wieder ein russischer Spion? Es lässt sich an dieser Stelle natürlich nicht belegen, aber es spielt der NSA und der US-Regierung in die Karten, wenn sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Fragen anstatt auf die Abhörmaßnahmen richtet.

Zusätzlich haben die Ablenkungsmanöver einen Spin-Effekt: Die Frage “Wie kann ich meine Geräte schützen?” lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit weg von den illegalen Abhörtätigkeiten, sondern verschiebt die Situation, so dass die Bürger die Angelegenheit in erster Linie als ein technisches Problem betrachten (und nicht als ein politisches). Die Abhörmaßnamen werden als eine Naturgewalt wahrgenommen, gegen die man politisch nichts unternehmen, sondern sich nur schützen kann wie gegen eine Sturmflut.

Beim Fokus auf die Frage “Wer hat es geleakt?” ist der Spin-Effekt noch ausgeprägter: Hier wird der Täter zum Opfer (die Nachrichtendienste). Durch das “whodunnit”-Framing (“Wer war der Täter?”) wird der Leaker beziehungsweise Whistleblower wiederum zum Böse­wicht. Wir beschäftigen uns im Rahmen des Framings (Deutungsrahmen) damit, wie dieser “Geheimnisverrat” möglich war, wie die Nachrichtendienste sich davor schützen könnten und wie der Täter identifiziert und bestraft werden sollte. Leicht gehen Journalisten und die Bevölkerung solchen Framing-Verschiebungen auf den Leim und diskutieren das Thema nur noch innerhalb der Leitplanken des neuen Framings.

Methode 6: Guck mal, wer da spricht!

Eine sechste Methode, um eine Information nicht durchdringen zu lassen oder um zu verhindern, dass ihr Glauben geschenkt wird, ist die Diskreditierung der Quelle. Diese Methode hat den erwünschten Neben­effekt, dass sich die Öffentlichkeit mehr mit dem Charakter, dem Privat- oder im optimalen Fall dem Intimleben der Quelle beschäftigt als mit der Information.

 

Agatha Christie ist auch beim Diskreditieren der Quelle eine Meisterin. Die besten Hinweise zum Tatverlauf kommen in ihrem Roman “A Murder is Announced” von Dora Bunner, der Freundin und Haushälterin der Mörderin Miss Blacklock. Bunner wird aber von der Autorin als vergesslich, zerstreut und unzuverlässig charakterisiert. Jede ihrer Aussagen, die helfen könnten, die Schuld von Miss Blacklock deutlich zu machen, wird dadurch relativiert. Vor allem weil ihre Vernehmung mit Miss Blacklock stattfindet, die als kompetent, klug und sachlich beschrieben wird und die den Aussagen von Dora Bunner immer widerspricht.

Die Auflösung

Diese Überlegungen sollen keine Anleitung zum Lügen sein. Vielmehr sollen sie dabei helfen zu verstehen, wie die Aufmerksamkeit von Menschen geleitet wird, damit alle Akteure in der Kommunikation, die Professio­nellen wie die Laien, diese Methoden erkennen und auf sie reagieren können.

Ein Dank geht an Michael Dunker, aus dessen Buch “Beeinflussung und ­Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur” viele der Krimi-Beispiele und einige der Methoden stammen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 119 – Thema: Wichtige Macher im Umfeld der Mächtigen. Das Heft können Sie hier bestellen.