"Schwarz-Rot-Gold wird zunehmend mit der radikalen Rechten konnotiert"

Interview mit Enrico Brissa

Herr Brissa, warum haben Sie ein Buch übers “Flagge zeigen” geschrieben?

Eine ungute Demonstrationserfahrung hat den Anstoß gegeben, dieses Buch zu schreiben. Am 13. Oktober 2018 sind meine Familie und ich mit einer Gruppe von Freunden auf die Berliner “#unteilbar”-Demo gegangen. Diese war eine Reaktion auf die Ausschreitungen von Chemnitz. Ein sehr breites Bündnis ganz unterschiedlicher Organisationen hatte die Demo organisiert. Wir wollten dort bewusst Schwarz-Rot-Gold ins Bewusstsein rufen, zusammen mit der Europaflagge, als Zeichen unserer Verfassung und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, weil wir das Gefühl hatten, dass in den letzten Jahren Schwarz-Rot-Gold zunehmend von der radikalen und ex­tremen Rechten vereinnahmt worden ist.

Wie haben die anderen Demoteilnehmer reagiert?

Was wir erlebt haben, war ein mehrstündiger Spießrutenlauf, der in einer kleinen Gewalttat einen ersten Höhepunkt erlebte: Mir wurde die schwarz-rot-goldene Fahne entrissen. Später wurden wir dann auch noch gebeten, den Demonstrationszug zu verlassen, weil Nationalflaggen nicht erwünscht seien. Um uns herum sahen wir allerlei andere Nationalflaggen, aber eben keine schwarz-rot-goldene. Warum sollten türkische, palästinensische oder kanadische Fahnen erlaubt sein, nicht aber Schwarz-Rot-Gold? Wir haben den Demonstrationszug dann verlassen. Das Ausmaß der Unwissenheit von vielen Demonstranten, die offensichtlich überhaupt gar nichts anfangen konnten mit unserer Botschaft und den Symbolen unseres Staates, hat uns schockiert. Die Bezeichnung unserer Bundesflagge als “Nazi-Flagge” oder “Flagge des Holocaust” will ich an dieser Stelle auch nicht verschweigen.

Enrico Brissa, Sohn eines Italieners und einer Deutschen, wurde 1971 in Heidelberg geboren. Der promovierte Jurist arbeitete unter anderem in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, bevor er 2011 ins Bundespräsidialamt wechselte, wo er als Protokollchef der Bundespräsidenten Wulff und Gauck tätig war. Seit 2016 leitet er das Protokoll beim Deutschen Bundestag. Daneben unterrichtet er als Lehrbeauftragter an der juristischen Fakultät der Universität Jena. 2018 erschien “Auf dem Parkett. Kleines Handbuch des weltläufigen Benehmens”.

Wie haben Sie diese Erfahrung zu einem Buch verarbeitet?

Ich bin der Frage nachgegangen, wie es dazu kommen konnte, dass offensichtlich nicht unerhebliche Teile unserer Gesellschaft die Bundesflagge völlig falsch einordnen. Sie ist kein Symbol von Extremisten, sondern ein Symbol von Freiheit und Einheit. Übrigens ist sie unser einziges Staatssymbol, das vom Nationalsozialismus unbelastet geblieben ist. In der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es immer Irrungen und Wirrungen um Schwarz-Rot-Gold, im Westen ebenso wie im Osten unseres Landes. Nach einer Phase des eher leichten Umgangs zwischen den Fußball-Weltmeisterschaften von 2006 und 2014 gibt es in den vergangenen sechs Jahren jedoch starke Versuche einer politischen Umdeutung dieses Symbols durch extremistische Kräfte.

Was ist seitdem schiefgelaufen?

Drei Monate nach unserem WM-Sieg im Juli 2014 begannen im Oktober 2014 die sogenannten Pegida-Demonstrationen in Dresden. Sie bildeten den Auftakt zu vielen und sehr massiven Protesten, die im Herbst 2015 im Kontext der Flüchtlingskrise einen Höhepunkt erreichten. Diese Hassbekundungen und Proteste auf der Straße sind in den sozialen Medien sehr erfolgreich inszeniert worden. Das führte zu einer massiven Präsenz von Schwarz-Rot-Gold als Untermalung dieser “Anti-System”-Proteste. So wird Schwarz-Rot-Gold zunehmend mit der radikalen und extremistischen Rechten konnotiert, die sich in der Vergangenheit immer Schwarz-Weiß-Rot gegeben und Schwarz-Rot-Gold bekämpft hatte. 

