Schicksalhafte Skalen

Politik

Wer schon einmal vor der Datsche von Angela Merkel gestanden hat, der weiß, dass die Bundeskanzlerin einen Hang zum Schlichten hat. Ein bescheidenes, weißes Einfamilienhaus mit kargem Garten, etwa 20 Autominuten von Templin entfernt. Nichts schmückt Fassade oder Grundstück.

Ein Haus, selbst eine Datsche, sagt einiges über einen Menschen aus. Welcher rationale, extrem strukturierte Typ wohnt schon in einem Haus, in dem es vor Blümchen und Nippes wimmelt? Und welcher genügsame Mensch lässt in sein Bad goldene Wasserhähne einbauen? Eben!

Merkel also, die Erfinderin der neuen Sachlichkeit im höchsten Regierungsamt. Lange hieß es von ihr, sie würde Politik “vom Ende her denken”, stets kühl und rational agieren. Einblicke in ihr Privatleben gelangen nur selten, bestätigten aber das Bild. Mit den Worten “Angela hat einen sehr scharfen Verstand” beschrieb Merkels erster Ehemann, Ulrich Merkel, einst seine Exfrau und schilderte ihren wenig emotionalen Abgang: “Eines Tages packte sie ihre Sachen und zog aus unserer gemeinsamen Wohnung aus. Sie hatte das mit sich selbst ausgemacht und dann die Konsequenzen gezogen.”

Diese Mischung aus Nüchtern- und Bescheidenheit war es, die Merkel über lange Zeit überdurchschnittlich gute Beliebtheitswerte und eine hohe Anerkennung und Reputation bescherten – und das nicht nur in Deutschland. Das “Time”-Magazin kürte sie noch im Dezember 2015 zur “mächtigsten Frau der Welt”.

Drei Umfragen pro Woche

Wie aber kann eine so beliebte Politikerin innerhalb weniger Wochen in den Umfragen derart abstürzen? Was ist es eigentlich, das Politiker die Gunst der Wähler gewinnen lässt? Und wie kann ein Politiker seine guten Umfragewerte dauerhaft halten?

Der Stellenwert von Beliebtheitsrankings für die gesamte politische Landschaft ist inzwischen enorm. Im Schnitt drei Umfragen gibt allein das Kanzleramt pro Woche in Auftrag, fand der “Spiegel” heraus. Das Barometer der Beliebtheit beeinflusst die Großwetterlage in den Partei­zentralen.

Nicht erst seit Merkel wird das Wohl und Wehe einer ganzen Partei an einzelnen Personen festgemacht. Liegt Merkel in den Umfragen obenauf, stimmen (auf Bundesebene) auch die Prozentwerte der CDU. Sinkt der persönliche Währungskurs der Kanzlerin, wird sie selbst auf Länderebene zum Wahlkampfrisiko.

Die Medien haben den Druck auf den einzelnen Politiker erhöht. Sie wollen Geschichten, in denen es menschelt. Sie lieben Momente wie den auf dem CSU-Parteitag am 20. November 2015 in München, als Horst Seehofer die Kanzlerin 15 Minuten lang wie ein Schulmädchen auf der Bühne stehen ließ – während er dozierte. Jeden Gesichtsausdruck Merkels fingen die Kameras ein. “Jeder Fehler wird unbarmherzig registriert und transportiert. Jede Unpopularität demoskopisch ermittelt”, sagt Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte.

Die Beliebtheit von Politikern ist ein Begleiter, auf den kein Verlass ist. Um populär zu bleiben, ist eine ständige Anpassung an neue Situatio­nen erforderlich. Strömungen müssen beobachtet und in politisches Handeln und verständliche, klare Botschaften übersetzt werden.

Mutti macht das schon

Womit wir wieder bei Merkel sind. Wer ihre über viele Jahre währende starke Popularität verstehen will, sollte einen Blick auf den Anfang ihrer Kanzlerschaft werfen: Nach den harten Agenda-Jahren kam mit ihr eine Regierungschefin, die bereits am Wahlabend dem Macho-Gehabe Gerhard Schröders gelassen begegnete. Das war für viele eine wohltuende Abwechslung. Merkels Kose­name “Mutti”, einst in der Bundestagsfraktion erfunden, symbolisierte in den Folgejahren sehr gut die Mischung aus Strenge und dem Vertrauen, das man ihr entgegenbrachte. Die Mehrheit der Bundesbürger fühlte sich den Meinungsumfragen zufolge in guten Händen. Mutti macht das schon.

Wobei die Betonung auf “machen” lag. Bis September 2015 waren ihre Umfragewerte top. Dann setzte in den Beliebtheitsrankings die Trendwende ein. In der Politikertreppe des “Spiegels” musste Merkel erstmals den Spitzenplatz abgeben. Im Politbarometer des ZDF, einem der wichtigsten Rankings, sackte ihr Beliebtheitswert zwischen März 2015 und Januar 2016 um über die Hälfte ab – ihr schlechtester Wert seit vier Jahren.

“Eine Kanzlerin im Abendrot” kommentierte der “Stern” im Februar. Seit Monaten schmeiße die Kanzlerin “Nebelbomben”, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Eine derart harsche Tonlage gegenüber der Regierungschefin war neu. Was war passiert? Wie kann Sachlichkeit einerseits die Beliebtheitswerte durch die Decke schießen lassen und anderseits in den Keller ­treiben?

Harter Hund als Gegenpol

Erklärungsansätze liefert ein Blick auf die Umfragewerte von Wladimir Putin. Schaut man sich die Rankings seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1999 an, lassen sich folgende Höhepunkte erkennen: Nach der Krim-Annexion 2014, im Georgien-Krieg 2008, vor seiner Wiederwahl ins Präsidentenamt 2004 und dem Tschetschenien-Krieg 1999 bekam er die höchste Zustimmung.