Wie stehen Deutsche denn überhaupt zu Schwarz-Rot-Gold?

Viele von uns haben immer noch kein von Selbstverständlichkeit geprägtes Verhältnis zu unseren Staatssymbolen. Gegenwärtig ist es übrigens auch nicht leicht, gesicherte Befunde hierzu zu formulieren. Während es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik regelmäßig gute Umfragen der Meinungsforschungsinstitute zu diesem Themenkreis gab, sind in den vergangenen sechs Jahren entschieden zu wenige Umfragen durchgeführt worden.

Ist Sport denn die einzige Möglichkeit, Nationalfarben positiv zu besetzen?

Nein, natürlich nicht. Allerdings hat der Sport für unseren Umgang mit den Staatssymbolen eine herausragende Bedeutung. Abgesehen davon waren in der Geschichte der Bundesrepublik zunächst vermehrt andere Symbole identitätsstiftender als die klassischen Staatssymbole, mit denen man sich nach dem nationalsozialistischen Unrechtsregime zunächst schwertat. So waren die D-Mark, Automobile und andere Symbole des Wirtschaftswunders zugkräftiger. Und von Anfang an natürlich auch der Sport und hier insbesondere die internationalen Wettkämpfe. Heute geht es eher darum, unsere Einstellung zu den Staatssymbolen inmitten der Gesellschaft zu ändern.

Wie genau?

Mein Buch behandelt ja nicht nur die symbolische Ebene. Vielmehr ist es auch ein Plädoyer für einen gelebten Verfassungspatriotismus. Ich glaube, dass wir, um die Bedeutung des Nationalstaats besser zu erkennen, uns intensiver mit den Fragen unserer nationalen Identität auseinandersetzen sollten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese Debatten zu häufig nur oberflächlich geführt. Begriffe wie Patriotismus, nationale Identität, Heimat und Leitkultur wurden zu sehr als Kampfbegriffe verstanden und nicht als sprachliche Ausdrucksmöglichkeit tragender Säulen eines jeden Gemeinwesens. Zu oft verkürzte die abschreckende Wirkung dieses terminologischen Minenfelds den Diskurs.

Zum Patriotismus gehören auch Emotionen – und nicht nur gute.

Emotionen sind auch für den Staat und das Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat unverzichtbar. Von ihnen gehen Bindekräfte aus, sie dienen auch zur Mobilisierung – den Freunden der Verfassung ebenso wie ihren Feinden. Eben deshalb müssen wir die Bedeutung von Emotionen im politischen Kontext besser verstehen. Die Demokratie ist eine versachlichte Staatsform. Parlamentarische Gesetzgebung ist sozusagen die Versachlichung von Politik. Dieser Aspekt der Sachlichkeit muss durch ein angemessenes, emotionales Angebot ergänzt werden. Und hier haben Symbole eine besondere Bedeutung, auch weil sie ohne weiteres zugänglich sind.

So ist es etwa viel komplizierter, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu erläutern, als das kurz und prägnant mit Schwarz-Rot-Gold zum Ausdruck zu bringen. Die Bundesflagge ist unser zentrales Staatssymbol, das im Grundgesetz verankert ist. Wir müssen sie für uns reklamieren!

Der italienische Marxist Antonio Gramsci schrieb in seinen “Gefängnisheften”, man müsse den Gegnern die Begriffe wegnehmen, um sie sprachlos zu machen. Funktioniert das mit Symbolen auch?

Das ist ein sehr schönes Zitat. Jetzt ist die Frage, wer in welcher Position ist. Ich glaube, dass extremistische Kräfte der Rechten in einer langen Tradition der politischen Symbolik und der Propaganda stehen. Das, was wir seit den sogenannten Pegida-Demonstrationen sehen, ist ein Versuch, uns Schwarz-Rot-Gold streitig zu machen. Dann wären wir im Sinne Gramscis symbollos – und damit eben auch sprachlos. Das darf nicht passieren.

Immerhin gibt es andere Vorschläge für eine Nationalhymne.