Die Wähler stimmten ihm also (fast) immer dann besonders zu, wenn es einen militärischen Konflikt gab und ein “Macher mit harter Hand” gefragt war. Das Bild des unbeugsamen, zupackenden Anführers pflegte Putin bewusst. Er scheut sich nicht, mit einfachen, markigen Sprüchen das Volk für sich zu gewinnen und für Fotos in der Kälte Sibiriens zu posieren. Man erinnere sich nur an die Bilder, die ihn mit nacktem Oberkörper und Maschinenpistole auf einem Pferd oder beim Angeln zeigen. Schlecht stand Putin dagegen zwischen 2010 und 2014 in den Umfragen da, als es darum ging, mit täglichem Regierungshandeln die ökonomische Krise in Russland zu lösen – abseits der großen Konflikte.

Ist der martialische Putin damit so etwas wie der Gegenpol zur sachlichen Merkel? Ist sein emotionaler Politikstil, gepaart mit der Dauerbotschaft, ein “harter Hund” zu sein, in akuten Situationen von Angst und Bedrohung vielleicht das bessere Erfolgsrezept? Aus der psychologischen Warte betrachtet, ist jedenfalls richtig, dass Menschen in Krisenzeiten von ihrem Anführer Zuspruch und Tatkraft erwarten. Liefert Angela Merkel das?

Ihr Satz “Wir schaffen das” vom September 2015 wirkte durchaus aufmunternd. Allerdings sind seitdem viele Wochen vergangen und die Frage, wie genau Deutschland eine Million Menschen oder mehr integrieren will, ist unbeantwortet geblieben. Sie werde alle Kraft darauf verwenden, so Merkel im Februar in ihrer Regierungserklärung vor dem EU-Flüchtlingsgipfel, dass sich “der europäisch-türkische Ansatz als der Weg herausstellt, den es weiter lohnt zu gehen”. Bereits zuvor hatte sie stark aus ihrem sachlich-rationalen Verständnis der Situation heraus argumentiert: “Eine Beschränkung der Zahl der Asylbewerber kennt das Grundrecht auf politisches Asyl nicht.”

Der richtige Ton zur richtigen Zeit

Das heizte die ohnehin emotional geführte Debatte weiter an, Tendenzen einer Entfremdung zwischen Teilen der Wählerschaft und der CDU-Chefin zeigten sich deutlich in den sozialen Medien. Merkel habe den Bezug zu den Sorgen der Bürger verloren und keinen Plan, so der Tenor massenhafter, regelrecht hasserfüllter Facebook-Kommentare. Wut ersetzte die sachliche Auseinandersetzung mit einem Problem, dessen Lösung nun mal nicht in drei Sätze passt.

Man kann es der Mehrheit der Deutschen allerdings nicht übel nehmen, dass sie sich im Paragrafen-Dschungel nicht auskennt. Sie hat womöglich auch keine Lust, Gesetzestexte zu studieren, um sachlich beurteilen zu können, wann eine Schließung der Grenzen zulässig ist oder nicht. Sie kann sich aber, transportiert durch die Medien, rund um die Uhr die Flüchtlingstrecks anschauen, die nicht enden wollen. Das schürt Angst – vor Arbeitsplatzverlust, weniger Wohlstand, kultureller Veränderung, seit der Silvesternacht von Köln auch vor Übergriffen. Ob nun begründet oder nicht. Sich sicher zu fühlen, ist ein Grundbedürfnis. Und Angst eines der stärksten menschlichen Gefühle überhaupt. Jeder weiß, dass sich diese selten durch bloße rationale Argumente ausschalten lässt.

Beliebtheit ist also eine Frage des richtigen Tons zur richtigen Zeit. Es nützt nichts, nur eine Klaviatur zu beherrschen. Ein emotional aufgebrachtes Volk kann mit einer immer nur sachlich-nüchtern agierenden und argumentierenden Kanzlerin wenig anfangen.

Die Umfragen zeigen: Das Vertrauen, dass “Mutti das schon macht”, ist bei zahlreichen Bürgern inzwischen der Wut darüber gewichen, dass der Zuzug von Flüchtlingen unvermindert anhält. Eine Renaissance erleben deshalb aktuell jene Parteien, die gezielt die Gefühlsebene der Massen ansprechen.

Mit seinem Ruf nach einer “Obergrenze” konnte der bayerische Minis­terpräsident Horst Seehofer (CSU) bis zu seiner Entgleisung über die “Herrschaft des Unrechts” messbar punkten – und das nicht nur in Bayern. Emotionen als Klebstoff für den Wähler.

Zwar weiß auch Seehofer, dass Deutschland einer humanitären Katastrophe vor seiner Haustür nicht tatenlos zusehen kann. Den Menschen aber suggerierte er, man könne die Schotten dichtmachen. Kein Zufall sicherlich, dass der CSU-Chef Anfang Februar Putin in Moskau besuchte. Zwei (vermeintliche) Macher-Typen auf der Suche nach einer Lösung im Syrien-Krieg – das sollte erkennbar die Message sein.

Rationale Politik, verpackt in emotionale Botschaften. In der CSU war das seit jeher das Rezept für gute Umfragewerte – und damit für den Machterhalt. Zu Merkel aber passt dieser Stil nicht.

 

Das eingang erwähnte Interview mit Ulrich Merkel wurde im Rahmen eines Porträts über Merkel geführt und ist hier abrufbar.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.