Einer der letzten, der eine neue Hymne vorgeschlagen hatte, war der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Bodo Ramelow. Im Zuge der Deutschen Einheit gab es auch einen kleineren Diskurs darüber, ob man nicht neue Symbole schaffen oder Symbole der DDR übernehmen sollte, zum Beispiel die Hymne der DDR oder Brechts “Kinderhymne”. Aber die Mehrheit der deutschen Bevölkerung war schon damals dagegen. Ich persönlich glaube, dass es besser wäre, zu einer selbstverständlicheren Übung zu kommen, als jetzt neue Reformdiskussionen anzustoßen. Das gilt insbesondere auch für die Hymne. Sie hat eine überaus komplizierte Geschichte, die man kennen sollte. Seit vielen Jahrzehnten ist die dritte Strophe des Lieds der Deutschen aber unsere Nationalhymne. Nicht die erste, nicht die zweite, nicht alle drei Strophen, sondern nur die dritte Strophe. Damit ist sie zu einem Teil unserer republikanischen Identität geworden.

Sie machen im Buch Vorschläge, wie die Verbindung von Bürgern und Nationalsymbolen wieder gestärkt werden kann. Welcher ist der wichtigste?

Es ist für mich ganz schwierig ab­zu­wägen, welcher der wichtigste ist. Ich glaube, dass tatsächlich die politische Bildung in der Schule und anderen Ausbildungsorten sehr wichtig ist. Außerdem sollte man sich fragen, in welchen Situationen der Bundesstaat für den einzelnen Staatsbürger und die einzelne Staatsbürgerin in Erscheinung tritt. Diese Berührungspunkte sollte man nutzen, um auf das Grundgesetz und unsere Staatssymbole hinzuweisen. Auf jedem Reisepass ist ein Staatssymbol zu sehen. Solche Dokumente bieten also auch die Gelegenheit, die Symbole und ihre Geschichte zu erläutern. Gleiches gilt natürlich für Einbürgerungen und Einbürgerungstests.

Ist es nicht utopisch anzunehmen, dass Symbole unsere fragmentierte Gesellschaft zusammenhalten?

Ich würde nicht von fragmentierter Gesellschaft sprechen, sondern eher von Spaltungs- und Fragmentierungstendenzen. Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch “Die Gesellschaft der Singularitäten” sehr treffend, wie die Gesellschaft der Spätmoderne aussieht. Angesichts dieser Individualisierungskräfte und Fliehkräfte ist die Frage umso wichtiger, was uns als Gemeinwesen eigentlich noch zusammenhält. Auf dieser Suche nach unserer gemeinsamen Idee von uns selbst biete ich das von Dolf Sternberger entwickelte Konzept des Verfassungspatriotismus als Lösungsweg an. Verfassungspatriotismus im Sinne Sternbergers und weniger im Habermas’schen Begriffsverständnis. Während sich Habermas mit Nachdruck auf die universalistischen Prinzipien und die Gestaltungskraft der Vernunft berief und den Verfassungspatriotismus von “normalem Nationalstolz” abgrenzte, unterstrich Sternberger von Anfang an auch die Bedeutung von Emotionen für das Gelingen jedes Gemeinwesens.

Auf das Grundgesetz kann sich doch die überwältigende Mehrheit verständigen. Der verfassungspatriotische Ansatz ist deshalb für mich realistisch, nicht utopisch. Staatssymbole sind sicher kein Zaubermittel. Ihre Bedeutung ist aber größer, als viele glauben.

Das klingt wie das Vereinslogo im Sport. Wenn ich das Schalke-Logo sehe, denke ich an Tradition, Bergbau, Leidenschaft – und aktuell leider auch an schlechten Fußball.

Der Vergleich zum Fußball ist gut und wird auch in der Literatur häufiger bemüht. Sie sind ja gerade in München, also nehmen wir mal Bayern München. Als Bayern-Fan identifizieren Sie sich mit dem Logo, der Mannschaft, dem Verein und darüber hinaus auch mit der Stadt München und Bayern. Was die Münchner Löwen und der FC Augsburg natürlich anders sehen werden! Außerdem sind Sie auch ein Fan der Nationalmannschaft, die ja nicht immer mehr oder weniger deckungsgleich mit Bayern München ist. Die Häute unserer Identitäten sind also vielschichtig wie bei einer Zwiebel.


Enrico Brissa: Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen. 288 Seiten, Siedler Verlag, ISBN: 978-3-8275-0133-2, 20 Euro.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 134 – Thema: Wahlkampffieber – Superwahljahr im Zeichen der Pandemie. Das Heft können Sie hier bestellen.